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Groll
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eBook268 Seiten3 Stunden

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Über dieses E-Book

Carofiglio, der Meister feinster psychologischer Nuancen, entwickelt eine Geschichte von Schuld und einem tiefen, menschlichen Groll.

Ein einflussreicher Mailänder Chirurg und Universitätsprofessor stirbt unerwartet an einem Herzinfarkt, der Arzt bescheinigt den natürlichen Tod, die Leiche wird eingeäschert. Doch die Tochter geht von einem Verbrechen aus und wendet sich an Penelope Spada. Die ehemalige erfolgreiche Staatsanwältin und Stabhochspringerin hat unter rätselhaften Umständen ihre Karriere abrupt beendet. Von nagenden Schuldgefühlen geplagt, betäubt sie seitdem den Schmerz mit Alkohol und Zigaretten, treibt exzessiv Sport und schlägt sich mit privaten Ermittlungen durch. Widerwillig übernimmt sie den schier aussichtslosen Fall, der zur dramatischen Abrechnung mit der eigenen Vergangenheit wird. Sie muss sich ihren Dämonen stellen.

The Italian Grisham – ein Meister des "legal thriller"

"Was wollen die Opfer eines Verbrechens? Die Bestrafung der Täter? Natürlich, auch das. Aber was die Opfer wirklich wollen, ist die Wahrheit."
(Gianrico Carofiglio)
SpracheDeutsch
HerausgeberFolio Verlag
Erscheinungsdatum12. Sept. 2023
ISBN9783990371497
Groll
Autor

Gianrico Carofiglio

Gianrico Carofiglio, geboren 1961 in Bari, arbeitete jahrelang als Richter, Senator und Anti-Mafia- Staatsanwalt und beschäftigte sich schon früh intensiv mit Verhörtechniken und Aussagepsychologie. Ihn faszinieren die Tiefen der menschlichen Seele, die Ursachen einer Straftat, die Kluft zwischen Wahrheit, Recht und Gerechtigkeit, der Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Nebenbei besitzt er den schwarzen Gürtel im Karate und kritisiert die westliche Kultur des Narzissmus. Seine Bücher, inzwischen millionenfach verkauft, sind in 28 Sprachen übersetzt.

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    Buchvorschau

    Groll - Gianrico Carofiglio

    1.

    Er kam immer samstags oder sonntags in den Park. Bei den Sportgeräten, an denen ich normalerweise trainiere, setzte er sich in gebührendem Abstand auf eine Bank, holte ein Buch und ein Schreibheft aus seinem kleinen Rucksack, begann zu lesen und machte sich hin und wieder Notizen. Auch an kalten Tagen. Manchmal hob er den Kopf und schaute sich neugierig um, als hätte er gerade erst bemerkt, wo er war.

    Eines Tages waren wir uns über den Weg gelaufen und er blieb stehen, um Olivia zu streicheln. Olivia ist ein Bullterrier; sie ist nicht aggressiv – solang man ihr oder ihrer Freundin Penelope nicht dumm kommt –, aber Fremden gegenüber nicht sonderlich aufgeschlossen. Man darf sie streicheln und sie lässt es geschehen, wenn auch mit ostentativer Gleichgültigkeit. Ich weiß, solche Deutungsmuster gelten für Menschen (und längst nicht für alle), doch ich mag die Vorstellung, dass Olivia paternalistisches, gönnerhaftes Getue ebenso wenig ausstehen kann wie ich und entsprechende Leute lieber nicht an sich heranlässt.

    Jedenfalls sagte der Typ Guten Tag, und ohne zu fragen, ob es gefährlich sei, bückte er sich, um sie zu streicheln. Er legte die Hand auf ihren Hals und fuhr ihr mit Daumen und Mittelfinger über die Lefzenwinkel. Olivia war sichtlich hingerissen, genüsslich reckte sie die Kehle und wedelte, offenbar selbst überrascht über das, was geschah, heftig mit dem Schwanz.

    „Verraten Sie mir ihren Namen?"

    Fast hätte ich geantwortet: Penelope. Natürlich meinte er den Hund.

    „Olivia."

    „Schöner Name. Wunderschöner Hund. Gutes Training noch", sagte er und ging davon.

