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Die Schattentänzerin: Roman
Die Schattentänzerin: Roman
Die Schattentänzerin: Roman
eBook430 Seiten6 Stunden

Die Schattentänzerin: Roman

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Über dieses E-Book

Eine ehrgeizige Anwältin erhält Drohbriefe. Ein Pharmakologe fürchtet Anschläge von Tierversuchsgegnern. Ein Partygirl findet es cool, sich mit Bodyguard in die Berliner Clubszene zu stürzen. Eine Alleinerbin misstraut der lieben Verwandtschaft ... Sie alle engagieren Alex, die Personenschützerin. Nicht immer besteht echte Gefahr, doch Alex muss stets hellwach sein muss die Situation jederzeit unter Kontrolle haben.
Auch in ihrem Privatleben hat Alex alles im Griff. Hin und wieder hat sie eine Affäre - eine feste Beziehung will sie nicht. Bis sie sich in Barbara verliebt, die allerdings in festen Händen ist ...
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum17. Okt. 2013
ISBN9783944576190
Die Schattentänzerin: Roman

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    Buchvorschau

    Die Schattentänzerin - Manuela Kuck

    FRAUEN IM SINN

    Verlag Krug & Schadenberg

    Literatur deutschsprachiger und internationaler

    Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

    historische Romane, Erzählungen)

    Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

    rund um das lesbische Leben

    Bitte besuchen Sie uns: www.krugschadenberg.de.

    Manuela Kuck

    Die Schattentänzerin

    K+S digital

    Danksagung

    Bei den Vorbereitungen und Recherchen zu diesem Buch konnte ich dank der freundlichen Unterstützung der IHK Berlin Kontakt zu einem seriösen Sicherheitsunternehmen knüpfen. Ich bedanke mich für die Fülle an Informationen und Hinweisen, die ich dort erhielt und die mir einen breitgefächerten und realistischen Einblick in die Ausbildung und den beruflichen Alltag von Personenschützerinnen und Personenschützern ermöglichten.

    Darüber hinaus war mir das Arbeitshandbuch Personenschutz von Klaus Stüllenberg und Dieter Fox eine wertvolle Hilfe.

    Manuela Kuck

    Für meine Mutter

    1

    Der Schweiß lief mir in Strömen den Rücken hinab, und meine Hände zitterten, als ich die Hanteln ablegte. Ich entspannte meine Arme und atmete tief ein. Dann streckte ich mich auf dem Fußboden aus und stellte das linke Bein auf. Das rechte mit seinem schmuddelig weißen Gips lag steif und leblos da. Ich verschränkte die Hände hinter dem Kopf und spannte die Bauchmuskeln an, während ich in gleichmäßigem Rhythmus den Oberkörper hob und wieder senkte. Nach dreißig Wiederholungen blieb ich schwer atmend liegen und schloß die Augen.

    Ich wußte, daß ich dankbar sein sollte. Noch vor einigen Wochen hatte ich in meinem Klinikbett gelegen, ohne die Zehen rühren zu können. Ober- und Unterschenkel waren mehrfach gebrochen gewesen, ich hatte etliche Platzwunden sowie eine Gehirnerschütterung, und der Arzt hatte amüsiert gelächelt, als ich fragte, wann ich aufstehen und nach Hause gehen könnte. Er hatte nicht bemerkt, daß mich die Bewegungslosigkeit mehr erschütterte als die Schmerzen und ich gar nicht genau wissen wollte, wie viele Nägel wo in meinem Bein steckten. Ich hatte zurückgelächelt und ihm versichert, daß ich das Krankenhaus bald verlassen würde, selbst wenn es im Moment nicht danach aussah. Nun humpelte ich seit gut einer Woche auf Gehhilfen durch meine Wohnung, absolvierte zweimal am Tag schweißtreibende Gymnastik und sehnte den Augenblick herbei, in dem ich ohne Gips und hoffentlich auch ohne Schmerzen die ersten Schritte machen würde. Fast jede Nacht träumte ich davon, in meinen vom vielen Waschen ausgeblichenen Trainingsanzug zu schlüpfen und in aller Herrgottsfrühe durch Lichterfelde zu joggen, den Teltowkanal entlang oder am ehemaligen Grenzstreifen. Wenn ich aufwachte, hatte ich den Geruch des durchgeschwitzten T-Shirts in der Nase und war davon überzeugt, das Rauschen der Dusche zu hören. Einmal am Tag stelzte ich die drei Stockwerke nach unten, holte die Post, wartete, bis mein Puls sich beruhigt hatte, und machte mich wieder auf den Weg nach oben. Bei schönem Wetter setzte ich mich eine Weile auf die Bank im Vorgarten, schaute der vorbeiratternden S-Bahn nach oder beobachtete herumtobende Kinder. Barbara war fast in Ohnmacht gefallen, als sie mitbekommen hatte, daß ich ohne Begleitung die Treppen hinunterging, und als ich ihre Vorhaltungen achselzuckend beiseite schob, wurde sie richtig ärgerlich. Seit dem Unfall rief sie täglich an, erledigte meine Einkäufe, brachte mir Bücher und Zeitungen und war ständig in Sorge, daß ich mir nicht genügend Ruhe gönnte. Ausgerechnet sie, die immer rund um die Uhr beschäftigt war.

