Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Der Junge aus Ness
Der Junge aus Ness
Der Junge aus Ness
eBook403 Seiten5 Stunden

Der Junge aus Ness

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Idyllische Küsten, raue Natur, entbehrungsreiche Jahre: Ein Inseljunge auf der Suche nach seiner Identität. Colin wächst in den 1950er-Jahren auf den Äußeren Hebriden auf, einem der entlegensten Winkel Schottlands. Torfmoore und grenzenlose Einöde bilden den Rahmen eines ereignislosen Insellebens, in dem er seinen eigenen und den durch die Geistergeschichten der Erwachsenen ausgelösten Ängsten ausgeliefert ist. Ein Pfarreronkel ermöglicht ihm das Studium auf dem Festland in Aberdeen. Doch dort erwarten ihn eine andere Enge und der Verlust seiner Identität; vergebens versucht er diese in Hafenkneipen, bei Whisky und alten Liedern wiederzufnden. Mit feiner Ironie und voller Empathie und doch schonungslos porträtiert der gälische Autor Alasdair Campbell ein Leben am Rande, das zugleich das Leben von vielen ist – den Leser erwartet eine einzigartige Geschichte, die ihm lange im Gedächtnis bleiben wird.
SpracheDeutsch
HerausgeberFolio Verlag
Erscheinungsdatum27. Feb. 2018
ISBN9783990370773
Der Junge aus Ness

Ähnlich wie Der Junge aus Ness

Titel in dieser Serie (29)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Fiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Der Junge aus Ness

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Der Junge aus Ness - Alasdair Campbell

    Glossar

    Na luin

    Die zwei alten Männer saßen vor Florys Haus in der Sonne, Schnapp war bei ihnen. Colin machte sich von der Straße. Als sie sahen, wer kam, brachen die beiden Alten in Gelächter aus und versuchten, Schnapp auf ihn zu hetzen. „Los, Schnapp!, riefen sie dem Hund zu. „Sieh mal, wer da kommt! Los! Fass! Colin nahm die Milchflasche in die linke Hand, um sich für einen Spurt bereit zu machen, aber Schnapp rührte sich nicht von der Stelle. Zur Seite gewälzt, blieb er liegen, wo er war, und hechelte mit heraushängender Zunge. Seine Flanke bewegte sich auf und ab. Es war zu heiß. Colin schlich vorsichtig in einem weiten Bogen am Straßenrand vorbei und ließ Schnapp keine Sekunde aus den Augen. „Los, Schnapp!, riefen die alten Männer lachend und stupsten den Hund mit ihren Stöcken. „Los, beiß ihm den Kopf ab! Aber Schnapp rührte sich nicht von der Stelle.

    Beim Schuppen von Kämpfer-John konnte er das Lachen der beiden Alten noch immer hören und bog ab. Die Straße, die zu ihrem Haus führte, war aus derselben rotbraunen Lehmerde wie die Dorfstraße, aber schmaler. An einer Stelle führte ein Kanal unter ihr durch. Es hatte wochenlang nicht geregnet, und sie war staubig und trocken, voller Steine und kleiner, ausgetrockneter Schlaglöcher. Die von der Sonne festgebackenen Spurrillen der Wagenräder kreuzten sich. Er ging weiter, seine Zehen schauten aus den Sandalen, und er kickte auf seinem Weg einen Stein vor sich her. Bei jedem Tritt stieg eine kleine Staubwolke auf. Ihr Haus war, wenn man von der Hauptstraße kam, das erste rechts im Dorf. Lang und niedrig, mit einem flachen Teerdach und grob verputzten Mauern stand es frei oben auf der Böschung. Auf der anderen Straßenseite stand das Haus von Kämpfer-John und neben dem von Kämpfer-John, mit einem eigenen Garten und von hohen Trockensteinmauern eingefasst, das größte Haus im Dorf, das von Angus John Tully. Dort lebten die Macleods (Roddy Macleod war in der gleichen Klasse wie er, John Norman in derselben Klasse wie sein Bruder). Er schloss das Gatter hinter sich, drückte die Drahtschlaufe mit beiden Händen über die glattpolierte Pfostenspitze und wartete kurz, um sicherzugehen, dass die Schlaufe nicht wieder am Pfosten hochrutschte. Auf der sonnenabgewandten Hausseite Richtung Dorf war es kühl – bläulicher Schatten. Nach seinem Aufstieg schnaufte er.

