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Ultimo: Mein Tod gehört mir
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eBook238 Seiten3 Stunden

Ultimo: Mein Tod gehört mir

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Über dieses E-Book

Mit ULTIMO – Mein Tod gehört mir gelingt Maxi Hill das so bedrückende Sujet Sterbehilfe unterhaltsam zu verpacken.
Zwei parallel laufende Handlungsstränge bilden das Erzählkonstrukt - ein Spagat zwischen emotional tiefen Einblicken in das Thema Sterbehilfe umrankt von einer unterhaltsamen Geschichte über ein junges Paar im Beziehungs-Chaos.

Als Nora die Widmung einer Autorin in deren Buch über Sterbehilfe liest, klingt es wie ein verzweifelter Hilfeschrei. Ausgerechnet Linus, von dem sie sich vor Monaten getrennt hat, erzählt Nora davon. Linus ist sofort Feuer und Flamme, ein bisschen Detektiv zu spielen, während Nora durch seine Nähe zurück in das alte Gefühlskarussell stürzt. Je intensiver sich die beiden mit dem Erlebnisbericht der Autorin über Sterbewillige und deren Helfer beschäftigen, desto klarer werden die Machenschaften hinter dem vermeintlichen Samariterdienst. Auch die Autorin des Buches scheint nicht frei von Angst zu sein. Was aber hat sie mit dem Verschwinden eines ihrer Protagonisten zu tun? Und warum taucht auch Linus seit Tagen nicht mehr bei Nora auf?
Nora fühlt sich gezwungen, nun doch ihren Vater, den Polizeipräsidenten, einzuschalten …
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum27. Okt. 2014
ISBN9783847615088
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    Buchvorschau

    Ultimo - Maxi Hill

     Inhalt

     Als Nora die Widmung einer Buchautorin in deren Buch über Sterbehilfe liest, klingt es wie ein verzweifelter Hilfeschrei. Gemeinsam mit ihrem Ex-Freund Linus, gehen sie der Sache nach.

    In der authentischen Erzählung beschreibt die Autorin Isa-Kathrin Benson sehr eindrucksvoll, wie lebensmüde Kranke nach Sterbehilfe verlangen. Die inneren Zweifel und spürbaren Ängste der Autorin resultieren aber ganz offensichtlich aus diversen kriminellen Machenschaften am Rande der unklar geregelten Suizidhilfe in Deutschland, die das Buch offen legt und denen Linus und Nora Schritt für Schritt auf den Grund kommen.

    Was aber hat es mit dem Verschwinden eines Sterbehelfers zu tun und warum taucht auch Linus seit Tagen nicht mehr bei Nora auf?

     Deadline

    Ich bin Isa-Kathrin Benson. Für mein neues Buch bin ich weit gegangen. Im doppelten Sinn. Ich wusste vom ersten Moment an, wie es titeln sollte: »Deadline«. Aber ich wusste nicht, wohin es mich führen würde. Seit diesem Tag in der Schweiz war mir erst einmal bewusst, das Buch brauchte noch einen Untertitel, der das zu Erwartende in sich trägt. Vielleicht: Die Würde des Menschen überlebt den Tod?

    Titel wie Untertitel waren im selben Augenblick vergessen, als ich den Ort des Sterbens betrat.

    Ich hatte Durst und war froh, in meiner Tasche dieses Schächtelchen mit winzigen Pfefferminzpastillen zu wissen. Ich müsste nur vorsichtig die Lasche nach oben drücken und die kleine Schachtel senkrecht halten. Sie war kleiner als eine meiner Visitenkarten, die ich für meine Autoren-Karriere erstellen ließ, aber nur selten benutzte.

    In diesem Moment traute ich mich nicht, auch nur eine Hand zu rühren. Die Uhr in diesem Zimmer tickte seltsam klackend. Mir war dabei ebenso unbehaglich, wie auf der langen Fahrt bis hierher.

