Drei Uhr morgens
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Über dieses E-Book
Eine Fahrt nach Marseille wird für Antonio und seinen Vater zu einer Reise in die Erinnerung und nach innen. Der verschlossene Gymnasiast muss zu einer neurologischen Untersuchung, die vorschreibt, zwei Tage und zwei Nächte ohne Schlaf zuzubringen. Sein Vater, der früh die Familie verlassen hat und zu dem er ein kühles Verhältnis hat, begleitet ihn. Erstmals erfahren die beiden eine nie gekannte Intimität: Der Vater erzählt von seiner Jugend, von der Bekanntschaft mit der Mutter des Jungen – der Sohn von seinen Hoffnungen und Ängsten. Der Aufenthalt vollzieht sich zwischen
Wachzustand und Erschöpfung, er führt in anrüchige Viertel, an atemberaubende Strände, ins Herz der pulsierenden Stadt. Eine Begegnung, die zwei Menschen für immer verändert.
Gianrico Carofiglio
Gianrico Carofiglio, geboren 1961 in Bari, arbeitete jahrelang als Richter, Senator und Anti-Mafia- Staatsanwalt und beschäftigte sich schon früh intensiv mit Verhörtechniken und Aussagepsychologie. Ihn faszinieren die Tiefen der menschlichen Seele, die Ursachen einer Straftat, die Kluft zwischen Wahrheit, Recht und Gerechtigkeit, der Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Nebenbei besitzt er den schwarzen Gürtel im Karate und kritisiert die westliche Kultur des Narzissmus. Seine Bücher, inzwischen millionenfach verkauft, sind in 28 Sprachen übersetzt.
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Buchvorschau
Drei Uhr morgens - Gianrico Carofiglio
Epilog
1.
Ich weiß nicht genau, wann es anfing. Ich war vielleicht sieben, vielleicht ein wenig älter, ich erinnere mich nicht mehr. Als Kind durchschaut man nicht, was normal ist und was nicht.
Als Erwachsener eigentlich auch nicht. Doch ich schweife ab, und Abschweifungen möchte ich möglichst vermeiden.
Jedenfalls passierte mir ungefähr einmal im Monat etwas Seltsames und ziemlich Unheimliches. Völlig unvermittelt und ohne den geringsten Anlass fühlte ich mich wie weggetreten, losgelöst von allem, was mich umgab, und nahm zugleich jeden Sinnesreiz überdeutlich wahr.
Normalerweise filtern wir die Stimuli, die von außen auf uns einwirken. Wir sind von Geräuschen, Gerüchen und jeder Art von optischen Reizen umgeben. Doch sind wir dabei nicht objektiv, wir hören nicht alles, was uns ans Trommelfell schlägt, wir riechen nicht alles, was uns in die Nase steigt, wir sehen nicht alles, was auf unsere Netzhaut trifft. Das Gehirn entscheidet, welche Wahrnehmungen es in unser Bewusstsein dringen lässt und welche Informationen es speichert.
Der Rest bleibt draußen, ausgesperrt und dennoch überaus gegenwärtig. In Lauerstellung sozusagen.
Hört auf zu lesen und konzentriert euch auf die Geräusche ringsum, die euch bis vor wenigen Sekunden nicht bewusst waren. Selbst wenn ihr im stillen Kämmerlein sitzt, hört ihr ein fernes Rumoren; ein Rauschen; ein Brummen; gedämpfte Stimmen, die unverständlich, aber dennoch da sind. Ihr nehmt die Bewegungen und Regungen eures Körpers wahr: den Atem, den Herzschlag, das Gurgeln des Verdauungsapparats.
Ein nicht unbedingt angenehmes Gefühl, jedenfalls nicht für mich. Mein Gehirn hörte einfach auf, eine Auswahl zu treffen, und winkte alles durch. Damit einher ging eine vorübergehende Unfähigkeit, mit meiner Umwelt in Kontakt zu treten: Die Reizüberflutung machte das schlicht unmöglich. Minutenlang brachte ich keinen Ton heraus und saß einfach nur wie betrunken da.