    Ich öffnete die Augen und richtete mich mühsam auf. Es war elf Uhr vormittags, und der Tag breitete sich endlos vor mir aus. Meine Bemühungen, mich in den vielen freien Stunden sinnvoll zu beschäftigen, kamen mir beinahe lächerlich vor. Als würde ich krampfhaft nach einem Ziel suchen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, in den letzten Jahren jemals darüber nachgedacht zu haben, ob ich zuerst die Tageszeitung lesen und danach abwaschen sollte oder umgekehrt. Genausowenig wäre es mir in den Sinn gekommen, auf das Klingeln des Telefons zu warten und schon morgens den Fernseher einzuschalten. Ich ging in die Küche, um mir ein Glas Saft zu holen. Der Nachrichtensprecher im Radio berichtete von weiteren Natoangriffen auf Jugoslawien. Eine Rakete hatte sich nach Sofia verirrt und damit ihr Ziel um gut achtzig Kilometer verfehlt. Ich schaltete ab.

    „Für dich wird es immer einen Platz in der Firma geben, hatte Kurt zwei Tage nach dem Unfall bei einem Besuch im Krankenhaus gesagt. „Mach dir keine Sorgen, komm erst mal wieder auf die Beine. Er hatte verlegen gelacht. So kannte ich ihn gar nicht.

    Kurt Melthoff war mein Ausbilder und Vorgesetzter in dem Sicherheitsunternehmen, für das ich seit sieben Jahren arbeitete – anfangs als Objekt-, später als Personenschützerin. Als ich meine Ausbildung mit einunddreißig Jahren begonnen hatte, war er davon überzeugt gewesen, daß Frauen in diesem Beruf nichts verloren hatten. Später hatte er mir bereitwillig alle Kniffe und Tricks gezeigt und war ein unerbittlicher Lehrmeister gewesen. Sein brüllender Kommandoton war mir anfänglich genauso auf die Nerven gegangen wie sein Vorurteil gegenüber Frauen als Personenschützerinnen, doch ich hatte mir nichts anmerken lassen, weil ich wußte, daß er mir viel beibringen konnte. Leider hatte ich offensichtlich nicht gelernt, eine Treppe so hinunterzufallen, daß ich dabei unverletzt blieb.

    Natürlich war es sinnlos, sich im nachhinein Vorwürfe zu machen, zumal meiner Schutzperson – der Tochter eines Unternehmers aus Süddeutschland, die unbedingt die Berliner Discotheken unsicher machen wollte und es schick fand, eine Personenschützerin bei sich zu haben – nichts passiert war. Mehr noch: Es war gar nicht um sie gegangen. Während ich am Treppenabsatz auf sie gewartet hatte und unvermutet in eine Prügelei geraten war, hatte sie auf der Toilette die sieben Cocktails wieder von sich gegeben, die sie innerhalb kürzester Zeit in sich hineingeschüttet hatte. Es würde wohl eine Weile dauern, bis ich jenen Abend mit dem nötigen Abstand betrachten konnte. Ich war einen Moment lang unachtsam gewesen, sonst hätte ich bemerkt, daß die Stimmung unter den Jugendlichen, die plötzlich in den Flur drängten, aggressiv war, und mich sofort zurückgezogen. Nur wenige Augenblicke waren verstrichen, und schon war es zu spät gewesen. Ich hatte den Überblick verloren und kurz danach den Boden unter den Füßen. Noch im Stürzen spürte ich, wie mich Scham und Wut ergriffen. Wie in Zeitlupe fiel ich hilflos die Stufen hinunter, während eine höhnisch johlende Menge den Abgang verfolgte, der jäh abgebremst wurde, als mein rechtes Bein sich im Geländer verhakte. Ich war dankbar gewesen, als das Geräusch des splitternden Knochens in der Ohnmacht verhallte.

    Das Bein würde wieder heilen – über kurz oder lang. Aber die Erinnerung an meine Hilflosigkeit würde ich nicht so schnell loswerden. Reiß dich zusammen und grüble nicht soviel, würde Großmutter Adele zu mir sagen, wenn ich ihr mein Leid klagte. Das tat ich so selten, daß es kaum der Rede wert war, und wahrscheinlich verstanden wir uns deshalb so gut. Die alte Dame war vierundachtzig Jahre alt, ein bißchen verschroben, angriffslustig, häufig sehr frivol und konnte fuchsteufelswild werden, wenn ich es wagte, mich über ihren oftmals eigenwilligen Kleidungsstil zu mokieren.

