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Der Tote im Steinbruch & Der alte Fall Rita: Kriminal - Roman
Der Tote im Steinbruch & Der alte Fall Rita: Kriminal - Roman
Der Tote im Steinbruch & Der alte Fall Rita: Kriminal - Roman
eBook532 Seiten7 Stunden

Der Tote im Steinbruch & Der alte Fall Rita: Kriminal - Roman

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Über dieses E-Book

Jonas Brunner hat, nachdem er langjähriger Hilfskellner mit Abitur war, schließlich doch noch eine Polizeiakademie absolviert. Immer noch ist er Assistent vom Chef, Mädchen für alles - und das schon seit sieben Jahren.
Diese ersten Wochen des Berufseinstiegs wurden ihm zum Desaster und verfolgen ihn seither wie eine Endlosschleife.
Nun ist er unterwegs, um Kollegen eines entlegenen Polizeireviers bei der Bergung einer Leiche zu helfen. Der Tote entpuppt sich als einsamer, namenloser Pilzsucher, der ausgerutscht und eine Felswand hinabgestürzt ist. Also schickt ihn sein Chef in seinen längst überfälligen Urlaub ... Doch dann wird alles anders. Da ist noch Lilly, seine Frau, die mitten in diese Urlaubsturbulenzen gerät, und sie mischt sich ein.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum14. Okt. 2021
ISBN9783347412583
Der Tote im Steinbruch & Der alte Fall Rita: Kriminal - Roman

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    Buchvorschau

    Der Tote im Steinbruch & Der alte Fall Rita - Jochen Rinner

    - 1 -

    Jonas Brunner zog die Haustür zu, hatte schließlich den Mantel an und ging. Die Bö nahm ihm den Atem, trieb den Regen ins Gesicht und riss ihm die Kapuze vom Kopf. Er zog sie hoch, band sie mit der Kordel fest und bog auf den Weg in den Wald. Bis hier drang der trübe Schein der einzigen Laterne seiner Straße, dann war es dunkel, stockdunkel. Seine Augen sahen den Weg, denn ein wenig von dem Licht der dumpf leuchtenden Nebelglocke über der großen Stadt kroch durch die Buchen bis auf den Weg.

    Wenn er sich beeilte, würde er die nächste Bahn erreichen und bald das Quietschen hören, wenn sie die Wendeschleife durch den Wald fuhr.

    Seine Füße pflügten durch das nasse Laub und es klang träge und müde: Die Blätter hatten keine Lust zu tanzen.

    Jonas Brunner versank in vergangene Bilder, als liefe sein Leben vor sieben Jahren eben wieder vor ihm ab:

    ˇˇˇˇˇˇˇˇˇˇˇˇ

    Mit dem Abschluss der Polizeiakademie in der Tasche und der Zusage für seine erste Stelle ist er mit seiner Frau auf Wohnungssuche und sie stehen zusammen vor dem schiefen Gartentor aus Bretterschwarten. Es hängt an einem noch schieferen Pfosten. Eine Weile lang sehen sie in den Vorgarten - zum Haus, irgendwie beklommen, bis Lilly sagt: „Das ist aber wirklich klein!"

    „Hm."

    „Ist der Strauch eine Johannisbeere?"

    „Ein Hochstamm."

    „Ist der glücklich mit den Brennnesseln bis zum Kinn?"

    Die Haustür geht auf und der alte Karl Winter kommt ihnen humpelnd und mit Krückstock entgegen.

    Winter, Karl und Gisela, stand im örtlichen Telefonbuch. Seine Frau sei vor vier Jahren gestorben, hatte er am Telefon gesagt.

    „Kommen Sie rein, kommen Sie. Er bemerkt ihre zögernden Blicke auf das Gartentor: „Nur zu, das tut’s noch, ist aber mit seinem Stock den kurzen Weg schon gelaufen und öffnet. Das Gartentor quietscht.

    Sie hatten alle Maklerseiten durchstöbert, Dutzende Male hatten sie angerufen und waren schon zweimal in der Stadt gewesen, drei Stunden hin, drei Stunden zurück - nichts, immer nichts.

    „Jetzt versuchen wir’s auf die altmodische Art", hatte Lilly entschieden und eine Anzeige im örtlichen Wochenblatt geschaltet:

    Gestandenes Paar mit achtjährigem Sohn sucht wegen arbeitsbedingten Ortswechsels kleines Haus

    Handynummer dazu: fertig.

    Alt sei er und könne nicht mehr – sagte er am Telefon - und seine Tochter wolle ihn bei ihrem nächsten Besuch gleich mitnehmen. Er habe ihr gesagt, wenn schon keiner seiner Enkel ins Haus ziehen wolle, verkaufe er es wenigstens noch selbst, dann würde er mitkommen. Eben habe er die Annonce gelesen und bemerkt: Die letzten beiden Zahlen ihrer Telefonnummer seien der Geburtstag seiner verstorbenen Frau, und jetzt sei er dran.

    Ob er das Haus auch vermieten würde, fragte Lilly.

    Wenn er schon nicht mehr hier wohnen könne, wolle er sich auch nicht mehr drum kümmern. Er habe mit seinem Schwiegersohn schon über den Preis gesprochen. Den nannte er Lilly auch noch.

    Die Stadt und das Polizeipräsidium hatte sich Jonas Brunner fünf Wochen früher, den Brief mit der Zusage für seine erste Stelle noch in der Hand, auf der digitalen Karte von oben angesehen. Der Link war noch auf dem Desktop. Er gab die Adresse ein und zoomte die Markierung langsam näher. Da waren der Vorort und schließlich der Steinweg, der in eine Waldlichtung führte. Dort standen auf der einen Seite des Weges acht wohl nicht allzu große Häuser und gegenüber war ein breiter Streifen grüne Wiese. Der Pfeil wies auf das letzte Haus vor dem Wald.

    Karl Winter nimmt sie mit in seine Küche. Auf dem Tisch stehen vier Tassen, eine Packung Kakao und ein Teller mit Gebäck, die Kaffeemaschine dampft. Er lehnt seine Krücke an den Küchenschrank und fragt: „Und der Filius?"

    „Daniel haben wir unterwegs zu seinen Großeltern gebracht, antwortet Lilly. „In den Ferien freut er sich immer auf Oma und Opa.