    Seine Mutter war nicht im Wirtschaftsraum, sie war auch nicht in der Küche. Die Tür in der Trennwand zwischen Küche und vorderem Schlafzimmer war angelehnt. „Ist jemand da?", flüsterte er kaum hörbar neben dem Ticken der Küchenuhr. Die Stille summte in seinen Ohren.

    Zurück im Wirtschaftsraum stellte er die Schraubdeckelflasche mit der Milch ins feuchte Innere der Wassertonne, damit sie kühl blieb. Dann tauchte er den neuen Blechbecher in einen der Wassereimer auf den Holzböcken und trank in einem langen Zug. Das Wasser aus dem Brunnen unten am Loch war von einem durchsichtigen Weiß und so kalt, dass die Zähne schmerzten und die Stirn taub wurde. Er hielt inne und schnaubte ohne abzusetzen durch die Nase in den Becher, während er wartete, bis der Schmerz abklang. Die braunen Rostflecken, die sich bereits am Boden des Bechers zeigten, schienen sich zu bewegen, und als er sie anschaute, zitterten sie im hellen Wasser. Als er den Becher kippte und weitertrank, rannen ihm aus beiden Mundwinkeln kleine Bäche auf den Pullover. Er setzte den Becher ab und schnappte nach Luft. Dann wischte er die Wasserperlen vom Pullover, ging nach draußen und vorn um den Wirtschaftsraum herum, machte einen Bogen um die kaputte Torfkarre, duckte sich unter der Leine mit der schlaff herunterhängenden, sauber riechenden Wäsche durch und ging zur Vorderseite des Hauses. An der Ecke blieb er wie angewurzelt stehen – er traute seinen Augen nicht. Sein Vater war vor dem Haus. Auf einem Feldbett. Colin traute seinen Augen nicht.

    Mit offenem Mund blieb er an der Ecke stehen und starrte.

    Als sein Vater den Kopf hob, erblickte er an der Ecke ein kleines, von Sommersprossen übersätes Gesicht. Mit großen Augen und von kurzgeschnittenem Haar umrahmt, schaute es ihn an. Das Gesicht verschwand wie der Blitz.

    „Komm ruhig", hörte Colin seinen Vater sagen.

    Mit einem Auge spähte Colin um die Ecke, die andere Gesichtshälfte an den Putz gedrückt. Sein Vater winkte ihn zu sich.

    „Komm."

    Mit gesenktem Kopf ging er zu ihm. Neben dem Feldbett blieb er stehen und scharrte mit den Sandalen im Gras.

    „Wo kommst du denn her?", fragte sein Vater.

    „War unten bei Oma."

    „Wo ist John?"

    „Keine Ahnung", antwortete er erstaunt und sah schuldbewusst auf. John war sein kleiner Bruder. Aber es war alles in Ordnung, sein Vater lächelte ihn an.

    „Alles in Ordnung, sagte sein Vater lächelnd, „sieh mich nicht so erschrocken an … Die Stimme seines Vaters war jetzt ganz sanft und leise – man musste sich anstrengen, um ihn zu verstehen. Seine Augen waren so blau! Colin hatte noch nie bemerkt, wie blau die Augen seines Vaters waren. Er war scheu und glücklich, als diese Augen ihn so anlächelten, und senkte den Kopf. Dann breitete sich auch auf seinem Gesicht ein Lächeln aus, es wollte gar nicht mehr aufhören, und er lachte laut und mit einem kleinen, glücklichen Achselzucken in seinen feuchten Pullover hinein. Er konnte es gar nicht glauben!

    Er hatte seinen Vater noch nie vor dem Haus gesehen. Höchstens vor langer Zeit mal.

    Er saß im Schneidersitz neben dem Feldbett im Gras und sah seinem Vater beim Lesen zu.

    Sein Vater saß, auf Kissen gebettet, auf dem Feldbett und las. Auf dem Kopf trug er eine Mütze, der Schirm warf einen Schatten auf seine Stirn. Über dem Schlafanzug trug er eine gelbe Strickjacke mit runden Lederknöpfen und an den Füßen Schuhe und die Socken, die Oma Alan ihm gestrickt und letzten Monat geschenkt hatte. Sein Vater hatte als Dankeschön für die Socken ein Lied für Oma Alan geschrieben, und als sie es gehört hatte, hatte sie ihr Gesicht im Schal vergraben und geweint. Er hatte Hosen an und einen Schal um den Hals. Er sah aus wie alle anderen. Neben ihm lagen auf dem Feldbett seine Zigaretten und eine Schachtel mit Streichhölzern, ein Feldstecher, eine karierte Decke und ein Stapel ‚Bulletins‘. Er saß in der Sonne und las ein ‚Bulletin‘. Er sah genauso aus wie alle anderen.