    Noch eine Stunde!

    Seit mir Dr. Arnold den Vorschlag gemacht hatte, mit ihm zu kommen, grübelte ich, ob meine Entscheidung richtig war. Genau genommen lebte ich jetzt aktiv, was ich gedanklich stets abgelehnt hatte. Dagegen halfen weder mein distanzierter Blick noch meine Worte, um deren Ausgewogenheit ich mich stets bemühte.

    Ich löste meinen Gedanken von dem Schächtelchen und schob die kalten Hände abwechselnd in die Taschen meiner Jacke. Seltsam erschöpft von Gedanken und Bildern, die ich mir zumutete, blieb der Wille, letztendlich zu verstehen. Es ging nicht.

    An diesem sonnigen Tag in einer faszinierenden Landschaft sollte ich sehen, hören und vor allem fühlen, wie es ist, wenn der Wunsch zu sterben größer ist als die Liebe zum Leben.

    Auf einmal wollte ich daran gar nicht denken. Nur mein Mann Gary kam mir in den Sinn. Mit ihm hätte ich hier sein wollen, um dieses Stück faszinierende Natur zu erleben. Gary würde zu dieser Zeit zu Hause am Schreibtisch sitzen und Klausuren prüfen oder am Computer nach interessanten Themen Ausschau halten …

    Unsere Stadt ist nicht halb so attraktiv wie diese da draußen vor der Tür - eingebettet in Schweizer Berge. Heimstatt der Reichen und Schönen. Meine Stadt hat keinen so vielfach besungenen See vor ihrer Haustür und doch ist sie mir tausendmal lieber …

    Körperlich verfolgte ich jede Minute, die der große Zeiger der klackenden Uhr auf ein ganz bestimmtes Ziel dieses Tages vorantrieb. Gedanklich rief mich alles nach Hause.

    Ich könnte derweil mit der Frau reden, dachte ich, die vom Sterbehilfe-Verein bestimmt wurde, die Aufgabe vor Ort zu lösen. Ehrenhalber. Ich wusste, dass niemand zur Zeit des Todes anwesend sein darf, der dafür entlohnt wird. So will es das Gesetzt auch in der Schweiz.

    Die Frau brachte dem Sterbekandidaten, der noch in seinem Rollstuhl saß, ein Glas mit einem Getränk. Dr. Arnold sah meine fragenden Augen und bewegte seinen Kopf, verneinend, beruhigend, ohne zu wissen was ich dachte. Es war nur ein Getränk, das dem bald folgenden die Bitternis nehmen sollte.

    Ich unterließ es, der Frau einen Wink zu geben. Dr. Arnold war offenbar gleicher Meinung. Nicht, dass wir in dem Moment darüber gesprochen hätten - wir sprachen in diesem Haus bisher kaum mehr als zehn Worte - er hatte es an meinem Blick gespürt und langsam den Kopf geschüttelt.

    Nebenan saß - ein letztes Mal um den Vater geschart - die Familie des Mannes. Seine Frau, seine Tochter und deren Mann. Und sein Sohn, der die Angelegenheit für seinen Vater geregelt hatte und der auch zustimmen musste, dass ich - bis zu einem gewissen Moment - dabei sein durfte. Dieser Moment würde mir rechtzeitig mitgeteilt, sagte er.

    Soweit ich das Geschehen hinter einer Wand aus vielen kleinen Scheiben richtig interpretierte, lag die Aufmunterung der Familie allein beim Sterbenden. Irgendeine Episode über einen wilden Keiler im heimischen Schweinestall zauberte ein Lächeln in das gequälte Gesicht des Mannes. Sogar seine überaus betrübte Frau steuerte unter Tränen bei: Was dann passierte – man schweige recht still … Bis dass die Sau dann ferkeln will. Ein jeder sah – es waren seine, die Ableger vom wilden Schweine.