    „In diesem Alter waren unsere Enkel auch gern bei uns. Ein Anflug von Traurigkeit huscht über sein Gesicht als er eine Tasse und den Kakao wieder in den Schrank stellt. Seine Beine machen es ihm wirklich schwer. Er setzt sich ihnen gegenüber an den Küchentisch, üppiges schlohweißes Haar, buschige Krauslocken bis über die Ohren. „Kaffee?

    „Ja"

    „Bitte nehmen Sie, die Kekse sind ein Rezept meiner Frau." Er schenkt Kaffee ein und schiebt den Teller mit den selbst gebackenen Keksen näher. Noch ehe das Gebäck bei ihnen ist, fragt Karl Winter, wie er das mit dem arbeitsbedingten Ortswechsel verstehen könne.

    Jonas Brunner erzählt von der Polizeiakademie. Sein Mentor habe ihn auf diese freie Stelle aufmerksam gemacht. Lieber etwas mehr in der Nähe, habe er ihm geantwortet. Sein Mentor habe aber nur vergnügt mit den Schultern gezuckt.

    „Am Abend erzählte ich es meiner Frau. ‚Warum nicht? Probier’s halt‘, kam zurück. ‚Und deine Arbeit?‘, hielt ich ihr entgegen. ‚Findet sich‘, sprach sie. ‚Und Daniel?‘, fragte ich weiter. Aber sie sagte einfach: ‚Dani muss mit, und außerdem würde er nichts dagegen haben, seine Großeltern auch kurz übers Wochenende zu besuchen, die dann ja wirklich fast in der Nähe wohnen würden, und mir wär es auch ganz lieb so.‘"

    Karl Winter sieht ihn die ganze Zeit an mit seinen graublauen Augen, mehr blau als grau. Vielleicht fällt das Blau nur wegen des üppigen weißen Haars so auf. Nun rückt er sich auf seinem Stuhl doch ein wenig zurecht und bemerkt: „Sie sehen aber nicht gerade wie ein Langzeitstudent aus."

    „Ich bin jetzt fünfunddreißig und war zur Aufnahmeprüfung dreißig. Die hab ich gerade eben so geschafft - vor allem in Sport war es haarscharf an der Untergrenze. Dass die mich mit dieser Vorgeschichte überhaupt genommen haben…"

    „Vorgeschichte? Erzählen Sie."

    Der will’s aber wissen. Warum nicht: „Ich wohnte damals noch bei meiner Mutter und sagte: ‚Ich würde das schon gerne machen, aber die nehmen mich sowieso nicht.‘ Sie fiel mir forsch ins Wort: ‚Bewirb dich doch einfach, wenn du nicht zu faul bist, ein paar Sätze zu schreiben!‘"

    „Was haben Sie denn bis dahin so Schlimmes angestellt?", fragt Karl Winter ziemlich direkt.

    „Eher hatte ich wohl überhaupt nichts angestellt. Nach dem Abitur wollte ich meiner Mutter nicht mehr auf der Tasche liegen, wollte weg von zu Hause. Also fragte ich kurzerhand in der nächsten Kneipe, ob sie einen Kellner bräuchten. Brauchten sie, erst aushilfsweise und wenig später war ich fest drin. Daraus wurden elf Jahre und bei meiner Mutter bin ich auch geblieben. In der Zwischenzeit begann ich eine Ausbildung im Fach. Das war aber nur kurz. Ich wollte mir nicht merken, wo welche Gabel zu welchem Anlass hingehört und so. Mein Chef hat mich wieder genommen. Gelegentlich legte ich das Besteck anders. Eine Dame fragte mich einmal: ‚Gehört die Gabel nicht nach links?‘ Ich antwortete: ‚Sie brauchen die Gabel heute unbedingt rechts.‘ Sie ließ sich auf den vergnüglichen Schlagabtausch ein und es schien ihr Spaß zu machen." Insgeheim denkt er: An der Höhe des Trinkgeldes gemessen.

    Das erzählt er Herrn Winter nicht, auch nicht, dass überhaupt alles Trinkgeld auf die hohe Kante kam, konsequent, die ganzen elf Jahre lang - und nicht nur das Trinkgeld. Am Tag nach Karl Winters Anruf war er bei der Bank, und dieses Geld ist der Grund, warum er schon eine Finanzierungsbestätigung in der Tasche hat, für alle Fälle.

    Seine Frau hält sich kurz, weil sie sich wohl eher das Haus ansehen will. Sie habe gleich nach der Schule Physiotherapeutin gelernt, dann sei Daniel gekommen. Sie sei lange alleinerziehend gewesen. Ihren Mann habe sie vor vier Jahren kennengelernt. Als sie das letzte Mal hier waren, hätten sie physiotherapeutische Praxen besucht. Eine habe ihr zugesagt und es habe ihr dort auch gefallen. Dann sieht sie Karl Winter erwartungsvoll an.

    „Schauen Sie sich doch erst einmal um. Ins Dachgeschoss müssen Sie allerdings allein hoch, die Treppe hat mir die Freundschaft gekündigt."

    Während sie diese Treppe hinaufsteigen, setzt er sich an den Küchentisch.

    ˆˆˆˆˆˆˆˆˆˆˆˆ

    Die Bahn zog kreischend ihre Schleife durch den Wald. Wenn er jetzt einen Schritt zulegte, würde er sie noch schaffen, der Autobahnzubringer war schon zu hören. Aber Jonas Brunner mochte nicht – wozu heute auch? – und während er gemächlich durch das nasse Laub watete, fand er sich im Dachgeschoss von Karl Winters Haus wieder.

    ˇˇˇˇˇˇˇˇˇˇˇˇ

    Geradeaus durch die schmale Tür ist die Toilette, die Sonne zeichnet das Rechteck des Dachfensters gleich hinter die Schwelle. Sie gehen nach rechts und treten ins Schlafzimmer. Im großen Giebelfenster ist der nahe Wald, hohe Rotbuchen, von denen durchs Fenster nur eine Wand aus Blättern zu sehen ist. In die Dachschrägen sind Kleiderschränke eingebaut und in der Mitte steht das Doppelbett mit grauer Tagesdecke, die bis auf den Boden reicht. Dieses Bett ist aus mattschwarzem Eisen, zwei Meter im Quadrat, die Ecksäulen mit dicken runden Füßen und Knäufen, geschuppt wie goldene Zapfen. Die goldene Farbe ist bei denen am Fußende abgegriffen, nachdem sich Generationen von betagten Eheleuten daran festhielten, während sie Abend für Abend ihre Kleider, also die von der Hüfte abwärts, über die Füße zogen. Was zwischen diesen Säulen ist, gleicht eher den Seiten eines Babybettes mit Gitterstäben, nur eben nicht aus Holz, sondern aus schwarzgrauen Eisenstangen. Es erregt ein Gefühl, als wolle man jemanden einsperren, obgleich nur Kopf- und Fußteil so sind. Und es steht mitten im Raum, weil das Kopfteil höher ist als das Fensterbrett.