    „Papa, ist Mr Shinwell ein Fußballer?"

    „Nein."

    Sein Vater legte das ‚Bulletin‘ beiseite und nahm eine Capstan aus dem griffbereiten Päckchen. Er hielt die Zigarette in der linken Hand – Zeige- und Mittelfinger waren vom Zigarettenrauch gelb verfärbt – und hob sie dann zum Mund. Dabei wanderte der Schatten des Mützenschirms von seinem Gesicht weg und Colin sah, dass das Gesicht seines Vaters sogar in der Sonne von seltsam grauweißer Farbe war, der Farbe von Schweineschmalz oder Kerzenwachs, voller Linien und Grübchen. Und seine Augen, die so blau waren, wenn man direkt in sie hineinsah, waren von schwarzen Ringen umgeben und lagen tief in den Höhlen. Das lag daran, dass sein Vater, solange Colin denken konnte, immer im Hinterzimmer im Bett lag, bei geschlossener Tür, auch die Uhr hatte man entfernt. Colin und John durften im Haus keinen Lärm machen, nicht unter den Fenstern des Hinterzimmers spielen und auch nicht hochgehen, um bei ihrem Vater vorbeizuschauen. Manchmal waren sie doch oben – zum Beispiel als Mrs Stanton, die Lehrerin, Colin mit einem Brief an seinen Vater heimschickte, nachdem sie ihm ein paar mit dem Riemen verpasst hatte. Colin hatte vier Stunden unbeweglich oben im Zimmer in einer Ecke gestanden, mit dem Gesicht zur Wand, bis seine Mutter mit dem Sieben-Uhr-Bus von Stornoway zurückgekommen war. Großonkel Norman meinte, die Krankheit brächte seinen Vater dazu, sowas zu tun. Auf dem Tischchen neben dem Bett war eine kleine Glocke mit einem Perlmuttknopf oben drauf, der aussah wie ein umgedrehter Kragenknopf. Auf den drückte sein Vater, um zu läuten, wenn er zu schwach zum Sprechen war. Unter dem Bett seines Vaters stand ein verzinkter Eimer. Eines Nachts wachte Colin verängstigt auf und hörte durch die Wände, wie sein Vater laut stöhnte und sich erbrach. Und dann kam seine Mutter aus dem Zimmer herunter. Sie trug mit beiden Händen den Eimer vor sich her und es schwappte im Dunkeln, als sie auf dem Weg zum Wirtschaftsraum durch die Trenntür ging. Er hörte, wie die Haustür aufging, stand auf, hielt die Luft an, trippelte ungelenk auf Zehenspitzen ans Küchenfenster und beobachtete, barfuß auf dem kalten Linoleum stehend, wie sie den Inhalt des Eimers in einer alten Aschengrube neben dem Torfstapel vergrub. Als sie damit fertig war, stand sie lange Zeit in ihren Gummistiefeln und mit einem alten Regenschutz über dem Nachthemd vor dem Torfstapel, den Spaten noch in der Hand. Sie schaute zum Dorf, wo zu dieser Stunde alles still schlief. Wonach hielt sie Ausschau? Um die Zeit war doch alles dunkel, nichts bewegte sich und nirgends war Licht. Außer im Zimmer seines Vaters, der jetzt mucksmäuschenstill dalag und nicht das kleinste Geräusch von sich gab. Nach einer Weile kam sie wieder herein. Er hörte das Schaben eines Streichholzes und den leisen Knall des Methylalkohols, als sie die Flamme des kleinen Primus-Kochers in der Küche anmachte, um Tee zu kochen. Er gab vor zu schlafen, als sie mit zwei Tassen in den Händen auf dem Weg nach oben am Fußende seines Betts vorbeiging. Durch zitternde Wimpern sah er die schwarzen Flecken vorne auf ihrem Nachthemd. Das war kurz vor dem Morgengrauen. Und als sie ihnen an diesem Morgen genau wie an jedem anderen energisch mit einer groben Bürste die Haare kämmte, sagte sie: „Falls jemand fragt, wie es eurem Vater heute geht, sagt ihr einfach, es geht ihm wie immer. Sagt einfach, es geht ihm wie immer …" Und hier saß sein Vater, er war aufgestanden und draußen und angezogen. Als wäre ein Wunder geschehen.