Jahrelang sprach ich mit niemandem darüber. Ich dachte, so sei ich nun mal, und außerdem hätte ich gar nicht gewusst, was ich hätte sagen sollen. Mir fehlten die Worte, um dieses Phänomen zu beschreiben.
Eines Tages passierte es mir bei einem Schulfreund zu Hause. Ernesto war der Sohn eines Carabinieri-Offiziers und wohnte in einer riesigen Dienstwohnung. Wir waren im Esszimmer, hatten Karamellbonbons gegessen und spielten Subbuteo – keine Ahnung, warum ich mich an dieses Detail erinnere.
Seine Mutter saß im Sessel, ich glaube, sie strickte.
Ich wollte gerade angreifen und aus einer vielversprechenden Position aufs Tor schießen, doch ich tat es nicht. Mit ungeahnter Heftigkeit brach eine gigantische Kakofonie wie ein geröllgesättigter Sturzbach über mich herein. Ihre Wucht war so groß, dass ich für einen kurzen Moment das Bewusstsein verlor.
Ich wachte in dem Sessel wieder auf, in dem zuvor Ernestos Mutter gesessen hatte. Sie beugte sich über mich, streichelte mein Gesicht und redete besorgt auf mich ein.
„Antonio, Antonio, wie geht es dir?"
„Gut", erwiderte ich zögerlich.
„Was war mit dir los?"
„Was war denn mit mir los?"
„Du hast keinen Ton gesagt, als würdest du nichts mitbekommen. Dann bist du ohnmächtig geworden."
Die Geräusche waren verschwunden, doch ich war noch ganz benommen und brachte kein Wort heraus. Also rief Ernestos Mutter meine Mutter an und erzählte ihr, was vorgefallen war. Als ich wieder zu Hause war, wurde ich einer erneuten Befragung unterzogen.
„Was war mit dir los, Antonio?"
„Ich weiß nicht. Also eigentlich nichts."
„Ernestos Mutter sagt, sie hätten mit dir geredet und du hättest nicht geantwortet, als wärst du weggetreten oder eingeschlafen."
„Das passiert mir manchmal …"
„Wie, das passiert dir manchmal?"
Ich versuchte zu beschreiben, was von Zeit zu Zeit mit mir vor sich ging und an diesem Nachmittag besonders heftig aufgetreten war.
Das Gefühl, dass jemand in meiner Brust Trommel spielte. Mein Atem, den ich so überdeutlich wahrnahm, dass ich glaubte, wenn ich nur einen Moment nicht aufpasste und aufhörte, ans Atmen zu denken, müsste ich ersticken.
Die banalsten Geräusche, die in wirres Getöse umschlugen.
Und dann war da noch etwas, das mir recht häufig passierte: der Eindruck, den gerade gelebten Moment schon einmal erlebt zu haben. Bald darauf erklärte man mir, das nenne sich Déjà-vu und sei relativ normal. Doch damals wusste ich das noch nicht, und manchmal war mir, als lebte ich in einer Geisterwelt.
Meine Mutter rief meinen Vater an, und eine halbe Stunde später war er da. Offenbar war die Sache ernst, vielleicht hatte ich die Symptome unterschätzt. Meine Eltern hatten sich getrennt, als ich neun Jahre alt war, und seitdem hatte Papa Mamas Wohnung – die bis dahin auch seine gewesen war – nur noch sporadisch und niemals abends betreten. Wenn ich zu ihm ging, holte er mich ab, und ich lief die Treppe hinunter, stieg ins Auto und wir fuhren los.
Er stellte mir die gleichen Fragen, auf die ich ihm vermutlich die gleichen Antworten gab. Daraufhin riefen sie unseren Hausarzt Doktor Placidi an. Er war ein netter älterer Herr mit einem großen weißen Schnauzer, geplatzten Äderchen auf der Nase und einem süßlichen Atem, dessen Ursprung mir erst viele Jahre später klar werden sollte. Wer weiß, ob meine Eltern sich der Tatsache bewusst waren, dass unser geschätzter Doktor dem Alkohol nicht abhold war.