    Seitdem grüßten wir einander, wenngleich auf Entfernung.

    So auch an jenem Morgen, einem Sonntag: Er saß mit seinem Buch auf der Bank, ich absolvierte wie üblich verbissen mein Training.

    Es waren vielleicht zehn Minuten vergangen, als hinter mir plötzlich verzweifeltes Rufen, wütendes Knurren und Jaulen losbrach. Ich drehte mich um und sah ein Knäuel balgender Hunde, ein schwarzer oben, ein weißer unten; daneben stand eine hilflos zeternde Frau.

    Alles ging sehr schnell, zu schnell, um es zu beschreiben. Ich sprang vom Barren, sagte zu der an einem Baum angeleinten Olivia, ich sei gleich zurück, und lief, ohne recht zu wissen, was zu tun wäre, zu der Rauferei. Suchend blickte ich mich nach einem Stock oder irgendeinem Gegenstand um, der mir nützlich sein könnte. Plötzlich trabte der Mann von der Bank an mir vorbei, packte den schwarzen Hund bei den Hinterbeinen, riss ihn hoch und schleuderte ihn ein paar Meter weit fort. Das Riesenbiest – offenbar ein Cane Corso – überkugelte sich mehrmals, rappelte sich wieder hoch und stand wie belämmert da. Der Mann ging gefährlich nah auf ihn zu und redete leise auf ihn ein, während der weiße Hund – ein Dalmatiner – Reißaus nahm, gefolgt von seiner aufgelösten Halterin. Kurz darauf trat ein Herr um die sechzig ins Blickfeld und eilte mit einer Leine in der Hand leicht hinkend auf uns zu. Der Molosser stand noch immer da wie hypnotisiert. Als sein Halter endlich bei uns war und sich unverbindlich nach allen Seiten entschuldigt hatte, ließ er sich widerstandslos anleinen und fortziehen. Es erschien unvorstellbar, dass dasselbe Tier noch vor wenigen Augenblicken fast einen Dalmatiner zerfleischt hätte. Kaum waren die Hunde nebst Halter verschwunden, war alles auf geradezu gespenstische Weise genau wie zuvor.

    „So etwas habe ich noch nie gesehen", sagte ich.

    „Um raufende Hunde zu trennen, erwiderte er, „gibt es nur zwei wirksame und einigermaßen ungefährliche Methoden. Ein Eimer Wasser oder das, was ich gerade gemacht habe.

    „Das nennen Sie einigermaßen ungefährlich? Was, wenn man gebissen wird?"

    „Wenn man weiß, wie es geht, und entschlossen handelt, ist das relativ unwahrscheinlich. Packt man einen Hund bei den Hinterläufen, kann er nicht beißen, und normalerweise ist ihm danach sowieso die Lust vergangen. Zumindest fürs Erste. Bei abgerichteten Kampfhunden sieht die Sache natürlich anders aus."

    „Zum Glück war dieser Koloss keiner."

    „Ja, zum Glück."

    „Es sah aus, als würden Sie ihm etwas zuflüstern."

    „Um ihn zu beruhigen und dem anderen Hund nebst Frauchen Zeit zum Verschwinden zu geben. Was man sagt, ist egal, es kommt auf den Tonfall an."

    Er sah gar nicht aus wie ein Rambo. Brille, mittelgroß, normale Statur, fast ein bisschen hager. Eher Typ Langstreckenläufer als Kugelstoßer.

    „Mit Hunden können Sie umgehen. Was für ein bescheuerter Satz, dachte ich sofort. „Und übrigens gebe ich manchmal auch intelligenteres Zeug von mir.

    „Ich mag Hunde. Früher hatte ich Spaß daran, sie abzurichten, jetzt fehlt mir die Zeit. Meiner ist vor ein paar Monaten gestorben."

    „Das tut mir leid."

    „Ich habe immer dazu geraten, sich sofort einen Welpen anzuschaffen, sobald der heiß geliebte Hund stirbt. Das ist das Vernünftigste: Dann bleibt man im Lot und fängt nicht an, das Tier zum Menschen zu verklären. Aber obwohl es das Vernünftigste ist, habe ich mich nicht daran gehalten. Ich habe den gleichen Fehler wie alle anderen gemacht und gedacht, ein neuer Welpe wäre Verrat an Buck. Schön blöd, oder?"