    Sie sehen sich entsetzt an und denken wohl das Gleiche: Falls wir je hier einziehen, dann nicht mit diesem Bett! Obwohl, irgendwie lustig ist es schon, denn die Gitterstäbe sind ein wenig schräg eingebaut, im Kopfteil nach rechts geneigt und im Fußteil nach links. Das Bett scheint leicht zu schwanken, als hätte es einen über den Durst getrunken.

    Erst das Klappern der Teller in der Küche, das durch die offenen Türen nach oben dringt, löst ihren Blick von diesem Monstrum. Er geht um das Bett herum. Näher am Fenster gesellt sich zu der grünen Blätterwand über den Wipfeln der Buchen strahlend blauer Himmel.

    Lilly steht vor einer Kommode gleich neben der Tür, die eine schwarze Marmorplatte hat und einen hohen, aufgesetzten Spiegel, in dem sie ihn am Fenster stehen sieht. „Jonas, wir können Herrn Winter nicht länger warten lassen."

    Karl Winter hat den kleinen Haushalt im Erdgeschoss offenbar gut im Griff und dieser scheint ihm auch keine Last zu sein. „Den Garten haben Sie ja schon gesehen, sagt er, als sie wieder am Küchentisch sitzen. „Zwischen den Johannisbeersträuchern wuchsen früher Erdbeeren und im Sommer haben der Giersch und die Brennnesseln die Schlacht gegen die vereinigten Steingartenpflanzen endgültig gewonnen. Früher hat mir der Garten viel Spaß gemacht, aber mit dem dritten Bein ging es immer mühseliger und es tat weh zu erleben, wie der Garten so langsam den Bach runterging. Das wollte ich nicht mehr mit ansehen. - Sie können morgen früh wiederkommen, meint er, „wenn Sie wollen."

    ˆˆˆˆˆˆˆˆˆˆˆˆ

    Es dämmerte, als er auf den Weg einbog, der von der nahen Siedlung zur Haltestelle führte. Von hier sah man die wartende Bahn: ein hell leuchtendes, langes Lichtband, das von dem Unterstand aus Wellblech unterbrochen wurde. Er schaute sich nach Frau Reiter um, der er nicht selten morgens mit ihrer kleinen Tochter im Kinderwagen hier begegnete. Vielleicht ist sie schon weg, weil ich heute später dran bin, dachte er und lief weiter.

    Wie immer stieg er in den hinteren Wagen, streifte die Kapuze nach hinten und setzte sich ans Fenster. Er war allein und das blieb bis zur nächsten Haltestelle so. Ab dieser waren alle Sitzplätze belegt, denn dort begann die Siedlung, die bis zum Wald reichte und von der das letzte Haus Familie Reiter gehörte. Auf der anderen Seite war der Parkplatz am Autobahnzubringer. Jonas Brunner zog den Kragen seiner nassen Jacke hoch, lehnte sich an die Scheibe und schlief ein. Doch der Lärm an der nächsten Haltestelle weckte ihn bereits wieder.

    Die Gleise führten dann entlang der vierspurigen Straße. Die Bahn fuhr den Autos davon. Vor sieben Jahren hatte er mit dem alten Golf genau da drüben im Verkehr gesteckt. Er war an seinem ersten Arbeitstag früher von zu Hause losgefahren, um auch wirklich pünktlich anzukommen. Wie hätte er auch wissen können, dass wegen einer Baustelle viele auf diese Straße auswichen. Sie fuhren wie die Schnecken und an ebendieser Stelle hatte er sehnsüchtig der Bahn hinterhergeschaut, die unendlich schnell davonraste, und seine Stimmung hätte nicht düsterer sein können, selbst wenn er geahnt hätte, dass er so viel später keinen Parkplatz mehr finden würde und obendrein auch noch fünf Minuten Fußweg dazukommen würden.

    ˇˇˇˇˇˇˇˇˇˇˇˇ

    Am nächsten Morgen sitzen sie wieder an Karl Winters Küchentisch, auf dem Tassen stehen und ein Teller mit Keksen nach dem Rezept seiner Frau. „Wie geht es Ihnen? Haben Sie gut geschlafen?"

    „Wir beschäftigen uns nicht alle Tage mit so großen Anschaffungen", antwortet er.

    Karl Winter greift zur Kanne und schenkt Kaffee ein. Der scheint schwärzer als gestern und der erste Schluck bestätigt die Diagnose.

    Lilly gießt sich gleich Milch nach und als sie in den zweiten Keks beißt, meint sie genüsslich kauend: „Herr Winter, wenn Sie uns das Haus verkaufen wollen, ist das Rezept für die Kekse aber schon dabei, oder?"

    „Heißt das, Sie wollen das Haus nicht ohne Rezept?"

    „So ungefähr."

    Jetzt geht alles ganz schnell. Sie haben keine Fragen mehr, es bleibt bei dem Preis und sie erwähnen die Finanzierungsbestätigung. Karl Winter meint, er wolle nur seinen Sessel und Kleinkram zur Tochter mitnehmen und wisse nicht, wie lange es dauern würde, bis das Haus ausgeräumt sei. Sie bieten ihm an, selbst auszuräumen. Er solle einfach einpacken, was er wollte, und alles andere stehen lassen. Er ist erleichtert. „Wie lange sind Sie eigentlich noch in der Stadt?"

    „Wir müssen nicht gleich wieder nach Hause."

    „Meine gute Bekannte im Notariat will mir gerne helfen. Wir könnten die Marianne gleich anzurufen."

    „Warum nicht?", meint Lilly.

    Karl Winter greift zum Telefon und wählt.

    Marianne ist wohl wirklich eine gute Bekannte, das Gespräch hört sich vertraut an und das Thema Hausverkauf war wohl für die beiden nicht neu. Marianne schien ihm alle möglichen Formalitäten abzunehmen und nach einer etwas längeren Pause im Gespräch brachte sie ihren Chef wohl dazu, den Notartermin am nächsten Tag noch hinten dranzuhängen. Den Grundbuchauszug hätte sie bis dahin auch.

    Sie holen Karl Winter am nächsten Tag am Nachmittag ab. Und so ist der Notarvertrag unterschrieben.