Er kam, untersuchte mich und stellte mir eine Menge Fragen. Ob ich Krämpfe hätte? Er erklärte mir, was das sei, und ich sagte, nein, so etwas hätte ich nie gehabt. Ob ich bunte Halluzinationen und totale Blackouts hätte? Nein, auch das nicht.
Da waren nur diese übersteigerten Sinneswahrnehmungen, während derer ich jedoch vollkommen gegenwärtig blieb und – wenn auch mit Mühe – wusste, wo ich war.
An jenem Nachmittag bei Ernesto war die Sache zwar besonders heftig ausgefallen, doch im Grunde fühlte es sich genauso an, wie wenn ich in der Schule abdriftete, den Lehrern nicht mehr zuhörte und mich in meinen Tagträumen verlor.
„Bist du in der Schule manchmal abgelenkt?", fragte der Arzt.
„Hin und wieder."
„Als würdest du nicht mitbekommen, was die Lehrer sagen?"
Ich blickte verstohlen zu meiner Mutter und zu meinem Vater hinüber. Ich war mir unsicher, ob ich sie in diese Dinge einweihen musste, beschloss dann aber, aufrichtig zu sein, und nickte. Der Arzt lächelte zustimmend, als hätte ich die richtige Antwort gegeben. Sein Atem roch ein wenig stärker als sonst.
Er ließ mich ein paar seltsame Übungen machen. Ich musste auf einem Bein balancieren; die Augen schließen und meine Nasenspitze berühren, zuerst mit dem rechten, dann mit dem linken Zeigefinger; seinen Daumen in die Hand nehmen und kräftig zudrücken.
„Nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste, sagte er schließlich zu meinem Vater. „Eine ganz normale neurovegetative Störung, gerade bei besonders sensiblen Kindern kommt das mitunter vor. In der Jugend verwächst sich das.
Dann wandte er sich an mich und sagte: „Dein Gehirn hat eine hohe elektrische Aktivität, das ist ein Zeichen für Intelligenz."
Mal ehrlich: Die Diagnose war ziemlich schwammig. Neurovegetative Störung heißt alles und nichts. Als würde man mit Kopfschmerzen zum Arzt gehen und nach der Untersuchung zu hören bekommen, dass man Kopfschmerzen hat.
Doch weil Doktor Placidi ein beruhigendes Auftreten und – von seinem Atem abgesehen – eine beruhigende Art zu sprechen hatte, beruhigten sich meine Eltern. Das Leben ging weiter wie bisher und der nachmittägliche Zwischenfall war schon bald vergessen.
2.
Die Jahre vergingen relativ normal.
Trotz der recht vagen Diagnose erwies sich die Voraussage des Arztes als zutreffend.
Inzwischen trat das Phänomen höchstens einmal im Monat auf und die Symptome wurden allmählich schwächer und diffuser. Das Einzige, was mich weiterhin beunruhigte, war dieses Déjà-vu mit seiner leicht übernatürlichen Aura.
Doch es waren nur winzige Augenblicke, und so legte ich die ganze Sache ad acta, wie wenn man die Schränke und Regale seines Kinderzimmers ausmistet und die großkarierten Hefte, die ersten Schulbücher, die Grundschulkittel mit der Schleife, die Schachteln voller Spielzeugsoldaten, Plastiktierchen und Matchboxautos für immer einmottet.
Ich besuchte die neunte Klasse und war eben von der Schule nach Hause gekommen. Auch meine Mutter war gerade von der Uni zurück; sie machte Mittagessen oder war am Telefon. Ich weiß es nicht mehr.
Ich saß in meinem Zimmer im Schaukelstuhl und las ein Tex-Heftchen.