    „Buck, wie der Hund in Ruf der Wildnis?"

    „Genau. Nicht schlecht, an das Buch erinnert sich so gut wie niemand mehr."

    „Was war er für ein Hund?"

    „Eine Mischung aus Berner Sennenhund – also die Rasse von Buck aus dem Roman – und einem Belgischen Schäferhund. Er sah ein bisschen beängstigend aus, war aber wahnsinnig lieb."

    So standen wir ein paar Sekunden lang da. Ich war kurz davor, mich zu erkundigen, was er las, doch angesichts seiner Hundetrauer erschien mir die Frage taktlos.

    In dem Moment ließ Olivia, die geduldig gewartet hatte, ein einzelnes, berechtigt frustriertes Protestkläffen hören. Sie ist nicht besonders gesprächig: Wenn sie sich bemerkbar macht, gibt es dafür meistens einen triftigen Grund.

    „Sie ruft nach Ihnen, zu Recht. Also, wir sehen uns die Tage", sagte er.

    „Wir sehen uns", antwortete ich.

    2.

    Wenn ich meine Mandanten (sie so zu nennen fällt mir noch immer schwer) in Diegos Bar treffe, komme ich etwas früher, um noch ein bisschen mit ihm zu plaudern, wenn er nicht zu beschäftigt ist. Das erinnert mich an die Zeit, als ich noch eine richtige Arbeit hatte. Eine halbe Stunde vor jedem Termin – Verhandlung, Ermittlungsverfahren, Anwaltstreffen – traf ich in der Staatsanwaltschaft ein und wechselte ein paar Worte mit meinen Mitarbeitern. Das ist eines der Dinge, die ich vermisse.

    „Ciao, Diego."

    „Ciao, Penny, hast dich schon ein Weilchen nicht mehr blicken lassen. Alles gut?"

    „Alles gut wäre übertrieben. Bei dir?"

    Er zog eine Miene, die ich an ihm nicht kannte und nicht zu deuten vermochte, und sah mich an, als wollte er etwas sagen, fände aber die Worte nicht. Dann fragte er: „Brauchst du das Büro?"

    Ich nickte.

    „Ist etwas nicht in Ordnung?"

    Am Tresen standen nur zwei Gäste. Diego sagte zu seiner jungen kolumbianischen Angestellten Maria, er würde draußen eine rauchen gehen.

    „Was ist los?", fragte ich, als wir beide mit einer brennenden Zigarette vor der Tür standen. Es war kalt, der Himmel war grau und schwer, bald würde es regnen.

    „Gestern waren wir wegen der Scheidung beim Richter."

    „Ah, verstehe. Der Moment ist gekommen."

    Er zog die Nase hoch. Blickte mich verzagt und niedergeschlagen an. Seine Augen waren feucht. Wenn jemand weint oder kurz davor ist, macht mich das befangen. Ich fühle mich verantwortlich, auch wenn ich nichts dafürkann, und ich mag es nicht, mich verantwortlich zu fühlen. Ich versetzte ihm einen linkischen Klaps auf die Schulter.

    „Komm schon, das war doch eine gemeinsame Entscheidung."

    „Ich habe dir den Grund nie erzählt."

    „Nein, stimmt."

    „Ich bin schwul."

    Ich schwieg. Rauchte.

    „Sag nicht, du wusstest es."

    „Na schön, ich sag’s nicht."

    „Wie bist du draufgekommen? Wann?", fragte er mich halb verblüfft, halb erleichtert.

    Ich war kurz davor zu antworten: Weil du mich nie angebaggert hast. Doch wäre das in mehrfacher Hinsicht daneben gewesen.

    „Ich habe mir darüber keine besonderen Gedanken gemacht. Ich habe nur gedacht, du könntest schwul sein. Vielleicht wegen der Art, wie du mich umsorgst, wegen deiner Freundlichkeit, deiner Aufmerksamkeit für gewisse Kleinigkeiten. Bei heterosexuellen Männern findet man das nicht oft. Ich weiß, das ist ein Klischee, aber ich kann es nicht besser auf den Punkt bringen. Keine Ahnung, wann mir das zum ersten Mal durch den Kopf ging, aber jetzt, wo du es sagst, überrascht es mich nicht."