    ˆˆˆˆˆˆˆˆˆˆˆˆ

    Er war eine Dreiviertelstunde unterwegs. Die Straßenbahn hatte mittlerweile die Fahrbahn gewechselt, die Wohnhäuser drängten sich dichter an die Straße und der Strom der Autos war zäh bis ganz erstarrt, wie die Mienen mancher Fahrer, deren Arbeitsbeginn gerade ins Schwimmen geriet. Einer klopfte mit den Daumen rhythmisch auf sein Lenkrad, seine Lippen bewegten sich. Er war allein in seinem Auto, wie die meisten anderen auch.

    Brunner schaute wie weggetreten zum Fenster hinaus. Als die Bahn aus der Innenstadt fuhr und rasant in die Allee Richtung Polizeipräsidium einbog, kippte ihm im Gedränge der Mann neben ihm gegen die Schulter.

    „Entschuldigung."

    „Bitte, bitte", sagte er und stand schon mal auf, musste sowieso die Nächste raus. Viele stiegen hier aus und es war in der Menge ein leiser Drang Richtung Tür zu spüren.

    Es regnete unablässig, Schirme öffneten sich zu einem bunten Gewimmel. Die Bahn fuhr davon, er wollte schnell ins Trockene und fasste den Haupteingang an der Südseite des riesigen Karrees gegenüber der Haltestelle ins Auge. Das Polizeipräsidium mit dem Antennenmast auf dem Dach bildete die Ostseite des Karrees.

    An der Drehtür staute es sich. Wie dieser mächtige Gebäudekomplex selbst war auch die Eingangshalle mit ihrer hohen Fassade aus Glas riesig. Man meinte, ins Tropenhaus des zoologischen Gartens zu gehen: Pflanzen bis zur Decke, Orchideen wuchsen im Geäst. Es fehlten nur Vogelgezwitscher und das Krokodilbecken, aber es gab Sitzgruppen und geradeaus einen Tresen.

    Als er letztens mit Maik Haberland diesen Weg nahm, hatte der hochgeschaut und bemerkt: „Da braucht man ’ne Kettensäge, um diesen Urwald hier wieder hinauszuschaffen."

    Links ging die breite Treppe nach oben, dann die Aufzüge, daneben Informationstafeln mit Dutzenden von Ämtern, Behörden und Dienststellen. Er ging dort nach hinten, vorbei am Sanitärtrakt, stieg die nicht allzu breite Treppe hinab ins Untergeschoß und lief den Gang Richtung Ostflügel, vorbei an Archiven, Lagerräumen und der Haustechnik, bis zur einzigen Tür von hier ins Polizeipräsidium und zog seine Karte durch den Scanner. Er drückte die Tür auf und war in der Spurensicherung, die sich von hier bis unter das Foyer - dem eigentlichen Eingang des Polizeipräsidiums in der Mitte des zweihundert Meter langen Gebäudeflügels - erstreckte. Dort endete die Spurensicherung nach ihren Labors und Büros in ihrer eigenen Tiefgarage für die Einsatzfahrzeuge und dem Bereich für das Untersuchen von PKWs und Kleintransportern.

    Er wollte durch die dritte Tür rechts in Maiks Büro, klopfte und probierte die Klinke. „Keiner da, brummte er und ging eine Tür weiter. „Guten Morgen Kate, wo ist Maik?

    „In der Garage, bekam er zur Antwort und wollte die Tür wieder hinter sich zuziehen, aber sie rief ihm hinterher: „Warte doch, Frau Micha war eben am Telefon, die suchen dich!

    Er eilte zum Aufzug. Frau Micha war die Sekretärin vom Chef und hieß eigentlich Michaela Krebs. Der Chef hatte irgendwann Frau Micha zu ihr gesagt und seither war es dabei geblieben.

    Frau Micha wusste, dass er morgens gelegentlich in der Spurensicherung hängen blieb. Er verkniff sich den Aufzug und nahm drei Stufen auf einmal bis hoch in die Eingangshalle des Präsidiums. Um diese Zeit wären sie genervt, wenn der Aufzug erst ins Untergeschoß fahren würde. Die Tür würde sich öffnen und im Keller würde sich Brunner einem Dutzend Augenpaaren gegenüberfinden: Na, mal wieder auf Tauchstation? Wohl gleich im Sarg übernachtet, hätte er dann zu hören bekommen. Lieber schloss er sich den Leuten an, die noch immer unablässig vom gegenüberliegenden Parkplatz und vom Parkhaus ins Gebäude strömten und drängte mit ihnen in den Aufzug. Er sah die Knöpfe der Stockwerke zwei, drei, vier bereits leuchteten und drückte noch die Fünf: Kriminaldirektion, K30, Kapitaldelikte. Ab der vierten Etage war er allein.

    Frau Michas Tür stand offen. Er schaltete auf Normalschritt und trat ins Zimmer. „Entschuldigung."

    „Herr Brunner, was ist mit Ihrem Handy? Sie fahren doch keine U-Bahn! Es interessierte sie aber nicht wirklich, denn sie sprach gleich weiter: „Eine Leiche, liegt wohl schon länger. Die Direktion Nord hat das zu uns durchgereicht.

    Denen wird’s wohl stinken, dachte er.

    „Hauptwachtmeister Piper war am Telefon, Polizeistation Eschenweiler."

    Die kannte er und sagte zu ihr: „Da ist nur Urwald. Dann muss ich wohl gleich die Schuhe wechseln."

    „Genau, unwegsames Gelände hat er gesagt."

    „Wie viele Leute hat der Piper dran?"

    „Mit ihm drei."

    Er nahm den Zettel, den ihm Frau Micha reichte, und las: „Wegmüller, Assistentin, 01602…?"

    „Sie sollen sich bei ihr melden, unterbrach sie ihn. „Herr Haberland übernimmt die Spurensicherung.

    „Gut", antwortete er kurz und war schon wieder auf dem Flur.

    Sie rief ihm nach: „Herr Brunner, schalten Sie Ihr Handy ein!"

    In seinem Büro schlüpfte er in die Wanderschuhe, fuhr in den Keller zu Maik und fand ihn in der Garage.

    „Ausgeschlafen?", empfing dieser ihn etwas ungehalten.

    „Mhm." Warum war Maik eigentlich so mürrisch?

    Er saß schon im Allrad, einem geländetauglichen Transporter mit sechs Sitzen und dahinter viel Platz für alles, was so gebraucht wurde und sagte: „Der Fotograf kommt gleich."