    Mr Shinwell war kein Fußballer, sondern er saß im Parlament. Er war in der Labour-Partei. Als Colin seinem Vater die Frage zu diesem Mr Shinwell gestellt hatte, hatte der auf das Gesicht von Mr Shinwell hinuntergeschaut und gelächelt. Auf dem Bild trug er Kragen und Krawatte. Also war klar, dass er kein Fußballer war. Fußballer tragen Trikots mit offenem Kragen. Billy Steel war ein Fußballer. Aber vielleicht war dieser Mr Shinwell früher mal ein Fußballer gewesen.

    „Warst du mal ein Fußballer, Papa?"

    „Nein. Sein Vater lächelte. „Aber ich war mal Boxer.

    Er war aber mal Boxer gewesen. Das stimmte schon. Das war der Beiname seines Vaters: der Boxer. Er hatte ihn in der Unterstufe verpasst bekommen, als er noch klein gewesen war, weil er so gut kämpfte und weil er beim Kämpfen jeden an der Schule besiegte.

    Das Gras, auf dem Colin saß, war warm. Die Gänseblümchen und Butterblumen leuchteten. Der grüne Stoff des Feldbetts roch modrig und war heiß unter seiner Hand. Er war so glücklich! So stolz, dass er kaum Luft bekam! Er wünschte sich, dass all die anderen Jungen aus dem Dorf seinen Vater so sehen könnten. Alle sollten sie seinen Vater jetzt sehen – die Jungen von Ivor Macleod von gegenüber, Donald und Roddy und John Norman, die in einem großen, weißen Haus wohnten, Angus John Tullys Haus, mit Treppen und Sturmfenstern und einem Schieferdach und einem Badezimmer, ihr Vater fuhr zur See und war mal mit ernstem, gebräuntem Gesicht und einem Koffer voller Geschenke aus Australien zurückgekehrt – sie alle sollten jetzt hier sein. Auch Donald Ishbel aus Aird mit seinem neuen Fahrrad. Und er wünschte sich, dass die Barneys hier wären, vor allem der Große Barney, weil der Große Barney nämlich, als er den Arzt mit Handschuhen in Colins Haus gehen sah, gesagt hatte: „Da kommt der Arzt, der schickt den Boxer in die letzte Runde! Der Vater der Barneys fuhr auch zur See, war aber nicht so ernst bei seiner Rückkehr, sondern lachte und sang hinten im Bootsbus. Und John Angie sollte jetzt hier sein und der Rebell und John Angies Bruder Donald und Snooks und die drei Pongos, Shamus und Calum und Tomtom, deren Vater immer mal wieder im Straßenbau arbeitete, eine verwaschene blaue Latzhose voller Flicken trug und dich mit nur einer Hand über den Kopf heben konnte, einfach so. Und der lachte, wenn er dich so hochhielt, ha ha ha, sein Gesicht violett und rot und voller borstiger grauer Stoppeln lachte er zu dir hoch, dann hüpfte sein Adamsapfel und seine schwarzen und gelben Zähne waren zu sehen, seine Mütze war mit Zeitungspapier ausgeschlagen und von seinem Atem wurde einem ganz schwindlig. Er wünschte sich, dass sie jetzt alle hier wären und seinen Vater sehen könnten, und dann, dann würde er auf seinen Vater zeigen und sagen: „Schaut! Schaut! Mein Vater ist aufgestanden und draußen und angezogen, genau wie alle anderen! Schaut! Schaut ihn euch an! Und sie würden ihn anschauen und nichts mehr sagen … Oder er würde gar nichts sagen und sitzen bleiben, wo er war, und nichts sagen … Und die älteren Jungs aus dem Dorf wären auch da, um seinen Vater zu sehen, alle wären da, um seinen Vater zu sehen. Und sein Vater würde zu ihnen allen sanft und leise sprechen, und alle würden ihm zuhören und ihn ansehen, der Große Barney würde beim Zuhören von einem Bein aufs andere treten, und das Grinsen würde ihm langsam aber sicher vergehen …

