Der Tunnel
Von Ernesto Sabato
3/5
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Über dieses E-Book
"Der Tunnel" ist "der" existentialistische Roman nicht nur der argentinischen, sondern der gesamten lateinamerikanischen Literatur – Vergleiche mit den großen Werken eines Jean-Paul Sartre, Albert Camus oder auch Max Frisch sind durchaus angebracht.
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Buchvorschau
Der Tunnel - Ernesto Sabato
Aus dem argentinischen Spanisch und neu durchgesehen von Helga Castellanos
Die argentinische Originalausgabe erschien 1948 unter dem Titel El túnel, die deutsche Erstausgabe 1958 im Margarete Friedrich Rohrer Verlag in Innsbruck und Wien unter dem Titel Der Maler und das Fenster. Die vorliegende Ausgabe basiert auf einer Neuübersetzung, die 1976 unter dem Titel Maria oder die Geschichte eines Verbrechens im Limes Verlag in München veröffentlicht wurde.
E-Book
Ausgabe 2017
© Heirs to Ernesto Sabato
c/o Schavelzon Graham Agencia Literaria
© 2010, 2017 Verlag Klaus Wagenbach, Emserstr. 40/41, 10719 Berlin
Covergestaltung: Julie August unter Verwendung eines Gemäldes von Ben McLaughlin © Private Collection/Wilson Stephens Fine Art, London/Bridgeman Images. Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph. Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt
Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.
ISBN 978 3 8031 4219 1
Auch in gedruckter Form erhältlich: ISBN 978 3 8031 2772 3
www.wagenbach.de
»… in jedem Fall gab es nur einen einzigen
dunklen und einsamen Tunnel: den meinen.«
I
Es wird genügen, wenn ich erwähne, dass ich Juan Pablo Castel bin, der Maler, der María Iribarne umgebracht hat. Ich nehme an, dass der Prozess noch allen in Erinnerung ist und dass zu meiner Person keine näheren Erklärungen erforderlich sind.
Obwohl nicht einmal der Teufel weiß, woran sich die Leute erinnern, geschweige denn, warum. Es ist so, dass ich immer gedacht habe, es gäbe kein kollektives Erinnerungsvermögen, was vielleicht eine Art Verteidigung des Menschengeschlechts ist. Der Satz »Früher war alles besser« weist nicht darauf hin, dass früher weniger Schlechtes geschah, sondern dass – glücklicherweise – die Leute das Schlechte vergessen. Selbstverständlich hat ein solcher Satz keine Allgemeingültigkeit. Ich zum Beispiel zeichne mich dadurch aus, dass ich mich vorzugsweise an alles Schlechte erinnere, und so könnte ich fast sagen, dass »früher alles schlechter war«, wenn es nicht so wäre, dass mir die Gegenwart genauso entsetzlich vorkommt wie die Vergangenheit. Ich erinnere mich an so viel Unheil, an so viele zynische und grausame Gesichter, an so viele schlechte Taten, dass die Erinnerung daran für mich wie das zaghafte Licht ist, das ein dreckiges Museum der Scham beleuchtet. Wie oft habe ich mich Stunde um Stunde in eine dunkle Ecke meines Ateliers verkrochen, wenn ich eine Nachricht in der Spalte der Polizeiberichte gelesen hatte! Aber es ist ja so, dass dort nicht immer die schändlichsten Taten der Menschheit aufgeführt werden. Bis zu einem gewissen Punkt sind Verbrecher eher saubere, eher harmlose Menschen. Diese Behauptung stelle ich nicht auf, weil ich selbst einen Menschen getötet habe. Nein, es ist meine ehrliche und tiefe Überzeugung. Ein Individuum ist schädlich? Dann wird es eben beseitigt, und fertig. Das ist das, was ich eine gute Tat nenne. Denken Sie einmal, wie viel schlechter es für die Gesellschaft ist, wenn dieses Individuum sein Gift weiterhin verspritzt und wenn man, statt es zu beseitigen, seinem Treiben dadurch Einhalt gebieten will, indem man sich in die Anonymität flüchtet, in üble Nachrede und ähnliche Gemeinheiten. Was mich angeht, so muss ich bekennen, dass ich es heute bedauere, die Zeit meiner Freiheit nicht besser genutzt und sechs oder sieben Typen, die ich kenne, nicht beseitigt zu haben.
Dass die Welt schrecklich ist, ist eine Wahrheit, die keines Beweises bedarf. Ein Vorfall würde jedenfalls genügen, um es zu demonstrieren: In einem Konzentrationslager klagte ein ehemaliger Pianist über Hunger, und daraufhin zwang man ihn, eine Ratte zu essen, aber eine lebendige.
Das ist es jedoch nicht, worüber ich jetzt sprechen will. Ich werde später, wenn sich die Gelegenheit ergibt, noch etwas über die Sache mit der Ratte sagen.