Plötzlich fingen die Fenster an zu vibrieren – wohl wegen des Windes – und das Geräusch war so laut, dass ich unwillkürlich an ein Erdbeben dachte. Vorsichtig stand ich auf und wurde von einer Geräuschlawine überrollt: der Fernseher im Nebenzimmer, ein Moped auf der Straße, das flatternde Herz in meiner Brust, mein röchelnder Atem wie in manchen Unterwasser-Dokus oder Thrillern; sogar meine wenigen wackeligen Schritte über den Fußboden.
Ich hatte eine himmelblaue Tagesdecke. Plötzlich nahm ihre zarte, beruhigende Farbe etwas geradezu Bedrohliches an, sie wurde lebendig, sprang wie eine psychedelische Wesenheit auf mich zu und durchdrang mich mit transzendenter Wucht. Gleich darauf ging von der Bettdecke ein Lichtbündel aus, eine Art Regenbogen, hellblau, dunkelblau, gelb und noch andere Farben, wurde grellweiß und verwandelte sich in leuchtende Streifen, die sich kreuzten, vereinten, teilten, vermehrten und nach und nach mein gesamtes Gesichtsfeld einnahmen.
Der Lärm wurde ohrenbetäubend. Ich presste mir die Hände auf die Ohren und versuchte um Hilfe zu rufen. Ich weiß nicht, ob es mir gelang: Es ist das Letzte, an das ich mich erinnere.
Viele Jahre später erzählte mir meine Mutter, sie habe mich von Krämpfen geschüttelt, mit verdrehten Augen und bewusstlos auf dem Fußboden gefunden.
In meinem persönlichen Film ist die Szene nach der Aufblende ein POV-Shot von einem Krankenhausbett: ein Zimmer mit dosenmilchfarbenen Möbeln.
Da waren Leute um mich herum, doch niemand sah mich an. Da waren meine Mutter, mein Vater und Männer in weißen Kitteln. Sie unterhielten sich leise. Dann bemerkte jemand, dass ich aufgewacht war.
Meine Eltern traten zu mir.
„Antonio, wie fühlst du dich?", fragte meine Mutter, nahm meine Hand und streichelte mir über die Stirn. Eine ungewohnte Geste, die mich aus irgendeinem Grund zum Weinen brachte.
„Was ist passiert?", fragte ich nach langen Sekunden.
„Du … du hattest einen Schwächeanfall, einen heftigen Schwindel …" Sie klang seltsam. Sonst redete sie immer geradeheraus und in ganzen Sätzen, als würde sie aus einem guten Drehbuch ablesen. Diesmal nicht.
„Du hattest einen Schwächeanfall, bestätigte mein Vater, „aber du musst dir keine Sorgen machen, jetzt sind wir im Krankenhaus. Sobald die Ärzte mit ihren Untersuchungen fertig sind, bringen wir dich wieder nach Hause.
Selbst in meinem benommenen Zustand – das lag am Valium – war mir sonnenklar, dass die beschwichtigenden Worte und der Gesichtsausdruck meines Vaters nicht zusammenpassten. Er sah aus wie ein kleiner Junge, dem man soeben eröffnet hatte, wie lebensgefährlich es tatsächlich in der Welt zuging.
Einer der Weißkittel trat neben ihn. Er hatte dunkle Haut, einen schwarzen Bartschatten, der ihm bis über die Wangenknochen reichte, und eine niedrige Stirn. Er fragte mich, wie es mir gehe, was ich gefühlt hätte, ehe ich das Bewusstsein verlor, und noch andere Dinge, die ich nicht recht verstand.
Ich war schläfrig, als hätte ich nur kurz die Augen aufgeschlagen, um gleich wieder wegzunicken.
Auch die Erinnerung an das, was in den darauffolgenden Tagen geschah, ist ziemlich diffus.
Jedenfalls lief es nicht so, wie mein Vater versprochen hatte. Ich kam nicht sofort wieder nach Hause und musste noch über