    Der Tag war so schwer und so ruhig wie ein Sonntag. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Mauer. Die Sonne schien ihm geradewegs ins Gesicht. Die Hausmauer hinter ihm strahlte die Wärme ab wie ein Ofen. Alles wurde schwarz, wenn er es anschauen wollte. An der Wand lehnte gelb und knorrig der Stock seines Vaters, ihre Hausnummer – 6SD – war fast ganz oben eingebrannt. Er erinnerte sich, wie Onkel John bei Großonkel Norman mit den Brandeisen eine Hausnummer eingebrannt hatte, an das Zischen und den Geruch des Stocks unter dem rot glühenden Eisen, den dünnen blauen Rauch, der aufstieg und sich auf dem Weg nach oben gelb verfärbte. Hinter dem Stock stand an der Ecke ein alter Teerkübel. Der Teer war geschmolzen. Er konnte ihn riechen. Aus den Rissen in der Hauptstraße stieg er in Blasen auf, die man mit dem Daumen zerdrücken konnte. Die Teerbürste stand noch im Kübel. Um sie herum summten die Schmeißfliegen, sie flogen heran und wieder weg. Eine war durchs offene Küchenfenster geflogen und rumste jetzt beim Versuch hinauszugelangen von innen an die Scheibe. Eines heißen Tages schlief Farmer Jack nach dem Mittagessen wegen des einschläfernden Geräuschs einer Schmeißfliege an der Scheibe ein, und die kleine Maus kam aus ihrem Loch und rannte quer über den Fußboden und über das Bein von Farmer Jack auf den Tisch und aß den ganzen Käse. Das war eine Geschichte aus dem Lesebuch seines Bruders Alan. Sein Bruder Alan war älter als er. Er war in der fünften Klasse und wohnte jetzt unten bei Oma. Das war es, das Geräusch, das die Schmeißfliegen beim Kübel machten. Es war einschläfernd. Er lehnte sich mit dem Rücken an den rauen Putz, spürte die Wärme durch den Pullover, hörte das einschläfernde Geräusch der Schmeißfliegen, roch die Nachmittagsgerüche, die heißen, grünen und gelben, windstillen Nachmittagsgerüche – das Gras, den schmelzenden Teer, den Stoff und die sonnenwarmen Steine. Er sah zu seinem Vater hoch. Sein Herz schlug schneller.

    Die Zeitung lag immer noch zwischen den Händen seines Vaters, aber er las nicht mehr darin. Stattdessen starrte er aufs Moor hinaus. Der Ben leuchtete blau vor dem Horizont, weit, weit weg hinter den Telegrafenmasten entlang der Hauptstraße, mit ihren aufblitzenden Hütchen und Drähten. Sein Vater saß völlig regungslos da. Die Zeitung lag unbeachtet zwischen seinen Händen.

    „Ist ziemlich heiß, was?", fragte Colin. Seine Stimme klang komisch in der Stille. Es war ihm peinlich, dass er etwas gesagt hatte.

    Von weit weg kehrte sein Vater zurück.

    „Was?"

    „Ist ziemlich … heiß in der Sonne, was?", fragte Colin noch einmal. Unsicher blickte er kurz hoch und blies die Backen auf – pfff.

    Sein Vater lächelte ihn an.

    „Mach doch die Pulloverknöpfe auf."

    Colin fummelte an den drei Glasknöpfen am Pulloverkragen herum.

    „Papa, wieso bewegt sich die Spitze vom Ben? Dort, wo sie den Himmel berührt?"

    „Das ist das Hitzeflimmern", sagte sein Vater.

    Zusammen schauten sie auf den Ben.

    „Es ist wie … wie bei einem Lagerfeuer. Wenn man auf ein Lagerfeuer schaut."

    „Dafür gibt’s ein gälisches Wort, sagte sein Vater. „Na luin. Er sagte es ganz leise. „Jetzt sag du’s."

    „Na luin."

    „Kannst du dir das merken?"

    „Ja."

    „Schau, dort drüben, sagte sein Vater. Über der Straße stieg eine kleine Staubsäule auf, wirbelte in die Höhe, zog ein wenig weiter und legte sich wieder. „Die gibt’s nur, wenn’s lange schön war. Er verstummte und schloss die Augen, und Colin hörte den Atem in seiner Brust, hörte, wie sein Vater mit einem pfeifenden, dünnen Geräusch wie einem Kätzchenmaunzen ein- und ausatmete. Es schien ihm, als wanderte die Luft in der Brust nur ein kleines Stück hinunter, bevor sie stoppte und wieder hochkam. Dann hustete sein Vater ein paar Mal leise in ein Taschentuch. Er hielt sich das Tuch vor den Mund und fuhr fort: „Die Alten hatten auch dafür ein Wort … für diesen kleinen Wirbelwind. Sie nannten ihn Maighdean Fhionnlaigh."

    „Maighdean Fhionnlaigh", wiederholte Colin und lachte.

    „Ist ein hübsches Wort", sagte sein Vater fast im Flüsterton.

    „Ist wirklich hübsch, sagte Colin. „Der Himmel ist fast weiß, schau mal.

    Er wartete, aber sein Vater gab keine Antwort. Er atmete wieder so komisch.

    „Ich kann jetzt Wörter im Wörterbuch nachschlagen, in der Schule", erzählte Colin weiter.