    Zu Großmutters Lieblingsbeschäftigungen gehörte es, ihre Tochter Inge, meine Mutter, zu brüskieren, was allerdings nicht weiter schwierig war, und die Abneigung gegen meinen Vater Berthold in jeder noch so nebensächlichen Bemerkung mitschwingen zu lassen. Ihre Schimpftiraden über meine Eltern waren häufig amüsant, in ihrer Bissigkeit aber nicht immer gut zu ertragen. Ich hatte mich längst damit abgefunden, daß mein Verhältnis zu ihnen kühl und distanziert war, freute mich jedoch, daß neuerdings beide hin und wieder anriefen und sich erkundigten, ob sie etwas für mich tun könnten. Doch Adele winkte lediglich naserümpfend ab, wenn ich ihr davon erzählte, und meinen zwei Jahre jüngeren Bruder Torsten verschonte sie nur deshalb, weil sie ihn sterbenslangweilig fand. An mir hingegen hatte sie von Anfang an einen Narren gefressen gehabt.

    Als ich vor beinahe zwanzig Jahren zu Hause ausgezogen war, weil meine Eltern mit meiner gerade entdeckten Liebe zu Frauen nicht umgehen konnten, hatte Adele sich feixend die Hände gerieben und vermutlich keine Gelegenheit ausgelassen, im Familienkreis in süffisantem Ton über Homosexualität zu sprechen. Obwohl ich mir keine hochfliegenden Illusionen über ihren Charakter machte – Adele war nicht etwa von Grund auf tolerant und menschenfreundlich, ganz im Gegenteil, sie schimpfte über Ausländer, Asylanten und Ostberliner, wo sie nur konnte –, schätzte ich ihre Gradlinigkeit und ihre Loyalität mir gegenüber. Meine Großmutter war eine einfache Frau, die sich seit dem Tod ihres Mannes, der 1948 in russischer Gefangenschaft gestorben war, mit einem kleinen Kind am Rockzipfel als Putzfrau und Wäscherin durchs Leben geschlagen hatte. Ihr war nichts geschenkt worden, aber es war nicht ihre Art, darüber zu klagen. Sie schimpfte über alles und jeden – über ihre Nachbarin mit dem kreischenden Wellensittich, die jungen Leute unter ihr, die sich lautstark stritten oder liebten, den alten Mann im ersten Stock, der ewig dieselbe Hose trug und einen muffigen Geruch verströmte –, aber noch nie hatte ich gehört, daß sie sich selbst bedauerte und andere für ihr Schicksal verantwortlich machte. Sie hatte keinerlei Ähnlichkeit mit meiner Mutter.

    Barbara rief am frühen Abend an, als ich die Fernsehzeitung nach einem spannenden Film durchstöberte.

    „Ich schaffe es heute wahrscheinlich nicht mehr, noch bei dir vorbeizukommen", sagte sie, und ihre Stimme klang gedämpft.

    Ich vermutete, daß sie mit dem Telefon in die Küche gegangen war, damit Karin nichts von dem Gespräch mitbekam.

    „Das macht nichts", erwiderte ich und horchte in mich hinein.

    „Wirklich nicht?"

    „Nein. Du warst doch erst gestern für mich einkaufen. Ich habe alles, was ich brauche." Fast alles, fügte ich in Gedanken, jedoch ohne Bitterkeit hinzu.

    „Ich mache mir Sorgen um dich", sagte Barbara.

    „Das brauchst du nicht. Es geht mir gut. Du hast schon genug Sorgen."

    Wir schwiegen beide, denn damit war im Grunde alles gesagt. Vor einiger Zeit hatte ich mir geschworen, Barbara nie wieder so nah an mich heranzulassen, daß es uns beide und auch Karin aus der Bahn warf. Unzählige Male hatten wir diskutiert, gestritten, nach Lösungen gesucht, uns getrennt und wieder versöhnt. Ich hatte gehofft und gebangt und getobt, sie nachts bei mir aufgenommen, wenn Karin gewalttätig geworden war, und doch hatte sich nichts verändert. Barbara und Karin waren ein Paar – ob Karin trank oder nicht, aggressiv wurde oder weinerlich, es schien keine Rolle zu spielen. In den letzten zwei Jahren waren wir dazu übergegangen, uns hin und wieder zu treffen, irgendwo in Ruhe ein Glas Wein zu trinken und das Thema Karin weitestgehend auszuklammern. Manchmal schliefen wir miteinander, und wenn sie dann nachts nach Hause ging, erlaubte ich mir nur für einen Augenblick, ihren Zärtlichkeiten hinterherzutrauern und die Situation in Frage zu stellen. Bevor sie aufbrach, duschte sie immer, wechselte die Unterwäsche und putzte sich ausgiebig die Zähne. Spuren beseitigen.

    „Ich komme morgen", hob Barbara wieder an, und obwohl wir uns seit dem Unfall andauernd sahen, war es immer noch ungewohnt, daß sie wie selbstverständlich bei mir ein und aus ging. Wieder einmal.

    „Wie geht es ihr?" Die Frage war mir entschlüpft, bevor ich sie mir verkneifen konnte.

    „Sie hat nun doch mit der Gesprächstherapie angefangen, antwortete Barbara rasch. „Aber … es ist nicht leicht.

    „Wie sollte es auch."