    „Wen nimmst du noch mit?"

    „Was weißt du schon?"

    „So gut wie nichts, außer Schutzmasken einpacken und Wanderschuhe anziehen. Letzteres hab ich schon. - Ach ja, und einen Zettel hab ich mit der Telefonnummer von einer Frau Wegmüller, Pipers Assistentin."

    „Mit der Wegmüller hab ich eben gesprochen. Alter Steinbruch, schon lange stillgelegt, die Zufahrt soll schwierig sein, im Bruch kann man aber fast bis zur Fundstelle fahren. Der Förster hat die Leiche heute im Morgengrauen gefunden, sein Hund hat sie aus dem Laub gebuddelt. Hoffentlich war der nicht zu eifrig."

    „Und Piper?"

    „Der Förster musste ein ganzes Stück zurückfahren, ehe er mit dem Handy Empfang hatte. Piper und seine Leute haben ihn dort getroffen. Die Wegmüller sagt, sie erreicht ihren Chef schon nicht mehr. Der Förster meinte, sie könnten ihr Auto gleich stehen lassen, damit kämen sie nicht weit. Piper ließ einen Mann beim Wagen und ist zum Förster in den Jeep gestiegen. Jetzt fehlt nur noch der Fotograf."

    „Falsch, kam es von hinten. Sie hatten Rafi gar nicht bemerkt, der seine schwere Umhängetasche ins Auto wuchtete und fragte: „Wie ist es dort, brauchen wir noch Leute?

    „Sieht nicht nach viel Arbeit aus, sagte Maik. „Ich helfe dir. Wir machen aus dieser Sache keinen Betriebsausflug. Sein Telefon klingelte und schnitt ihm das Wort ab. Er schaute aufs Display und nahm ab: „Guten Morgen, Herr Dr. Friedrich. --- Nein, die liegt schon länger und der Hund vom Förster war dran. Es wäre besser, wenn Sie bei der Bergung dabeibleiben. --- Ja, die Zufahrt ist unwegsam. --- Eine Stunde, zehn Minuten. Dann gab er ihm noch die Nummer von Pipers Assistentin und legte auf. „Der Doc fährt mit seinem Privatauto.

    Auf der Autobahn rief Brunner in Eschenweiler an und sagte Anja Wegmüller, sie wären in einer Stunde da. Sie antwortete ihm, dass sie noch nichts wüssten, aber ihr Kollege Süß habe eben von zwei Unfällen erzählt aus der Zeit, als er gerade seine Stelle dort angetreten hätte, und er habe kürzlich sein fünfunddreißigjähriges Dienstjubiläum gefeiert. Ein Pilzsucher sei ins Rutschen geraten und abgestürzt und später ein Zwölfjähriger, der mit seinen Freunden stromern gewesen sei. Beide tot. Dann sei ein Zaun gebaut worden und seither habe es keinen Unfall mehr gegeben.

    Das Gespräch hatten alle mitgehört und Rafi flapste: „Wir suchen also nach der Witwe, die von ihrem neuen Status noch nichts weiß, aber davon überzeugt ist, ihr Mann sei mit der Geliebten in die Südsee durchgebrannt. Dabei ist er nur beim Sammeln von Pilzen fürs Sonntagsessen umgekommen."

    Maik gab ein unwilliges Geräusch von sich, irgendwo zwischen Knurren und Räuspern. Sie waren still. Jonas und Maik sind Freunde, eigentlich seit Jonas‘ erstem Arbeitstag. Er hatte diese Art, auf seine Einsätze zuzugehen oder eben zuzufahren, schien schon dort zu sein, bevor er ankam. Deshalb wollte Maik kein blödes Gerede und Witze schon gar nicht. Es kam sonst nicht oft vor, dass sie zusammen im Auto saßen, doch wegen dieser wilden Zufahrt zur Fundstelle hatte er eine Ausnahme gemacht.

    ˇˇˇˇˇˇˇˇˇˇˇˇ

    Endlich stürmt er die Stufen zum Eingang des Präsidium hinauf.

    „Kommissar Brunner, reichlich spät!" mahnt Frau Micha, die er schon vom ersten Vorstellungstermin kennt.

    Was er damals zusammengestammelt hatte, weiß er nicht mehr: Stau, Baustelle, gesperrter Zubringer.

    „Herr Brunner, Sie sehen schlecht aus. Er sagt nichts. „Ist doch nicht etwa wegen dieses Fehlstarts? Wieder kein Wort. „Setzen Sie sich und trinken Sie erst mal einen Kaffee. Inzwischen rufe ich Ihren Chef an. Jedenfalls wollte er das seit zwei Stunden sein. Keine Sorge, ich sage ihm nicht, dass Sie eben beim Kaffeetrinken sind. Sie steht an der Kaffeemaschine und erklärt, warum niemand da ist: „Fast alle sind schon seit gestern Abend im Einsatz wegen der Bank in der Bergerstraße, Geiseln, noch keine Entspannung. Ihr Chef ist aber an einem anderen Tatort. Frau Micha redet in einem fort. „Ihr Dienstausweis bekommen Sie gleich von mir. In die Personalabteilung und die Waffenkammer können sie wohl erst in den nächsten Tagen."

    Während der erste Schluck Kaffee für Beruhigung sorgt, legt Frau Micha nach: „Ist gerade ausgenommen viel los, Sie haben’s echt getroffen, nimmt das Telefon und redet offenbar mit seinem Chef: Harald Scheffer, Hauptkommissar: „Ja, Herr Brunner ist jetzt da. --- Nein, die Baustelle am Zubringer.

    Er wundert sich, warum die Dienstgrade hier in den Gesprächen irgendwie unter den Tisch fallen und nimmt sich vor, bei passender Gelegenheit zu fragen, am besten Frau Micha - Frau Micha klingt ja schon merkwürdig genug.

    „Okay. Mehr sagt sie vor dem Auflegen nicht. „Ihr Chef will, dass Sie hinkommen, sofort, sieht auf ihr Telefon und wählt eine kurze Nummer: „Kate, wann fährt der Leichenwagen zu Scheffer? --- In zehn Minuten? Ich schick dir Herrn Brunner runter, er ist neu bei uns. --- Sie legt auf. „Sie fahren mit dem Leichenwagen, bevor sie wieder irgendwo in der Stadt stecken bleiben. Nehmen Sie den Aufzug ins Untergeschoß und gehen Sie nach links durch die Stahltür in die Garage. Das Auto können Sie nicht übersehen.