    Mit dem Taschentuch in der Hand nickte sein Vater. Colin wartete, bis das Husten aufgehört hatte. Sein Vater machte beim Husten kein Geräusch, nur seine Schultern bewegten sich und Tränen traten ihm in die Augen. Er betupfte sich die Lippen mit dem Taschentuch.

    „Ich kann Wörter nachschlagen. Ich hab Säbel nachgeschlagen."

    „Ach ja?", flüsterte sein Vater mit glasigem Blick.

    „Ich habe alle Wörter für ‚Wär ich der Herr der Tatarei‘ nachgeschlagen. Säbel ist eine Art Schwert. Ich trüg’ Kleid und krummen Säbel."

    Mit einem Seufzer sank sein Vater zurück in die Kissen. Die Welt schimmerte weiter still vor sich hin. Dann drehte er den Kopf und lächelte. „Du bist ein schlauer Junge, Colin", sagte er.

    Das Tor quietschte laut, es folgte ein dumpfer hölzerner Schlag, als es wieder zuschwang und abprallte, und dann kam seine Mutter um die Hausecke. In einem bunten Kittel und mit entblößten Armen und Beinen, rot leuchtendem Gesicht und windzerzausten schwarzen Haaren kam sie aufs Feldbett zugestürzt wie eine brechende Welle und versetzte alles – das Gras, die Luft und sogar die Steine – in zitternde Aufregung. Aus vollem Hals rief sie: „Ich wollte nicht so lange wegbleiben. Und dann: „Die Frau hat mich festgenagelt. Anderthalb Stunden. Konnte ich mich loseisen? Denkste! Vor seinem Vater blieb sie stehen. „Alles in Ordnung?, fragte sie. Die Hände auf die Knie gestützt, bückte sie sich und schaute seinem Vater unter dem Mützenschirm ins Gesicht. „Kam heim, so schnell ich konnte. Bin völlig außer Atem – aber wirklich! Die hat mich einfach nicht gehen lassen!

    Sein Vater sagte etwas, das Colin nicht hören konnte.

    „Ist’s meine Schuld?, rief sie aus und richtete sich auf. „Ich hab ja kaum den Mund aufgebracht. Hatte keine Chance. Was machst du denn hier?, fragte sie Colin. Noch bevor er antworten konnte, fragte sie weiter: „Hast du die Milchflasche mitgebracht, von Oma? Und bevor er darauf antworten konnte, sagte sie zu seinem Vater: „Norman meint, das Wetter schlägt heute um. ‚Die Schaumkronen auf den Wellen bei den Inseln‘, hat er gesagt. ‚Das gibt schlechtes Wetter, noch bevor’s dunkel ist.‘

    Sie richtete seinen Vater auf und berichtete, was Norman sonst noch so erzählt hatte. Dann begann sie, ums Feldbett herum aufzuräumen. Die Kissen legte sie alle auf eine Seite und klopfte sie mit der flachen Hand zurecht. Die ‚Bulletins‘ legte sie ordentlich auf einen Stapel und das Fernglas oben drauf, dann faltete sie die karierte Decke zusammen.

    „Gib mir den Stock", sagte sie zu Colin.

    Er reichte ihr den Stock. Sie drückte ihn seinem Vater in die Hand und legte dessen Finger um den Griff. Mit gebeugtem Rücken schob sie ihm ihre linke Hand unter die Schulter und stellte ihn auf die Beine. Sie nahm seinen freien Arm, legte ihn um sich und hielt seinen Vater am Handgelenk fest. Er sah ganz wacklig und zerbrechlich aus neben ihr – wie ein Grashalm im Wind.

    „Dann wollen wir mal", meinte sie.

    Vorsichtig machten sie sich auf den Weg. Colin beobachtete seinen Vater – er ließ ihn keine Sekunde aus den Augen. Die beiden machten zwei Schritte vorwärts, stockten und blieben stehen. Sein Vater ließ den Kopf hängen und stupfte schwächlich mit seinem Stock auf den Boden. Wenn er versuchte, sich darauf abzustützen, zitterte der Stock heftig und der ganze Arm mit ihm. Sie machten wieder zwei Schritte vorwärts. Blieben stehen. Noch zwei. Blieben stehen. Seine Mutter redete in einem fort, ermunterte seinen Vater, trieb ihn an. Mit wachsender Wut beobachtete Colin, wie sie weggingen – dieser dünne, gebeugte Rücken, so anstrengungslos gestützt vom Arm seiner Mutter, deren Muskeln sich bewegten, sich unter der glatten weißen Haut bei jedem Schritt anspannten. Unter ihrem Arm war die gelbe Strickjacke seines Vaters hochgerutscht, und er konnte das kopfstehende V der Hosenträger sehen und den blau-weiß gestreiften Schlafanzug.