    Sie räusperte sich. „Also, wir sehen uns morgen. Und, Alex – tu mir einen Gefallen: Lauf nicht dauernd die Treppen runter!"

    Ich lächelte. „Nein."

    „Wenn du stürzt …"

    „Schon gut", beschwichtigte ich sie, und einen Moment später beendeten wir das Telefonat.

    Ich ertrug die plötzliche Stille nicht und schaltete rasch den Fernseher ein.

    Seit Stunden schlich ich um die Tafel Schokolade herum, die Barbara mir am Tag zuvor mitgebracht hatte, und fast genauso lange wußte ich, daß ich sie essen würde. Sahne-Nuß-Vollmich. Hundert Gramm sechshundert Kalorien. Dafür mußte ich auf mein Abendbrot verzichten und mich zusätzlich mit einer halben Stunde Gymnastik quälen. Aber sie würde mit betörender Süße auf der Zunge zergehen.

    Seit meinem fünfzehnten Lebensjahr wußte ich ziemlich genau über die Brennwerte von Lebensmitteln Bescheid, und obwohl ich seit damals nie wieder mit Übergewicht zu kämpfen gehabt hatte, konnte ich die Kalorientabelle nicht aus meinem Kopf verbannen. Und nahm ich wirklich mal ein, zwei Kilo zu, beispielsweise im Urlaub, rückte ich ihnen anschließend rigoros zu Leibe – mit Rohkost, Joghurt und besonders hartem Training. Ich kontrollierte meinen Körper unerbittlich und duldete kein Speckröllchen, allein schon aus beruflichen Gründen. Im Gegensatz dazu hatte ich Barbaras Fülle von Anfang an genossen.

    Ich wickelte die Schokolade aus und zerteilte sie in sechs Riegel. Der Duft stieg mir verlockend in die Nase, und das Wasser lief mir im Mund zusammen. Die Gymnastik, die ich zur Zeit betrieb, war nur ein mickriger Ersatz für mein normales Sportprogramm. Dennoch fühlte sich mein Bauch straff an, und ich ging davon aus, bisher nicht zugenommen zu haben. Wenn der Gips herunter war, würde ich unverzüglich auf die Waage steigen. Mit Herzklopfen.

    Das Telefon klingelte, als ich die Hälfte der Tafel verspeist hatte. Wahrscheinlich Torsten, dachte ich – seitdem mein Bruder vor einem Jahr Vater geworden war, meldete er sich häufiger als früher, um begeistert von seinem Sohn zu erzählen. Torsten gehörte zur Kategorie der närrischen Väter, was für seine Frau Sabine den unschätzbaren Vorteil mit sich brachte, daß er sich ohne große Worte um alles kümmerte, was bei der Betreuung eines Babys anfiel – er wickelte es, stand nachts auf, ging mit ihm zum Kinderarzt und konnte die jeweils aktuelle Windelgröße wie aus der Pistole geschossen nennen. Seit meinem Unfall rief er etwa alle zwei Tage an, um sich nach meinen Fortschritten zu erkundigen oder mich mit Anekdoten über den Kleinen abzulenken. Wir sahen uns nur selten. Er ging seinen Weg, ich meinen, und wir waren beide zufrieden damit. Erwartungsvoll nahm ich den Hörer ab.

    „Ja, bitte", sagte ich mit einem leisen Lächeln und kuschelte mich in meine Lieblingssofaecke. Ich vermied es aus Sicherheitsgründen immer, mich mit meinem Namen zu melden – auch privat und obwohl ich außer Dienst war.

    „Conny Dorfner, antwortete es am anderen Ende. „Wir kennen uns nicht, Frau Konrad, aber ich hoffe, daß sich das bald ändern wird. Ein nervöses Kichern folgte dieser Bemerkung, und ich richtete mich wieder auf. „Störe ich Sie gerade?" fügte sie hinzu.

    „Nein, durchaus nicht. Worum geht es, und woher haben Sie meine Telefonnummer?"

    „Ich bin Journalistin und arbeite an einem Buch mit Porträts von Frauen in außergewöhnlichen Berufen, erklärte sie eilig. Ihre Stimme klang jung, ein wenig unsicher. Ich stellte mir eine dünne, übereifrige Frau vor, die ihre Hände nicht stillhalten konnte. „Herr Wagner sagte mir, daß er mit Ihnen gesprochen hätte und daß Sie bereit wären, mit mir zu reden. Von ihm habe ich auch Ihre Nummer.

    Ich erinnerte mich an die kleine Unterhaltung mit dem Chef gleich nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus. Er war der Meinung, daß ein wenig Öffentlichkeitsarbeit nicht schaden könnte, und ich hatte ihm nach kurzem Überlegen zugestimmt, obgleich ich das Buchthema nicht gerade originell fand. Aber ich hatte ja ohnehin nichts zu tun.

    „Stimmt, bestätigte ich. „Herr Wagner hat Sie angekündigt. Was genau möchten Sie denn wissen?