    Sie lachten alle und man konnte sehen, wie jeder die Lage ausnutzte, rasch seine Augen zu trocknen. Dem Vater hatte die Krankheit jede Geschmeidigkeit aus der Stimme gezupft. Er lachte, als wäre der Humor sein letztes Lebenselixier, aber es klang brüchig, kraftlos.

    Dr. Arnold war wieder in das Zimmer gegangen, das nur eine dünne Holzwand, oberhalb mit viel Glas, von der Veranda trennte, wo ich mich nicht von meinem Platz rührte. Von der Familie sei die Anwesenheit Dr. Arnolds als langjähriger Hausarzt ausdrücklich erwünscht worden und er habe schlecht ablehnen können. Das Vertrauen wäre für immer gestört gewesen. Das hatte er mir schon auf der langen Fahrt bis hierher erzählt. Dr. Arnold sagte auch, und ich erinnere mich an diesen Satz genau: Menschen, die ihre freie Entscheidung auf einem sicheren Weg umsetzen wollen, haben oft keine andere Möglichkeit, als es in der Schweiz zu tun. Das habe nichts mit Sterbetourismus zu tun. Das läge einzig daran, was Deutschland den Menschen und vor allem den Ärzten zumute.

    Der sichere Weg war für mich das erste Argument, dem ich ohne inneren Zwiespalt folgen konnte. Wie schnell kann ein Laie mit der falschen Dosis oder dem falschen Medikament noch größeren Schaden anrichten. Vielleicht würde sein Leiden dann erst recht unerträglich werden, körperlich wie mental.

    In dieser knappen Stunde des Wartens hatte ich gelernt, dass es keine einfache Antwort auf all meine Fragen geben würde, auch wenn es mir die Familie versprochen hatte. Selbst wenn diese Menschen ihre Lösung gefunden hatten, allgemeingültig konnte sie nicht sein.

    Die Frau kam zurück ins Zimmer und fragte den Mann mit sanfter Stimme, ob sein Wille noch immer derselbe sei. Als er bejahte fragte sie, ob er noch beten möchte oder einen weiteren Wunsch noch nicht geäußert habe.

    »Nein«, sagte der Mann. Gebetet habe er sein Leben lang nicht, nur gehofft, dass er in Frieden leben und sein Dasein genau so beenden könne. Dass er nun seiner Familie einen solchen Tag nicht ersparen könne, mache ihn traurig.

    Sohn und Schwiegersohn halfen dem Vater vom Rollstuhl auf die Liege, ehe der Mann darum bat, ein paar Worte mit Dr. Arnold zu sprechen. Zu guter Letzt suchte er die Hand seiner Frau.

    Dr. Arnold hatte mir auch gesagt, dass er vor Eintritt des Todes gehen werde, um als Arzt nicht in den Verdacht aktiver Sterbehilfe zu geraten. Ich machte mich darauf gefasst, mit ihm gemeinsam das Haus zu verlassen. In den Stunden des Abschieds wollte ich nicht der fremde Dorn in der offenen Wunde dieser Menschen sein. Doch Dr. Arnold kam zurück auf die Veranda, oder was der Raum auch darstellen sollte, und blieb bei mir stehen.

    »Wir bleiben hier«, sagte er kurz und das klang, als habe er es schon vorher gewusst. »Man möchte uns als unabhängige Zeugen.«

    In diesem Moment fühlte ich mich übergangen, ausgenutzt, hinters Licht geführt. Doch ich hatte ja selbst davon gelesen, dass jeder Freitod in der Schweiz als außergewöhnlicher Todesfall gilt, über den die Polizei informiert werden muss. Die zuständige Kantons-Polizei untersucht dann zusammen mit einem Staatsanwalt die Todesumstände und die Begleiterscheinungen – aber soweit war es noch nicht.