    „Findest du es schräg?"

    „Dass du homosexuell bist oder dass du dich von deiner Frau getrennt hast?"

    „Beides."

    „Dass du homosexuell bist, finde ich kein bisschen schräg. Dass du dich getrennt hast, schon. Ich weiß, das klingt widersprüchlich."

    Er drückte die Zigarette im Aschenbecher neben der Bartür aus.

    „Du bist der erste Mensch, dem ich es sage. Danke."

    „Danke wofür?"

    „Keine Ahnung. Ich will einfach Danke sagen. Dass du da bist, vielleicht. Dass du es bemerkt hast, dass du hier bist und mit mir redest."

    „Wann ist es dir klar geworden? Dass du homosexuell bist, meine ich."

    „Ich weiß es nicht genau. Jedenfalls reichlich spät. Ich habe sogar ein Kind gezeugt. Rückblickend betrachtet, war es eigentlich schon immer klar. Aber offenbar sträubte ich mich dagegen und hatte nicht den Mumm, es mir einzugestehen."

    „Das ist oft so. Wir lügen uns in die Tasche, weil uns die Wahrheit samt allen Konsequenzen unerträglich erscheint. Dabei ist sie es fast nie."

    „Was denn?"

    „Unerträglich. Wie kam es zu eurem Entschluss, euch zu trennen? Ist was vorgefallen oder hast du die Initiative ergriffen, um reinen Tisch zu machen?"

    Ein tieftrauriges Lächeln erschien auf Diegos Gesicht.

    „Ich wäre nie in der Lage gewesen, die Initiative zu ergreifen. Loredana ist dahintergekommen, dass ich eine Affäre hatte. Wenig später fand sie heraus, dass es ein Mann war. Daraufhin hat sie mich rausgeschmissen."

    „Bestimmt ist sie stinkwütend."

    „Sie tobt vor Wut. Wer weiß, ob sie genauso sauer wäre, wenn ich sie mit einer Frau betrogen hätte."

    „Natürlich wäre sie sauer geworden, aber diese Situation ist schon etwas anderes. Sie stellt die Weiblichkeit einer Frau infrage, ihre Selbstwahrnehmung. Das ist bestimmt hart, sie hat jedes Recht, wütend zu sein."

    „Es tut mir entsetzlich leid, ihr so wehgetan zu haben. Ich liebe sie genauso sehr wie vorher, sogar noch mehr. Aber sie hasst mich, und bestimmt wird sie mich für immer hassen."

    Er zog die Nase hoch.

    „Sie sagt, sie wird bei der Sacra Rota gegen mich klagen. Allerdings verstehe ich den Unterschied zu einer normalen Scheidung nicht …"

    „Juristische Feinheiten. Mit der Entscheidung der Sacra Rota wird die Ehe vollständig annulliert. Puff, als hätte es sie nie gegeben. Sie wird sich darauf berufen, dass du von Anfang an einen geheimen Vorbehalt hegtest und nicht wirklich die Absicht hattest, das Eheversprechen einzuhalten."

    „Ja, das sagte sie. Weißt du, Penny, ich habe Angst, dass sie unseren Sohn benutzt, um mich dafür bluten zu lassen."

    „Das ist nicht ausgeschlossen. Wie kommen eure Anwälte miteinander klar?"

    „Gut, glaube ich. Die sind entspannt."

    „Dann sag deinem Anwalt, er soll seinem Kollegen gemeinsame Treffen mit einem Psychologen vorschlagen, im Interesse des Kindes. Sollten eure beiden Anwälte es tatsächlich gut meinen, werden sie sich vielleicht einig. Das könnte ihr zumindest helfen, ihre Wut in den Griff zu kriegen."

    „Das mache ich."

    Einen Moment lang starrte er gedankenverloren auf die Straße, dann seufzte er. „Weißt du, wovor ich mich am meisten fürchte?"

    „Davor, es deinem Sohn zu sagen?"

    „Genau."