    Zehn Minuten geht noch, denkt er. So ist das Erste, was Jonas Brunner nach seiner verunglückten Entschuldigungsserenade bereits in der Tür stehend über die Lippen bringt: „Wieso hört man in dieser Etage so selten Dienstgrade und warum sagen alle Frau Micha zu Ihnen?" Dabei schaut er demonstrativ auf das Türschild. Sie lächelt, bemerkt er. Freut sie sich, weil ihr Patient endlich wieder den Mund aufmacht oder über die Frage selbst?

    „Das war er, sagt sie belustigt und blickt ihrerseits demonstrativ Richtung Chefbüro: Alexander Dietrich, Leiter der K30. Er habe in einer Konferenz gesagt, dass er mit diesen Dienstgraden zu viel reden müsse und es auch nicht nötig sei, dauernd an seinen Dienstgrad erinnert zu werden und damit an die Besoldungsgruppe. Er habe sogar abstimmen lassen. Zuerst habe er nach den Enthaltungen gefragt – es seien viele Hände hochgegangen –, dann nach den Gegenstimmen – keine Hände. Bei der Frage, wer dafür sei, habe nur er die Hand gehoben und dann gesagt: ‚Also gut, einstimmig angenommen.‘ Elke von der Drogenfahndung hat zuerst losgeprustet, so heiter war es seitdem in keiner Sitzung mehr. Ja, und mit meinem Namen hat er ein paar Wochen später angefangen, einfach so, und jetzt ist es, wie es ist. Aber jetzt gehen Sie, sonst bleiben Sie bereits im Haus wieder stecken.

    Auf dem Flur denkt er: ‚Jetzt ist es, wie es ist‘ - scheint ihr aber zu gefallen.

    Bartel lenkt den Transporter flott aus der Garage die Auffahrt hinauf auf den Innenring, die Straße im Inneren des riesigen Häusergevierts. Die nächste Einfahrt ist die zur Pathologie. Jonas Brunner fragt Bartel nach dem Ziel. Der fällt ihm mürrisch ins Wort, er wisse nur Straße und Hausnummer.

    Sie schweigen, bis sie vor dem Absperrband halten. Wieder steigt dieses beklemmende Gefühl in ihm auf. Immerhin hat er sich so weit im Griff, sich nicht in die längliche Edelstahlbüchse hinten im Transporter zu wünschen, atmet durch und steigt über die Absperrung. Er zeigt zum ersten Mal seinen Dienstausweis und sagt zum Uniformierten an der Eingangstür: „Hauptkommissar Scheffer."

    „Treppe hoch rechts", antwortet der Kollege, tritt zur Seite und weist ihn nach oben.

    Das wäre wohl auch gegangen, wenn er ihm seinen Führerschein unter die Nase gehalten hätte.

    Welche Treppe?, fragt er sich. Er steht an der rechten Ecke eines alten, vierstöckigen Wohnhauses und sieht die fensterlose Giebelwand hinauf. An dieser Wand ist ein Anbau, etwas zurückgesetzt mit einem Spitzdach. Er hat drei große Tore - vielleicht für LKWs. Zwischen dem ersten Tor und der Giebelwand steht eine nicht allzu breite Tür offen und dort drin, halb im Dunkel, sieht er die Treppe. Und wenn der Kollege sagt, oben rechts, muss es also in dieses fensterlose, spitze Dach über den drei Toren gehen.

    Die eher dämmrige, rötliche Beleuchtung und die Bilder in diesem Treppenaufgang deuten auf den Zugang zu den Geschäftsräumen eines eher leichteren Gewerbes hin und als er vor der einzigen Tür oben rechts ankommt, liest er neben einem Klingelknopf: Rita, und neben einem zweiten: Kitty. Hinter dieser Tür trifft er jetzt gleich seinen Chef und hofft inständig, dass alle sehr beschäftigt sind und von ihm keine ausgedehnten Erklärungen erwarten.

    Die Tür ist angelehnt. Er klopft zaghaft - nichts. Langsam drückt er die Tür auf und tritt in einen Vorraum mit niedrigen, runden Tischen, Sesseln, einer kleinen Bar, zwei Stativen mit Scheinwerfern und einem Aluminiumkoffer. Links gegenüber sieht er einen Gang. Der Fransenvorhang ist zur Seite gebunden. Die Türen auf der linken Seite in diesem Flur sind offen und aus der zweiten dringt grelles Licht.

    Bisher hat ihn keiner bemerkt und er zögert, geht langsam weiter und verharrt an der ersten Tür, die zu einer ziemlich geräumigen Küche mit einer offenen Tür zum rechten Nebenraum führt. Von dort fällt das gleiche grelle Licht auf die Küchenzeile gegenüber. Die Küche hat eine Dachgaube, vor der ein gedeckter Tisch mit zwei gepolsterten Stühlen steht. Er geht zur zweiten Tür und sieht, als seine Augen sich auf das grelle Licht eingestellt haben, das Opfer. Es liegt auf einem Bett, ähnlich dem in seinem eigenen Schlafzimmer, welches den Winters früher gehörte, nur sind die Metallstäbe trist gerade und keineswegs schief und das niedrige Fußteil dient nur dazu, die dicke Matratze zu halten. Die junge Frau ist mit einem Laken zugedeckt. Die Füße ragen rechts und links an den Ecken des Lakens heraus und sind mit Handschellen an dem kurzen Gitter angekettet, ebenso die Arme rechts und links am Kopfteil. Um den Hals liegt ein mit silberglänzenden Noppen besetzter Riemen, der im mittleren Stab eingehängt ist. Die Augen sind weit offen und trotz der Starre noch voller Schrecken. Langes blondes Haar wallt nach allen Seiten über das Kopfkissen. Der Kollege im weißen Overall sieht ihn kurz an und beginnt, die erste Handschelle zu lösen.

    „Guten Tag, Herr Brunner. Er erschrickt, es ist Hauptkommissar Scheffer, der ihn von hinten anspricht. „Kommen Sie, wir gehen nach vorn.

    Im Vorraum deutet er wortlos auf einen der Sessel, setzt sich schräg gegenüber und kommt wider Erwarten umgehend zum Fall: Die Tote sei Rita Kämpf, sechsundzwanzig Jahre, seit mehr als fünf Jahren an dieser Adresse gemeldet. Die Reinigungskraft, eine Vietnamesin, neunundfünfzig Jahre alt, habe sie kurz nach sieben Uhr gefunden. Der Notruf sei um sieben Uhr elf eingegangen. Die Aussage der Frau sei aufgenommen worden.