    Im Nebenraum war bald stille Bewegung. Jeder der Anwesenden trat dicht an das Bett des Vaters heran, sprach ein paar Worte mit ihm und küsste seine Stirn, die Wange oder den Mund. Erst als die Frau vom Verein erneut den Raum betrat, gingen sie ein Stück zurück. Allein die Ehefrau blieb am Bett und hielt die Hand des Mannes, der noch keine siebzig Jahre alt war, der fest im Leben gestanden, der aktiv gelebt und intensiv geliebt hatte. So hat es Dr. Arnold versichert. Als die Frau das Glas auf das kleine Tischchen stellte, weinten alle. Nur der Mann sagte: »Macht 's kurz Kinder.« Allein konnte er das Glas nicht sicher halten. Die Frau vom Verein nickte dem Sohn zu und ging aus dem Zimmer.

    Dr. Arnold drehte unmerklich seinen Kopf nach rechts und ich sah, wie die Flüssigkeit im Glas immer weniger wurde. Meine Beine versagten mir den Dienst. Ich kannte den Mann vorher nicht und keinen seiner Familie. Ich sah mich plötzlich am Sterbebett von Gary stehen und zusehen, wie er mich trotz ewigen Treueschwurs vorzeitig allein lässt. Sogar im Wissen um seinen innigen Wunsch hätte ich bis zum Schluss gehofft, dass er den letzten Schritt nicht wirklich gehen würde.

    Die Formalitäten mit der Polizei waren nicht angenehm, aber das war ich letztlich der Familie schuldig.

    Nach der Premiere

    Ein Jahr später. Das Buch der Isa-Kathrin Benson vibriert in Noras Hand. Ihr Kopf kann dem Gefühl nicht folgen. Warum ist sie zu dieser Lesung gegangen? Warum wählt eine Autorin ein solches Thema, noch dazu mit so sperrigem Titel? »Deadline – Die Würde des Menschen überlebt den Tod.«

    Welcher normale Mensch kann wissen, wie viel kriminelle Energie, welch ausgekochte Machenschaften auf das Sterben nach Ansage projiziert werden?

    Und nun das …

    Vielleicht ist sie hypersensibel, weil die Autorin wieder einmal den Finger in eine Wunde gelegt hat, die nicht so tief, nicht so brennend und weniger schmerzvoll wahrgenommen wird als sie ist. Sterbehilfe klingt für die meisten Menschen äußerst human. Wer selbstbestimmt lebt, will auch selbstbestimmt sterben dürfen. Und wenn die eigene Kraft dafür nicht reicht holt man sich professionelle Hilfe.

    Das Für und Wider an der Sache hat die Autorin mit einem Satz zusammengefasst, und diesem Satz kann Nora beipflichten: »Eine Meinung zu haben ist nicht schwer. Eine Entscheidung zu treffen, sehr.«

    Warum steht nicht dieser Satz als Widmung im Buch? Warum schreibt sie: »Das Leben ist das größte Wagnis, auf das man sich einlässt.«

    Unter diesem Spruch jene Zeilen, die ihr erst zu Hause so schwer aufgegangen waren. Sie liest sie noch einmal Buchstaben für Buchstaben mit immer dem gleichen Ergebnis. Das Wort vor Gruß kann sie nicht entziffern, aber in ihren Augen heißt es: Letzter Gruß – Ihre Isa-Kathrin Benson. Es könnte allerdings auch lieber Gruß heißen. Selbst den letzten Gruß könnte sie als Lapsus verstehen. Unter dem starken Eindruck des Gelesenen und in Anbetracht der Wartenden, die am Ende der Lesung ihr Buch signieren lassen wollten, kann so etwas durchaus auch einer Professionellen passieren. Nicht aber das deutliche Kreuz wo das Datum hingehört. Es könnte allerdings auch eine schlecht geschriebene Sieben sein, eine dahin geklierte Vier. Vielleicht bewusst ungenau, weil es eine vorgeschriebene Widmung ist, um Zeit zu sparen. Die Frau wird ausreichend Erfahrung gemacht haben.