    „Das kriegst du schon hin. Manchmal ist es viel schwieriger, sich etwas vorzustellen, als es tatsächlich zu tun."

    Ich war – bin – von dieser Behauptung nicht restlos überzeugt. Manche Dinge zu tun ist mindestens genauso schwierig. Doch wäre das zu viel der Ehrlichkeit gewesen; zumindest in diesem Moment.

    „Zum Glück bist du vorbeigekommen. Ich wollte schon seit Tagen mit dir reden."

    „Ich bin nie da, wenn man mich braucht. Das musste ich mir schon verdammt oft anhören. Sei’s drum: Wieso hast du mich nicht angerufen?"

    „Ich habe immer wieder daran gedacht, aber ich wusste nicht, was ich sagen oder wo ich anfangen sollte."

    „Der Typ, mit dem du die aufgeflogene Affäre hattest … seid ihr noch zusammen?"

    „Nein. Als der ganze Ärger losging, hat er sich dünngemacht."

    „Na schön. Wenn dir das nächste Mal nach Reden ist, ruf mich an. Auch spätabends. Nur nicht in aller Herrgottsfrühe, sofern dir an unserer Freundschaft was liegt. Ich gehe wieder rein, gleich kommt eine Frau, die mich sprechen will."

    Diegos hinterer Gastraum ist praktisch mein Büro. Dorthin verirrt sich so gut wie nie jemand, selbst die Stammkunden wissen kaum, dass es ihn gibt. Wenn ich ihn brauche, schließt Diego die Tür, und bei Bedarf kann ich das Hoffenster öffnen und rauchen.

    Die Frau kam zwei oder drei Minuten zu spät. Wir hatten uns um vier Uhr verabredet. Die friedlichste Stunde in den Mailänder Bars und in Bars überhaupt. Wenn man das Bedürfnis hat, allein etwas zu trinken, ohne angequatscht oder schief angeguckt zu werden, ist die Nachmittagsstunde zwischen vier und fünf die beste Zeit.

    Zur Pünktlichkeit habe ich meine eigene Theorie. Stets auf die Sekunde pünktlich zu sein ist leicht zwanghaft; stets zu früh dran zu sein ist ein Zeichen von Unrast; stets zu spät zu kommen ist manipulative Ichbezogenheit. Ein paar Minuten zu spät zu kommen ist bedeutungslos. Oder lässt zumindest scheinbar auf einen ausgeglichenen Menschen schließen. Mit zwei Minuten Verspätung ist man pünktlich, aber nicht zwanghaft. Verliert man sich allerdings gedanklich, mündlich oder schriftlich in solcherlei Überlegungen, ist man garantiert zwangsgestört.

    Sie klopfte, schaute zur Tür herein, und ich forderte sie zum Eintreten auf. Sie sah unscheinbar aus. Manche Leute hätten sie sicherlich hübsch genannt, doch in ihrem Blick lag etwas Verdrossenes, das mich, wäre ich ein Mann oder eine Frau gewesen, die auf Frauen steht, davon abgehalten hätte, sie attraktiv zu finden. Aber woher will ich schon wissen, auf wen ich stünde, wenn ich eine Frau wäre, die auf Frauen steht? Oder gar ein Mann? Mein Leben lang ziehe ich aus wackeligen Annahmen hypothetische Schlüsse. Nicht nur bei belanglosen Themen.

    Sie trug eine teure Daunenjacke, Jeans, Rollkragenpullover. Der einzige exzentrische Touch war eine himmelblau gefärbte Haarsträhne. Ihr Händedruck war fest, aber ohne jede Wärme.

    „Ich bin Marina Leonardi."

    „Wer hat Ihnen geraten, mich aufzusuchen?"

    „Mein Anwalt, allerdings kennt er Sie nicht persönlich. Ein von ihm geschätzter Strafrechtskollege nannte ihm Ihren Namen. Er sagte, bei einer wirklich heiklen Angelegenheit würde er sich an Sie wenden, Sie hätten einen scheußlichen Fall mit einem kleinen Mädchen aufgeklärt, das in einen Kinderpornoring geraten war. Und Sie würden nicht lockerlassen, hätten Sie sich einmal festgebissen."