    „Fass bloß nichts an auf dem Bett", sagte seine Mutter über die Schulter, bevor die beiden um die Hausecke verschwanden – sie meinte das Fernglas. Colin starrte sie mit schamrotem Gesicht wütend an. Er gab keine Antwort. Sein Vater machte ebenfalls Anstalten, sich umzudrehen. Colin drehte das Gesicht zur Wand.

    Zu nichts nutze …

    Er hörte, wie sie außen am Wirtschaftsraum vorbeigingen. Hörte das Klatschen einer Decke, die zur Seite geschoben wurde, als sie unter der Wäscheleine durchgingen. Er konnte nicht mal selber gehen. Nicht mal das konnte er. Colins Gesicht brannte vor Scham …

    Und er war froh, dass die anderen Jungen aus dem Dorf das nicht mitgekriegt hatten. Er war froh – froh – dass sie nicht hier gewesen waren …

    Zu nichts nutze …

    Er drückte sein Gesicht an die roh verputzte Mauer, sah abwechselnd schwarz und rot, in seinen Ohren klang es wie weit entferntes Singen.

    In der Küche rumste wieder und wieder die Schmeißfliege gegen die Scheibe…

    Die Küchenuhr gab ein langes, einleitendes Rasseln von sich, wie jemand, der schlimmes Asthma hatte, dann schlug sie viermal. Mit missmutigem Gesicht hörte er zu. Vier Schläge hießen, dass es fünf vor drei war. Es war die dümmste Uhr auf der ganzen Welt. Manchmal fiel der große Zeiger ab. Um fünf vor zwölf schlug sie einmal … Im Augenwinkel bemerkte er, wie Roddy Macleod an Angus John Tullys Gartenmauer entlang schlich. Er zog eine Teekiste hinter sich her und war unterwegs zum Loch. „He!, rief er, sprang auf und lief los. „He, Roddy! So schnell ihn seine Beine trugen, rannte er unter dem Fenster des Hinterzimmers durch und ums Haus herum zum Tor – es stand sperrangelweit offen: „Wart auf mich! … He, Roddy, wart! … Wart auf mich! …"

    Der Hammel von Borve

    Colin und Großonkel Norman standen beim Scheunentor. Sie warteten auf Onkel John. Drinnen war der Hammel angebunden, an einem Metallring in der Mauer.

    Auf Gälisch hieß die Scheune das alte Haus. Sie lag gegenüber von Normans Haus auf der anderen Straßenseite. Maggie lebte auch in Normans Haus. Sie war seine Schwester.

    Das Haus von Norman hatte die Nummer 14. Nebenan, in Nummer 13, lebten Chrissie Alan und ihre Mutter und ihre Schwester Catherine. Flory und der alte Mann lebten in Nummer 12. Sie würden alle ein Stück vom Hammel kriegen, Flory und der alte Mann außerdem die Hachsen. Sie aßen die Waddell-Wursträdchen ungekocht.

    Im alten Haus hatten Norman und William und sein Großvater und Maggie gelebt, als sie jung gewesen waren.

    William lebte in einem großen, weißen Haus, der Nummer 23. Er saß die ganze Zeit über am Feuer. Auch er war sein Großonkel.

    Sein Großvater war im Ersten Weltkrieg ertrunken, am dritten März 1915, auf der HMS Clan MacNaughton. Seine Großmutter kriegte deswegen eine Rente von der Regierung, die bekam sie noch immer. Und der König, George V, hatte ihr eine runde, schwere, rotbraune Scheibe geschickt, die wie eine große Medaille aussah. Regelmäßig poliert glänzte sie auf der Anrichte, der Name seines Großvaters stand drauf – Murdo Maclean – und dann noch Er starb für Freiheit und Ehre. Außerdem war eine Frau mit einem Helm und einem Schild und einem dreizackigen Speer und einem Löwen zu ihren Füßen drauf, sie schaute auf die See hinaus. Vielleicht hatte auch die Königin die Scheibe geschickt. Queen Mary. Die andere Seite des Ordens war so flach und glatt wie der Boden eines Kochtopfs.

    Im Schlafzimmer seiner Mutter hing an der einen Wand eine Fotografie seines Großvaters, als er mit den Seaforth Highlanders in Ägypten gekämpft hatte. Sie war in Kairo aufgenommen worden. Auf der Fotografie starrte sein Großvater mit unbewegter Miene geradeaus. Er hatte einen Schnauzer. Er war Sergeant.