    Ihre Worte am Abend klangen sehr zuversichtlich. Freilich konnte damit die Erwartung einhergehen, dass es bald bessere Gesetze geben werde. Die Ruhe der Frau, mit der sie das Wesen ihres Werkes vertrat, passt jedenfalls nicht zu dieser Widmung, die den Klang des eigenen Abgesanges trägt.

    Nora hält die Luft an. Sie erinnert sich an den Blick der Frau und an die feste Stimme: »Sie sind die Tochter vom Polizeichef Klinner?«

    »Sie kennen mich?«

    »Nein. Aber Vermutungen sind der halbe Weg zur Wahrheit.«

    Das war, bevor die Frau zu schreiben anfing, und Nora kommt es jetzt vor, als schrieb die Benson länger in ihr Buch, als bei jedem der Wartenden zuvor. Also keine vorgeschriebene Widmung …?

    Die Aufgeregtheit von Nora entbehrt nicht einer gewissen Peinlichkeit, doch ihr Gefühl sagt, da steckt etwas dahinter. Ob Geheimnis oder nicht, ist nicht zu erklären.

    Als Kind träumte Nora oft von einer seltsamen Botschaft, der sie nachgehen und damit Schlimmes verhindern könnte. Und sie träumte davon, wie ihr Vater sie dafür lobte. Damals war er noch nicht der Chef vom Revier.

    Jetzt hat sie ihre Botschaft, aber sie ist kein Kind mehr – sie hat selbst ein Kind, für das sie Verantwortung zu tragen hat – nicht für eine erwachsene Buchautorin, die womöglich nur die Grenzen der Empathie ihrer Leser auszutesten versucht, um daraus ein neues Thema zu schöpfen.

    Nora blinzelt zur Uhr und dann zum Telefon. Greta will sie nicht anrufen. Immerhin war sie ohne Greta zu dieser Lesung gegangen und das würde Greta übel nehmen.

    Linus wüsste jetzt Rat. Linus wusste immer Rat. Aber Linus ist der Letzte, dem sie davon erzählen würde. Außerdem hat er heute seinen Papa-Tag, und wenn das Telefon zu dieser späten Stunde bei ihm schellt, könnte Madi wach werden. Nora widersteht jeder Versuchung. Zuerst muss sie sich selbst darüber klar werden, worin ihre Zweifel bestehen.

    Sie kam vom Dienst und fuhr mit dem Lift nach oben. Normalerweise hängt sich an Tagen, an denen Linus seine Tochter haben darf, Greta in ihr Leben. Greta ist eine gute Kollegin, aber sie wird zuverlässig panisch wenn sie hört, dass Madi bei ihrem Vater ist. Pausenlos redet sie davon, dass die Sache nicht ungefährlich ist, dass viele dieser Väter ihre Kinder in ihr Heimatland entführt haben und dass in diesen Kulturen alles eine Frage der Ehre ist.

    Linus ist nicht so. Er ist hier geboren und deshalb einer von hier. Sogar in Glaubensdingen spricht er nicht anders als sie. Es steht auch kein Koran in seinem Bücherschrank, keine Thora und was es noch an Glaubensbüchern gibt. Dass die Sache mit Linus dennoch nicht gut ausging … c´est la vie. Irgendwie lag ihre Liebe zu Linus ihrem Vater im Magen, das kann er bestreiten wie er will. Ein Polizeichef hat keine Vorurteile, hat er gesagt. Einverstanden: Vater ist kein Rassist. Wenn es aber um die eigene Haut geht, haben alle Menschen Vorbehalte, auch die Gesetzeshüter. Vielleicht ist es löblich, die eigene Tochter von all den Problemen fernzuhalten, die eine multikulturelle Ehe mit sich bringt. Vielleicht? Aber darum geht es jetzt nicht und schon lang nicht mehr.