    Ich machte eine abfällige Handbewegung und fragte nicht nach, wer der Strafrechtler war. Ich war mir nicht sicher, ob ich es wissen wollte, sowieso machte mich nur die Eitelkeit neugierig. Mich in der Bewunderung eines ehemaligen Gegners aus meiner Zeit als Staatsanwältin zu sonnen war keine gute Idee. Der Genugtuung wäre unweigerlich Beklommenheit darüber gefolgt, wie ich alles vor die Wand gefahren hatte.

    „Worum geht es?"

    „Vor knapp zwei Jahren ist mein Vater gestorben. Ich war im Ausland; ich lebe schon seit einer ganzen Weile nicht mehr in Italien."

    Ich hob leicht den Kopf. Fast hätte ich sie gefragt, woran ihr Vater gestorben sei und wo, und aus welchem Grund sie im Ausland lebe. Aber ich hielt mich zurück, so gehört es sich nun einmal, wenn jemand eine Geschichte erzählt. Eine ebenso selbstverständliche wie selbst von erfahrenen Ermittlern ständig missachtete Regel: Man muss den Zeugen ausreden lassen und darf ihn nicht unterbrechen, bis er alles in seinen eigenen Worten dargelegt hat. Aus einem ganz praktischen und gern vergessenen Grund: Wenn der Leiter, ganz gleich welcher Art von Ermittlung (privat, gerichtlich oder gar – und vielleicht vor allem – psychologisch), sofort nachhakt, Einzelheiten wissen will, Fragen stellt, die von den Tatsachen wegführen, schadet er der Sache, so unlogisch das auch klingen mag. Statt die unverfälschte Version eines Ereignisses darzulegen, wird der Zeuge darauf „gepolt", sich nur an das zu erinnern, was den Ermittler interessiert. So gehen wichtige Informationen unwiederbringlich verloren. Wir neigen nun einmal dazu, eine auf bestimmte Weise erzählte Geschichte immer gleich zu wiederholen, statt uns bewusst zu machen, wie sie wirklich passiert ist. Viel besser ist es also, den anderen reden zu lassen und seine Ausführungen und unsere Konzentration nicht zu unterbrechen. Hinterher bleibt noch genug Zeit, um Einzelheiten zu klären und Vermutungen anzustellen. Das Problem ist, dass wir uns schwertun, aktiv zuzuhören und das Gehörte unkommentiert auf uns wirken zu lassen. Das hat wohl mit Unsicherheit und mit unserem Ego zu tun. Mehr als die Version unseres Gegenübers interessieren uns die Antworten auf unsere Fragen. Deshalb sind selbst erfahrene Ermittler gegen diesen Fehler nicht gefeit. Ich gehöre natürlich auch zu denen, die diese Regel kennen und zuweilen missachten.

    Richtig, ich bin abgeschweift.

    Jedenfalls beschränkte ich mich auf ein Nicken, und Marina fuhr fort.

    „Es ist gar nicht so leicht, die Dinge der Reihe nach zu erzählen. Eines Morgens kam die Haushälterin in die Wohnung und fand meinen Vater tot im Bett. Er war angezogen. Ohne Schuhe, aber ansonsten angezogen."

    „Lebte er allein?"

    „Genau das ist der Punkt. Nach der Scheidung von meiner Mutter heiratete mein Vater eine sehr viel jüngere Frau; sie ist sogar zwei Jahre jünger als ich. Die Beziehung mit meiner Mutter war nicht zuletzt wegen seiner ständigen Seitensprünge in die Brüche gegangen: Er war ein notorischer Fremdgänger."

    „Und wo war seine Frau, als Ihr Vater starb?"

    „Nicht in Mailand."

    Ich ließ den Satz so stehen. Ihre Art zu reden hatte etwas Seltsames, wie schwankend zwischen einer zurechtgelegten Geschichte und einer Dringlichkeit und Erregung, die ihren Erzählfaden durcheinanderbrachte. Welches Gefühl sich hinter dieser Erregung verbarg, war nicht ganz klar: Zweifellos steckte Wut darin, eine Prise Verachtung, vielleicht sogar Hass. Fragte sich nur, gegen wen.

    „Am Morgen vor seiner Auffindung", fuhr sie fort, „war

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