    „Nun, Sie sind ein weiblicher Bodyguard und …"

    „Ich bin Personenschützerin", wandte ich ein. Ich konnte die Bezeichnung Bodyguard nicht ausstehen, obwohl sie übersetzt nichts anderes als Leibwächter bedeutete und durchaus den Kern der Sache traf. Doch der amerikanische Ausdruck beschwor augenblicklich Actionfilme und Bilder von muskelstrotzenden, aggressiv dreinschauenden Kerlen herauf, die mit dem häufig schnöden Alltag meines Berufes wenig zu tun hatten. Auch ich hatte das erst lernen müssen.

    „Personenschützerin, wiederholte Conny Dorfner. „Auch gut. Jedenfalls ist das kein alltäglicher Beruf, schon gar nicht für eine Frau. Mich interessiert, warum Sie sich dafür entschieden haben.

    Das ist nicht mit einem Satz zu beantworten, dachte ich.

    „Immerhin setzen Sie Tag für Tag Ihr Leben aufs Spiel", fuhr sie fort.

    „Das tue ich auch, wenn ich mit dem Auto durch die Stadt fahre oder in einen ICE steige", erwiderte ich.

    Sie lachte, es klang sympathisch. „Ich denke, Sie wissen, was ich meine. Ich möchte Ihre Motive, Ihren Werdegang herausarbeiten. Wären Sie bereit zu einem Interview?"

    „Warum nicht? Wie lange würde es dauern?"

    „Das kommt auf Ihre Geschichte an. Ich schätze schon, daß wir uns einige Male treffen müßten. Ich will keine seichte Story von einem wilden Cowgirl, das reihenweise böse Buben umhaut."

    Das überzeugte mich. Conny hatte während des kurzen Gesprächs beträchtlich an Selbstsicherheit gewonnen, und es gefiel mir, daß sie direkt zur Sache kam. Sie erwähnte noch, daß meine persönlichen Daten selbstverständlich anonym bleiben würden, und schlug für unser erstes Treffen ein Café in Kreuzberg vor.

    „Es wäre mir lieber, wenn wir uns erst mal bei mir zu Hause zusammensetzen würden, erwiderte ich. „Mein rechtes Bein steckt in Gips, und ich bin zumindest in nächster Zeit noch nicht besonders mobil.

    „Ach ja, Herr Wagner hat erwähnt, daß Sie krank geschrieben sind. Tut mir leid. Arbeitsunfall?"

    „Ja", gab ich kurz zurück.

    „Gut, dann bei Ihnen", sagte sie nach einer kleinen Pause, und wir verabredeten uns für den nächsten Tag.

    Als ich den Hörer aufgelegt hatte, blieb ich einen Moment nachdenklich sitzen. Ich freute mich auf die Abwechslung, wenn ich in diesem Augenblick auch noch nicht so recht wußte, was ich über meinen Werdegang erzählen wollte. Und warum gleich mehrere Treffen nötig sein sollten, um meiner Berufswahl auf den Grund zu gehen. Plötzlich dachte ich an Barbaras Besuch. Sie hatte mir Obst mitgebracht, neben der Tafel Schokolade, deren Rest ich jetzt vertilgte. Ihr Blick war weich und sorgenvoll gewesen. Bevor sie wieder gegangen war, hatte sie mir einen langen Kuß gegeben. Und ich hatte gespürt, wie eine altbekannte Verzweiflung in mir hochsteigen wollte.

    Conny Dorfner war ein paar Jahre jünger als ich und sah fast so aus, wie ich sie mir aufgrund ihrer Stimme vorgestellt hatte. Sie war klein und zierlich, hatte einen zerzausten hellbraunen Lockenkopf und magere Hände. Das Sweatshirt war ihr mindestens zwei Nummern zu groß, aber die schwarze Jeans saß gut. In den ersten Minuten wirkte sie nervös und orientierungslos, kam aber nach und nach zur Ruhe. Ich hatte ein Tablett mit Tassen, Gebäck und einer Thermoskanne Kaffee vorbereitet und schenkte uns beiden ein, während sie ihren Kassettenrecorder aufbaute. Schließlich blickte sie mich auffordernd an.

    „So, wir können loslegen. Darf ich Alex sagen?"

    Ich nickte. „Natürlich."

    Conny schaltete den Recorder ein und sprach den Tag, die Uhrzeit und den vorläufigen Arbeitstitel des Manuskripts ins Mikrophon. Ich lächelte milde, als sie „Bodyguard eilig in „Personenschützerin verbesserte. Sie lächelte zurück und griff beherzt nach einem großen Schokoladenkeks. Hundert Kalorien, dachte ich, mindestens, aber sie kann es vertragen. Ich trank einen Schluck Kaffee und schüttelte innerlich den Kopf.

    „Wie sind Sie aufgewachsen, Alex? fragte sie dann. „Waren Sie ein glückliches Kind?