    Er stellt das Aufnahmegerät auf den Tisch. Das Protokoll sei seine Sache, inklusive Unterschrift. Er legt einen Zettel dazu, auf dem sie ihren Namen, Adresse und Telefonnummer aufgeschrieben hat. Die Angaben seien mit ihrem Personalausweis abgeglichen. Von ihr wüssten sie auch, dass Rita Kämpfs Kollegin Kitty, eine Ungarin, für einige Tage nach Hause gefahren sei, weil ihre Mutter krank sei. Kitty sei seit vierzehn Monaten ebenfalls hier gemeldet. Rita Kämpf habe möglicherweise seit zwei Tagen allein in diesen Räumen gearbeitet. Der Fotograf sei bereits wieder abgefahren, der Pathologe inzwischen auch. Er vermute den Todeszeitpunkt zwischen fünf und sechs Uhr. Sie sei wohl erstickt durch den Halsriemen. Verbindliches gäbe es nach der Obduktion. Die Spurensicherung arbeite noch. Herrn Haberland habe er eben gesehen, zwei weitere Kollegen untersuchten die hinteren Räume.

    „Herr Brunner, ich muss wieder in die Bergerstraße. Die Spurensicherung hat noch eine Stunde zu tun, bleiben Sie solange. Lassen Sie auch die untere Tür versiegeln. Fragen Sie die Hausbewohner nebenan, wer die Garagen unter uns nutzt, parkende Autos… Sie wissen, was zu tun ist. Er schreibt eine Telefonnummer auf einen Bierdeckel. „Wenn Sie fertig sind, rufen Sie hier an. Der Kollege schickt Ihnen einen Streifenwagen. Noch Fragen?

    Er hat keine Fragen und dann ist Scheffer auch schon weg – müde sieht er aus.

    Brunner sitzt in sich zusammengesunken in seinem Sessel und fragt sich, ob er für diesen Job überhaupt geeignet ist. Der Anblick der Toten hat ihn sehr getroffen. Im Studium haben sie unzählige Fälle analysiert, sich viele Bilder angeschaut und selbst in der Pathologie hatte er keine Probleme. Aber jetzt schwankt der Boden unter seinen Füßen.

    Schließlich steht er auf und geht zurück. Die Scheinwerfer sind aus und Herr Haberland packt eben die Plastiktüten mit den Handschellen in einen Koffer. Rita liegt auf dem Bett, das weiße Tuch reicht ihr über die Schultern, die Hände sind auf dem Tuch zusammengelegt, die Augen geschlossen, das blonde Haar ruht auf dem weißen Kissen.

    „Jonas Brunner, wenn ich richtig gehört habe?", beginnt Maik Haberland.

    „Ja." Mehr kann er nicht sagen.

    „Kommen Sie herein. Wir sind hier fertig. Und weil Brunner die Augen offenbar nicht von der Toten abwenden kann, spricht er weiter: „Ich war wütend auf den, der sie so zur Schau gestellt hat, darum hab ich sie so hingelegt. Mit Wut im Bauch macht man Fehler.

    Er kann darauf nichts erwidern, hält inne, weil ihn so viel ungewöhnlich persönliche Offenheit erstaunt. Er gewinnt neuen Halt, weil er fühlt, nicht mehr allein zu sein.

    Haberland hält den Beutel mit diesem Gürtel, den sie um den Hals hatte, noch in den Händen und sieht ihn fragend an. Er will mehr wissen und geht zu ihm. Der Riemen ist aus schwarzem Leder, knapp drei Zentimeter breit.

    Dann zeigt er ihm diese silbernen Noppen. „Sehen Sie sich das an, sagt er. „Die sind wie zwei Zentimeter flach und gerade ansteigende spitze Hakennasen. Und hier die Schnalle dazu, es ist ja eigentlich keine Schnalle, die Nadel fehlt. Der Riemen hat auch keine Löcher, sondern nur diese Noppen. Um den dünnen runden Steg der Schnalle ist eine dünne Hülse, die sich leicht drehen kann. Die Gürtel in früheren Zeiten hatten öfter so ein Röllchen. Er führt es ihm vor, fädelt den Riemen in die Schnalle, rollt die Schnalle so eine Hakennasennoppe hoch und dann rastet sie ein. „Sehen sie sich das an, das Röllchen kann nicht wieder zurück. Der Riemen liegt um den Hals, jetzt wird gezogen, das kleine Röllchen rastet hinter der Noppe ein und kann von allein nicht wieder zurück. Dann die nächste Schräge, und schnapp. Es sind zwei Hände nötig, um das wieder zu lösen, besonders wenn der Riemen richtig straff sitzt. Ihre Hände waren aber mit den Handschellen gefesselt und der Freier hatte kein Interesse, den Riemen wieder zu lösen. Ob dieser Riemen hier im Schrank war? Zweifelhaft. Den wird es sehr wahrscheinlich auch kein zweites Mal geben."

    „Hat er den mitgebracht?"

    „Vielleicht, Haberland blickt plötzlich zum Bett. „Der Riemen war angehängt. Falls sie in Panik geraten ist und sich abrupt bewegt hat, könnte sie sich den Riemen auch selbst enger gezogen haben. Vielleicht war der Freier zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr da.

    „Was gibt es von diesem Freier?"

    „Fingerabdrücke. Die Reinigungskraft hat tags zuvor alles gründlich gesäubert, nirgends Staub. Und seine DNA war im Mülleimer. Den Riemen verstaut er sorgfältig. „Jetzt noch die Küche.

    ˆˆˆˆˆˆˆˆˆˆˆˆ

    „Wir sind alle beieinander. Nach der langen Stille sehen alle fragend zu Maik. „Ein schwarzer SUV folgt uns, wird der Doc sein. Die nächste Ausfahrt müssen wir raus.

    Sie hielten auf die Kette der Berge zu, dunkelgrüne Nadelwälder, durchzogen von den rostroten Strähnen der Buchen. Dort oben verborgen lag Eschenweiler. Noch fuhren sie eben dahin, vorbei an abgeernteten Maisfeldern, gelben Stoppelfeldern und frisch gepflügten braunen Äckern. Grüne Weiden mit grasenden Kühen folgten, dann ein Hof. Es wurde zusehends hügelig und unversehens verschluckte sie der Wald. Die Straße folgte dem Fluss bis zu einer Spitzkehre, die sie den Hang hinauftrieb, gefolgt von weiteren Kehren bis ganz nach oben, wo der Wald aufhörte und in einer weitgezogenen Senke Eschenweiler unter ihnen lag. Dicke Wolken eilten dahin. Die Sonne fand gelegentlich eine Lücke und der Lichtfleck huschte über die Dächer und die Berghänge. Dort irgendwo war der Steinbruch. Maik fuhr zielsicher zur Polizeistation. Er war auch nicht das erste Mal hier.