    Sie war also aus dem Lift gestiegen. Selbst der Flur schien an diesem Nachmittag ohne ihr Kind öde und menschenleer. Es roch süßlich nach dem Zeug, mit dem die Reinigungsfirma von Zeit zu Zeit die Fußböden versiegelt. Zumeist wird sie von Madi zum Flurfenster gezogen, von dem man auf den Postplatz hinunter sehen kann, besonders an Tagen, wenn da unten der Rummel tobt. Von keinem der Wohnungsfenster des Hochhauses sieht man das Getümmel. An Rummel-Tagen bleibt Madi sogar alleine dort stehen. Ihre Augen spiegeln dann das Flimmern der Karussells und diverser Monstren, die ihre Insassen rasant durch die Luft schleudern. Lauthals quietscht die Kleine mit den gellenden Lautsprechern im Chor und ist total aufgeregt. Zum Glück hat sie noch Respekt vor derart waghalsigem Getöse, deshalb quengelt sie nicht, mitfahren zu wollen.

    Nora erinnert sich: Sie hatte am Nachmittag Zeit, aber nicht die nötige innere Ruhe. (Warum nur, wenn sie Linus nichts Böses zutraut?) Nicht einmal der erhabene Blick über die Dächer und Türme der Stadt bis zum blassblauen Horizont verlieh ihr die wohlverdiente Entspannung fernab von den täglichen Mutterpflichten. Im Gegenteil, sie dachte mal wieder: Das Kraftwerk stört im Bild. Der aufsteigende Dampf aus den Kühltürmen sorgte für eine dichte Wolkensuppe. Vom Westen her färbte ein später Sonnenstreifen die Dächer rot und das letzte Laub der Bäume im nahen Park schimmerte goldgelb.

    Vor mehr als einem Jahr war der Ausblick über die Altstadt entscheidend für ihren Entschluss, in dieses Hochhaus zu ziehen, wovon ihre Eltern gar nicht begeistert waren. Wenn sie schon auf eigenen Füßen stehen will, dann bitte in einem kleinen Häuschen mit Vorgarten in ihrer Nähe. Inzwischen weiß Nora wie klug es war, sich abzunabeln, auch wenn ihr bisweilen eine helfende Hand fehlt.

    Normalerweise herrschte zu dieser Zeit reges Treiben in der Stadt. Der Himmel versprach ausgiebigen Regen. Unten auf dem Platz entfalteten die Leute ihre bunten, grauen oder schwarzen Regenschirme. Die Menschen erkannte sie jetzt nicht mehr.

    Nora versucht sich zu erinnern, was sie dazu bewogen hatte, trotz schlechten Wetters noch einmal aus dem Hause zu gehen.

    Sie hatte den Kaffeeautomaten in Gang gesetzt, derweil sie das verstreut liegende Spielzeug von Madi zusammensuchte. Es sollte ein ruhiger Abend werden. Sie wollte lesen, einen dokumentarischen Fernsehbeitrag schauen, ein Piccolo-Sektchen trinken, ausgiebig baden und dann die Beine hochlegen, nichts weiter.

    Die Zeitung hatte sie wie immer auf den kleinen Tisch gelegt. Das Jahresabonnement war ein Geschenk ihrer Eltern - einfach so zwischendurch, wohl wissend, dass junge Leute für so viel Geld niemals eine Tageszeitung abonnieren würden.

    Sie wusste nicht genau was sie erwartet hatte, aber bis der Kaffee trinkbar sein würde, nahm sie die Zeitung zur Hand und blätterte zuerst die Regionalseiten durch, dann das Panorama. »Von der Würde des Lebens und des Sterbens« stand in großer blauer Schrift über dem Artikel einer Journalistin, die sehr interessante Beiträge schrieb. »Deadline« hieß das vorgestellte Buch der bekannten Autorin. Isa-Kathrin Benson wohnt in der Stadt, das wusste

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