    Darauf war ich nicht vorbereitet. Ich schaute sie einen Moment stumm an, während das Band lief. Seit Jahren war ich darauf geeicht, jeden Moment mit unvorhersehbaren Ereignissen zu rechnen, sie dann blitzschnell einzuordnen und entsprechend zu reagieren, doch Connys Fragen zu meiner Kindheit brachten mich völlig aus dem Konzept. Dabei passierte es mir nicht zum ersten Mal, daß sich meine beruflichen Erfahrungen und Kenntnisse im Privatleben als wenig hilfreich erwiesen.

    „Sie wollen so richtig bei Null anfangen?" hielt ich Conny entgegen, um Zeit zu gewinnen. Zu persönlich, dachte ich. Ich will nicht in einem Buch lesen, wie ich mich als Kind gefühlt habe.

    „Nun, ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie eines Tages einfach so die Entscheidung gefällt haben, Personenschützerin zu werden, antwortete sie und hielt meinen Blick fest. Ihre plötzliche Selbstsicherheit verblüffte mich. „Darum möchte ich so weit wie möglich zurückgehen. Ihre Kindheit und Jugend beleuchten. Vielleicht finden sich da ja einige bemerkenswerte Zusammenhänge.

    Das war nicht auszuschließen.

    „Und nicht jedes einzelne Wort, nicht jede Episode, die Sie schildern, wird später verwendet, fügte sie hinzu. „Es geht mir um Motive, Entwicklungen.

    „Verstehe", sagte ich.

    In der nächsten Stunde erzählte ich ihr also von meinen Eltern, meinem Bruder, meiner Großmutter und einer gewöhnlichen Kindheit, in der es Höhen und Tiefen gegeben hatte und die ich sicherlich im Ganzen stimmig darstellte. Doch der leichte Ton meiner Schilderung war eine glatte Lüge, und das, was ich wegließ, wog schwerer als das, was ich erzählte. Manchmal gewann ich den Eindruck, daß Conny die Lücken spürte, doch sie unterbrach mich dann nicht.

    Am späten Abend saß ich vor dem Fernseher, ohne den eingeschalteten Film zu verfolgen, und fragte mich, warum ich mich gescheut hatte, die Ereignisse so wiederzugeben, wie ich sie tatsächlich empfunden hatte. Was war denn schon dabei, über kindliche Gefühle und Verletzungen zu sprechen, die fünfundzwanzig, dreißig Jahre zurücklagen, über Vorkommnisse, die längst vergeben und vergessen waren und mit meinem heutigen Leben allenfalls am Rande zu tun hatten? Oder war mir erst während des Erzählens aufgefallen, daß es eine andere Wahrheit gab? Eine, die ich nur für mich haben wollte?

    2

    Ich wuchs in einer kinderreichen Gegend in Neukölln auf. Unser Haus war fünfstöckig, hatte rechts vom Eingang ein winziges Blumenbeet, das der Hausmeister hingebungsvoll pflegte, und nach hinten hinaus einen Wäscheplatz, auf dem wir Ball spielten, obwohl es verboten war. Mein Vater war Elektriker, „Strippenzieher" auf dem Bau, wie er es nannte, meine Mutter Altenpflegerin. Wir lebten in bescheidenen Verhältnissen, und ich konnte mich noch gut daran erinnern, daß meine Mutter das Haushaltsgeld immer sorgsam einteilte und zum Monatsende mit den Groschen für Süßigkeiten geizte. Mein erstes Fahrrad bekam ich mit acht Jahren, es war dunkelrot und hatte eine tieftönende Klingel; meine erste echte Jeans schenkte mir Großmutter Adele zu meinem dreizehnten Geburtstag. Später verdiente mein Vater mehr, und wir konnten uns einen gebrauchten Opel leisten und alle zwei Jahre vierzehn Tage Urlaub an der See, was gut für Torstens zarte Gesundheit war. Wenn Anschaffungen geplant waren, saß meine Mutter stundenlang am Küchentisch und schrieb mit einem abgekauten Bleistift eine Zahlenkolonne neben die andere. Ihre Stirn war in zahlreiche Falten gelegt, und manchmal seufzte sie still vor sich hin. Mein Vater kümmerte sich nicht um ihre mühsame Rechnerei. Er trank sein Bier, blätterte, meist nur mit Unterhemd und einer Trainingshose bekleidet, in der Zeitung und schnauzte jeden an, der ihn dabei störte. Sogar Torsten. Dann blickte meine Mutter verschreckt hoch und zog den Kleinen an ihre Seite.