    Nur wenige Tage vor seinem Tod war er in Sichtweite daheim vorbeigesegelt, als die Clan McNaughton auf ihrem Weg nordwärts Richtung Scapa Flow durch die blau und grün und grau aufgewühlten Wasser vor der nördlichsten Spitze von Lewis gedampft war. In seinem letzten Brief nach Hause hatte er geschrieben: Heute konnte ich durchs Fernrohr den Ben sehen, auf seiner Spitze lag Schnee. Ich musste die ganze Zeit an die armen Schafe denken

    Maggie erzählte ihm manchmal Geschichten über Norman und William und den Großvater und über das alte Haus, in dem sie alle gelebt hatten, als sie jung gewesen waren. Ihr Vater – Colins Urgroßvater – hatte später auf einem Stück Land auf der anderen Straßenseite ein neues Haus gebaut. Nummer 14, Dell, Ness. Er hatte Balken und Steine über die Straße gekarrt und geschleppt und im neuen Haus verbaut, und vom alten Haus blieb gerade mal die Scheune stehen. Genauer gesagt die Hälfte der Scheune. Die Mauer auf der Südostseite wurde nie wieder aufgebaut und auch nicht geschlossen. Es blieb also ein Durchbruch, der war einen Meter breit und etwas mehr als einen Meter hoch und von innen mit einem alten Wagenrad ohne Radkranz verrammelt. Da pfiff zwar der Wind durch, aber seinen Zweck erfüllte es bestens. Jahre später bauten sie auf der Längsseite der Scheune einen kleinen Pferch. Zum Desinfizieren der Schafe betonierten sie eine im Boden versenkte Rinne, die auf beiden Seiten Platz für zwei Männer in Ölzeug bot. Am Ende der Mulde gab es eine zementierte Rampe, die hatte ungefähr alle dreißig Zentimeter eine Stufe und führte in einen ummauerten Pferch. Der Pferchboden war ebenfalls zementiert und fiel leicht ab. Wenn die tropfnassen Schafe mit durchweichtem Fell und grüne Kötel fallen lassend verzweifelt die Rampe hochgekraxelt und zur Einfassung gelangt waren, lief so der dunkelgelbe Wasserschwall zurück in die Rinne. Von dort (das Wagenrad zur Seite gerollt, Colin und Roddy Macleod passten an der Lücke auf) wurden sie in die düstere, feuchte, nach Teeröl riechende Scheune getrieben, um sich trocken zu schütteln.

    Onkel John hätte um elf Uhr mit dem Messer und dem Schlachttisch da sein sollen. Die Wannen, zwei emaillierte Kübel und das Seil zum Zusammenbinden der Hammelbeine lagen auf der windabgewandten Seite des Torfstapels bereit. Maggie hatte sie selbst hingebracht, war in ungeschnürten Männerstiefeln und ihrer Juteschürze, von einer gackernden Schar brauner und weißer Hühner begleitet, über die Straße gestapft.

    „Schöner Morgen!", verkündete Chrissie Alan vor der Tür von Nummer 13.

    „Lass den Hund nicht aus dem Haus, sagte Norman zu Maggie, „bevor wir hier draußen fertig sind.

    Die Scheune hatte keine Fenster. Nur durch die Speichen des Wagenrads vor der Lücke fiel ein Streifen Licht auf den Boden. Durch einen Spalt in der morschen grünen Tür warf Colin einen Blick auf den Hammel. Er war schon seit gestern Abend dort drin angebunden. Er stand da und rieb sich die Nase an einer Korngarbe, die an einem faserigen Strick von einem zweiten Eisenring an der Mauer hing. Im Halbdunkel sahen seine Augen aus wie Murmeln.

    Onkel Johns Messer war scharf wie eine Rasierklinge. Ein Mann von der Westseite der Insel hatte es ihm gegeben. Der hatte es aus Südgeorgien mitgebracht, vom Walfang. Es sah aus wie jedes andere Messer. War es aber nicht.

    „John? Der hat keine Eile, antwortete Großonkel Norman auf eine Frage Chrissie Alans. „Er hat sich Zeit gelassen, als er zur Welt gekommen ist, und er lässt sich Zeit beim Gehn.

    Willie der Fuhrmann hatte über John mal gesagt: „Hat dem eigentlich mal einer verklickert, dass das Fest irgendwann zu Ende ist?"

    Norman und William waren die Onkel von Onkel John. Maggie war Onkel Johns Tante.

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1