    Anja Wegmüller lief ihnen eilig entgegen ans offene Fenster.

    „Hallo. Wachtmeister Süß ist ihr Lotse."

    Er kam hinter ihr her, musterte die Autos und knurrte: „Damit kommen wir hoch. Wo soll ich einsteigen?"

    Brunner setzte sich nach hinten. Der etwas korpulente Wachtmeister stieg vorn ein und sagte, während er den Gurt über seinen Bauch zog: „Links, dann die Hauptstraße bis zum Sägewerk. Wenig später ging es an den Holzlagerplätzen des Sägewerkes vorbei. „Jetzt wieder links, führte er sie durch Eschenweiler und sagte nebenbei: „Hier im Umkreis wird niemand vermisst und auch die umliegenden Hotels und Pensionen haben wir heute Morgen bis auf zwei erreicht. Es gibt keine Gäste, die weggeblieben sind, ohne sich abzumelden. Wir wissen auch nichts über fremde Autos, die schon länger abgestellt sind."

    Sie fuhren unterhalb der Hangsiedlung entlang, danach zwischen Viehweiden hindurch und dann einen Abzweig rechts hinauf. Die Böschungen an der schmalen Straße wurden zusehends höher und steiler, auch als sie wieder im Wald waren. Später hielten sie am Straßenrand hinter Pipers Dienstwagen.

    Wachtmeister Süß meinte, der schwierigste Teil seien die ersten fünfzig Meter, die würde er den Fahrern vorher lieber zeigen.

    Dr. Friedrich schälte sich aus seinem SUV. Er war ein großer Mann, der selbst bei diesem Auto den Kopf einziehen musste.

    Wachtmeister Süß ging zu ihm und wiederholte anscheinend seine Rede von eben. Beide gingen um das Auto herum und tauchten unter den ausladenden Ästen einer großen Buche hindurch. Sie kamen kurz darauf zurück und der Doc stieg mit besorgtem Blick ein und parkte um. Die Auffahrt verbarg sich dort, wo er gehalten hatte.

    Er kam zurück und fragte den Wachtmeister: „Ist das die einzige Zufahrt?"

    „Nach der nächsten Kurve ist ein ausladender Platz, dort sind die Ruinen der ehemaligen Verladeeinrichtung. Die Steine wurden in Loren vom Steinbruch heruntergefahren, es gab eine Seilbahn mit Gleisen. Die vollen Loren zogen die leeren wieder nach oben. Die Anlage wurde nach der Stilllegung abgebaut und die gesamte Trasse ist über die Jahrzehnte vollständig zugewachsen. Im Stadtarchiv hängen alte Bilder. Es gibt nur noch diesen Weg."

    Während seiner Rede standen schließlich alle bei ihm und hörten zu. Maik Haberland sagte mehr zu sich selbst: „Dann schauen wir uns den mal an."

    Bald darauf sah Pipers Mann, der bei den Fahrzeugen blieb, niemanden mehr. Der Trupp ging die ersten steilen Meter hinauf. Laub war dick gefallen und in der ersten Kurve endete eine vom Wasser gegrabene Rinne, die sich inmitten des Weges in leichten Mäandern herabwand bis in diese Kurve, hier den Weg verlies und in einen Graben mündete.

    Maik Haberland blieb stehen, zog die Stirn kraus, blickte den Weg hinauf, dann nach unten, und wieder hinauf, den Fahrspuren vom Auto des Försters folgend. Er wusste, wie er fahren musste und stieg mit den anderen weiter. Offenbar hatte es kürzlich geregnet, denn fast alles Laub war aus der Rinne gespült worden. Jetzt war sie trocken. Stellenweise sahen sie die Autospur vom Förster, durch deren Mitte die Rinne verlief.

    Als die Steigung deutlich geringer wurde, sagte der Wachtmeister, es seien von dort noch sechshundert Meter bis zum Bruch.

    „In Ihrem Auto ist doch noch ein Platz frei?, fragte der Doc Maik Haberland. „Ich würde meins lieber stehen lassen.

    „Okay, sagte Maik. „Steigt ihr hier ein, ich gehe runter und hole den Allrad.

    „Bringen Sie doch bitte die Tasche aus meinem Kofferraum mit", rief der Doc Haberland nach, der bereits auf dem Weg war.

    Unten in der Kurve blieb er stehen, wo die ausgewaschene Rinne nach links die Fahrspur zerschnitt, fand eine Steinplatte, die er an dieser Stelle in die Rinne versenkte, und verschwand.

    Der dichte Wald hörte auf, als sie die Sohle des alten Steinbruchs erreichten. Sie hielten auf den Jeep des Försters zu und stellten das Auto daneben. Schließlich waren alle miteinander bekannt und Herr Wagner, der Förster, erzählte, gegen halb sieben sei er hier hochgefahren, sein Hund sei in die Felsblöcke gesprungen und habe Laut gegeben. Er sei ihm nachgeklettert, habe den Hund, als er den Arm gesehen habe, sofort zu sich gerufen und sei nach unten gefahren fast bis zur Straße, wo das Handy wieder Empfang habe.

    „Sind Sie oft hier?", fragte Brunner.

    „Der Steinbruch liegt in meinem Revier, ich komme aber nur einmal im Jahr um diese Zeit hier hoch, weil mein Vorgänger in der Brunstzeit hier einen abgestürzten Rehbock gefunden hat. Ist aber nie wieder vorgekommen. Wild gibt es hier nicht, nur einige Vögel nisten in den Felswänden."

    „Man kann bis auf wenige Meter an die Fundstelle heranfahren", sagte Piper eher ungeduldig.

    Bis auf den Fotografen und Herrn Wagner gingen alle zur Fundstelle. Maik blieb zurück und sagte leise zu Rafi: „Bitte wieder einige extra. Als er schon wieder am Gehen war, rief er lauter: „Kommt dann mit dem Transporter nach.

    Der Förster hatte es dennoch gehört und fragte ungläubig ebenso leise: „Extra?"

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