    Als ich in die Schule kam und lesen lernte, gab ich mir selbst einen neuen Namen: der Schatten, später auch der Große Schatten, denn Schatten können nicht dick sein. Ich hatte in einem Kinderbuch mit tollen Zeichnungen die Geschichte von einem Jungen gelesen, der sich immer dann in seinen eigenen Schatten ver- wandelte, wenn er sich in einer brenzligen Situation befand, und zu seiner ursprünglichen Gestalt zurückkehrte, wenn keine Gefahr mehr drohte. So schlug er allen ein Schnäppchen. Diese Fähigkeit faszinierte mich, und ich hätte viel dafür gegeben, sie tatsächlich zu besitzen. Zu Hause war ich die meiste Zeit über ein Schatten, ohne es zu wollen, denn ich fand bei meinen Eltern immer nur dann Beachtung, wenn ich etwas ausgefressen hatte. Das kam allerdings nicht sehr häufig vor. Meine Eltern waren ganz auf Torsten konzentriert, der ein zartes und häufig krankes Kind war; sie stritten viel miteinander, und die wenige Zeit, die neben der Arbeit noch übrigblieb, verbrachten sie im Schrebergarten ihrer Laubenkolonie. Einige Male bezog ich Prügel von meinem Vater, daß ich mehrere Tage kaum sitzen konnte, weil ich auf dem Spielplatz nicht aufmerksam genug auf meinen Bruder aufgepaßt hatte und Torsten von der Rutsche gefallen oder allein um die Häuser gestromert war. Zweimal wurde mir von meiner Mutter der Mund mit Seife ausgewaschen. Beim ersten Mal hatte ich Torsten schlicht als „dämliches Arschloch bezeichnet, was nach Ansicht meiner Mutter ein so schmutziger Ausdruck war, daß er eine gründliche Reinigung meines Mundes erforderte. Das zweite Mal hatte ich bei Tisch gefragt, was denn das Wort „vögeln bedeuten würde. Meine Mutter war noch blasser geworden, als sie ohnehin schon war, und hatte mich ins Badezimmer gezerrt, während Großmutter Adele, die gerade zu Besuch war, in lautstarkes Gelächter ausbrach. Es dauerte noch einige Zeit, bis ich begriff, was mit dem Wort gemeint war, und noch länger, bis ich die so gegensätzlichen Reaktionen der beiden Frauen verstand. Der Nachtisch wurde mir an diesem Tag gestrichen – für alle anderen gab es Vanillepudding. Doch ansonsten kümmerten sich meine Eltern wenig um das, was ich tat, und obwohl ich häufig wütend auf Torsten war, machte er es mir schwer, ihm lange etwas nachzutragen. Je älter er wurde, desto mehr verbündete er sich mit mir, und seine Anhänglichkeit erstaunte mich immer wieder.

    In der Schule gelang es mir anfangs nur selten, mich in einen Schatten zu verwandeln, denn ich war eine beliebte Zielscheibe für den Spott meiner Klassenkameradinnen und Klassenkameraden. Ich hatte das Pech, das einzige dicke Mädchen in meiner Klasse zu sein. Da gab es zwar noch den rothaarigen Rüdiger, der auch gut beleibt war, doch er wurde respektiert, weil er ein freches Mundwerk besaß und der beste Schüler war. Notfalls ließ er auch mal seine Fäuste sprechen. Doch ich war nur eine mittelmäßige Schülerin, alles andere als wortgewandt, und bei einer Prügelei hätte ich sicherlich den Kürzeren gezogen. So verging selten ein Tag, an dem ich mir keine blöden Reime auf meine Figur anhören mußte. Besonders verhaßt war mir der Sportunterricht, in dem schon höhnisches Gelächter erklang, wenn ich auch nur Anstalten machte, auf den Schwebebalken zu klettern oder ein Rad zu schlagen. Ich zog mich immer mehr zurück und versuchte, die Sticheleien einfach zu überhören. Ich stellte mir vor, wie ich langsam immer durchscheinender wurde und schließlich nur noch ein grauer Schleier war, der von den anderen gar nicht wahrgenommen wurde. Mit der Zeit hatte meine Methode Erfolg, wobei es fast nebensächlich war, ob das Gehänsel tatsächlich nachließ oder ob ich es ausblendete. Was ich nicht verdrängen konnte, waren die Gefühle, die ich mir selbst entgegenbrachte. Ich konnte meinen dicken, plumpen Körper genausowenig ausstehen wie die Kinder, die mir hinterherjohlten, und war im Grunde ihrer Meinung. Alexandra, die fette Kuh – die fette Alexandra.

    Als ich auf die Realschule kam, wurde manches leichter. In meiner Klasse gab es mehrere Dicke, so daß ich nicht mehr ganz so auffiel, und außerdem suchte Marita, das hübscheste und schlankste Mädchen, aus mir vollkommen unverständlichen Gründen meine Nähe. Marita rauchte, trug hautenge Wrangler-Jeans, hatte bereits einen Freund, einen schicken Radiorecorder und eine Figur, die mich vor Neid erblassen ließ, so oft ich sie in Augenschein nahm. Und das tat ich häufig, denn in den Pausen futterte Marita immer wie ein Scheunendrescher, und ich wartete gespannt darauf, daß sich verräterische Röllchen an Bauch und Hüften zeigen würden – was aber nicht geschah. Nun sahen wir uns allerdings nur vormittags in der Schule, manchmal nachmittags vor ihrem Haus für ein paar Stunden, in denen wir klönten und herumlungerten, und ich redete mir schließlich ein, daß sie wahrscheinlich den Rest des Tages kaum noch etwas aß. Aber ich fragte nie nach, denn ich wollte auf keinen Fall hören, daß sie auch noch mittags reichlich zulangte und abends mehrere Stullen futterte. Außerdem hätte Marita dann gemerkt, daß mir mein Gewicht Sorgen bereitete, während ich doch so tat, als wären mir mein fetter Hintern und der schwabbelige Bauch vollkommen gleichgültig.

    „Du bist eben ein guter Futterverwerter, tröstete mich meine Großmutter bei meinen regelmäßigen Besuchen in ihrer kleinen vollgestopften Wohnung und zuckte die Achseln. Sie war die einzige, die wußte, daß ich unter meinem Übergewicht litt. „Außerdem wirst du jetzt allmählich zur jungen Frau, und in dieser Zeit werden viele Mädchen pummelig.

    „Ich bin nicht pummelig, ich bin dick, erwiderte ich. „Und das war ich schon als kleines Kind.

    „Ach, nun mach doch nicht so ein Tamtam, wiegelte sie ab. „Warte mal, bis du einen Freund hast, dann vergißt du das Essen, und die Pfunde purzeln von ganz alleine.

    Das sah ich anders. Kein Junge würde sich für mich interessieren, solange ich derart unförmig durch die Gegend lief. Wenn Marita mir in allen delikaten Einzelheiten erzählte, was sie und ihr drei Jahre älterer Freund miteinander trieben, war ich hin- und hergerissen zwischen Schrecken und Faszination. Manchmal war ich ganz froh, von den Jungen nicht beachtet zu werden, weil ich Maritas Schilderungen von dem großen angeschwollenen Ding, das sich unter ihren Berührungen aufrichtete und zuckte, unappetitlich fand; dann wieder spürte ich, wie es zwischen meinen Schenkeln heiß wurde, und ich träumte von dem blonden Uwe aus der Nachbarklasse – wie er an meinen Brüsten saugte, oder vielmehr an dem, was gerade anfing, sich neben all dem Fett zu Brüsten zu entwickeln.

    Zu Hause blieb alles beim alten. Meine Mutter wuselte durch die Wohnung, wenn sie von der Arbeit kam, bereitete Essen vor und schaute immer häufiger auf die Uhr, je näher der Feierabend meines Vaters rückte. Aber der war nie besonders pünktlich. Manchmal ging er mit seinen Kollegen noch Skat spielen und ein Bierchen trinken und hatte es kaum eilig, nach Hause zu kommen, besonders dann nicht, wenn er Gelegenheit fand, jungen Frauen hinterherzugaffen, wie meine Mutter es ausdrückte. Sie benutzte solche Worte normalerweise nicht, und tat sie es doch einmal, wußte ich, daß sie wirklich aufgebracht war. Häufig keiften sich die beiden dann stundenlang in wechselnder Lautstärke an, und der Abend endete entweder damit, daß mein Vater fluchend und türenknallend aus der Wohnung in seine Stammkneipe stürmte oder die beiden im Bett landeten. Als Kind war ich immer sehr erleichtert gewesen, wenn ich mitbekam, daß mein Vater sich nicht aus dem Staub machte und meine Eltern schlafen gingen; als Vierzehnjährige hatte ich dann mittlerweile zwar begriffen, daß sie ihren Streit beendeten, indem sie Sex miteinander hatten, aber verstehen konnte ich es trotzdem nicht. Außerdem war mir unbehaglich bei der Vorstellung, daß sie das miteinander taten, wovon Marita mir gern und ausschweifend erzählte und was meine Phantasien beherrschte.

    Als mein Bruder zwölf Jahre alt war, meldete mein Vater ihn in einem Kampfsportverein an. Torsten war immer noch schmächtig und gesundheitlich anfällig, und er sollte Ju-Jutsu, Judo oder auch Karate lernen, um endlich zu dem kraftstrotzenden Kerl zu werden, den vor allem mein Vater sich wünschte. Torsten war davon alles andere als begeistert – er interessierte sich wesentlich mehr für Tischtennis –, doch mein Vater duldete keinerlei Widerspruch, und so ging mein Bruder von da an zweimal in der Woche zum Kampfsporttraining. Er wurde ein mittelmäßiger Judoka, doch wider Erwarten machte ihm der Sport Spaß – es waren weder übermäßige Muskeln noch Aggressivität dazu nötig, ganz im Gegenteil. Wenn mein Vater gewußt hätte, daß Judo „der sanfte Weg" bedeutet, wäre er sicherlich verblüfft gewesen.

    Eines Abends, einige Wochen vor meinem fünfzehnten Geburtstag, sollte ich Torsten vom Training abholen und ihm seine Regenjacke bringen. Es schüttete wie aus Kübeln, und meine Mutter befürchtete, daß der Junge sich erkälten könnte. Ihre beständige Sorge um ihn war nervenaufreibend, aber durch nichts zu erschüttern. So verkniff ich mir jeglichen Kommentar und radelte in den Regen hinaus. Als ich eintraf, war das Training noch nicht beendet, und ich schaute durch die Glastür den verschiedenen Gruppen zu. Laute, scharfe Befehle drangen gedämpft zu mir nach draußen, und alle sahen gegen Ende

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