II
Wie ich schon sagte, heiße ich Juan Pablo Castel. Vielleicht fragen Sie sich, was mich dazu veranlasst, die Geschichte meines Verbrechens niederzuschreiben (ich weiß nicht, ob ich schon erwähnt habe, dass ich beabsichtige, mein Verbrechen zu erzählen) und, vor allem, einen Verleger dafür zu finden. Ich kenne die menschliche Seele gut genug, um vorauszusehen, dass alle sofort an Eitelkeit denken werden. Sollen sie denken, was sie wollen. Es geht mich einen Dreck an. Schon seit einer ganzen Zeit kümmern mich Meinung und Gerechtigkeit der Menschen einen Dreck. Nehmen Sie also ruhig an, dass ich diese Geschichte aus Eitelkeit schreibe. Schließlich bin ich aus Fleisch und Blut, aus Haut und Haar wie jeder andere Mensch auch, und es würde mir sehr ungerecht vorkommen, wenn Sie von mir, ausgerechnet von mir, besondere Eigenschaften verlangen würden. Manchmal hält man sich für einen Übermenschen, bis man feststellt, dass man ebenfalls erbärmlich, schmutzig und falsch ist. Von der Eitelkeit sage ich nichts. Ich glaube, dass niemand von dieser bemerkenswerten Antriebskraft des menschlichen Fortschritts ausgenommen ist. Ich kann nur lachen über jene Herren, die mit der Bescheidenheit eines Einstein oder anderer Leute dieser Kategorie daherkommen. Mein Kommentar: Es ist leicht, bescheiden zu sein, wenn man berühmt ist. Ich möchte sagen, bescheiden zu scheinen. Selbst wenn man meint, dass es die Bescheidenheit überhaupt nicht gibt, entdeckt man sie plötzlich in ihrer subtilsten Form: die Eitelkeit der Bescheidenheit. Wie oft stoßen wir doch auf Menschen dieser Art! Selbst ein Mann wie Christus, sei er nun Wirklichkeit oder Symbol, tat Äußerungen, die ihm die Eitelkeit oder doch wenigstens der Hochmut eingegeben hatte. Was soll man erst von Léon Bloy sagen, der sich gegen die Anklage wegen Hochmuts verteidigte, indem er argumentierte, er habe sein Leben lang Leuten gedient, die ihm nicht einmal bis zu den Knien reichten. Eitelkeit findet man an den Orten, wo man sie am wenigsten erwartet, an der Seite der Güte, der Entsagung, der Großmut. Als ich klein war und bei dem Gedanken daran verzweifelte, dass meine Mutter eines Tages sterben müsste (mit den Jahren lernt man, dass der Tod nicht nur erträglich ist, sondern einem sogar neue Kraft spendet), konnte ich mir nicht vorstellen, dass meine Mutter Fehler haben könnte. Jetzt, da sie nicht mehr ist, muss ich sagen, dass sie so gut war, wie es ein menschliches Wesen nur werden kann. Aber ich erinnere mich daran, wie es mir während ihrer letzten Lebensjahre, als ich schon ein erwachsener Mann war, anfänglich wehtat, in dem Besten, was sie tat, ein Körnchen Eitelkeit oder Hochmut zu entdecken. Einen viel deutlicheren Beweis dessen aber erlebte ich an mir selbst, als sie einer Krebsoperation unterzogen wurde. Um noch rechtzeitig zu kommen, musste ich zwei ganze Tage lang reisen, ohne schlafen zu können. Als ich dann an ihr Bett trat, brachte es ihr vom Tod gezeichnetes Antlitz fertig, mir ganz leicht und zärtlich zuzulächeln und Worte des Mitleids zu flüstern. (Sie bedauerte mich wegen meiner Müdigkeit!) Und tief in mir spürte ich so etwas wie eitlen Stolz darüber, dass ich so schnell herbeigeeilt war. Ich gebe dieses Geheimnis preis, damit Sie sehen, dass ich nicht glaube, besser zu sein als alle anderen.
Ich erzähle diese Geschichte jedoch nicht aus Eitelkeit. Vielleicht wäre ich dazu bereit beizustimmen, dass es da so etwas wie Stolz oder Hochmut gibt. Aber warum eigentlich diese Manie, für alles, was man im Leben tut, eine Erklärung finden zu wollen? Als ich diesen Bericht begann, war ich fest entschlossen, keinerlei Erklärungen abzugeben. Ich hatte einfach Lust, die Geschichte meines Verbrechens zu erzählen, und Schluss. Wem sie nicht gefällt, der braucht sie nicht zu lesen. Obwohl ich das wiederum auch nicht glaube, denn gerade die Leute, die ständig hinter Erklärungen her sind, sind die neugierigsten, und ich denke, dass sich keiner von ihnen die Gelegenheit entgehen lassen wird, die Geschichte eines Verbrechens bis zum Ende zu lesen.
Ich könnte die Gründe verschweigen, die mich dazu veranlasst haben, diese Beichte zu schreiben. Aber da ich kein Interesse daran habe, als Exzentriker zu gelten, werde ich die Wahrheit sagen, die auf jeden Fall einfach genug ist. Ich dachte, dass sie von vielen Leuten gelesen werden könnte, jetzt, da ich berühmt bin. Und obwohl ich mir keine großen Illusionen mache über die Menschheit im Allgemeinen und die Leser dieser Seiten im Besonderen, ermutigt mich die schwache Hoffnung, dass mich vielleicht doch ein Mensch versteht. Auch wenn es nur ein Einziger ist.
»Warum«, so könnte sich jemand fragen, »kaum eine schwache Hoffnung, wenn das Manuskript von so vielen Menschen gelesen werden soll?« Dies ist die Art von Fragen, die ich für unnütz halte. Und nichtsdestoweniger muss man sich darauf gefasst machen, denn die Leute stellen ständig unnütze Fragen, Fragen, die schon die oberflächlichste Untersuchung als unnütz entlarven würde. Ich kann bis zur Erschöpfung und brüllend vor einer Versammlung von hunderttausend Russen sprechen. Niemand würde mich verstehen. Sehen Sie, was ich damit sagen will?
Es gab einen Menschen, der mich hätte verstehen können. Aber das war gerade der Mensch, den ich umgebracht habe.
III
Alle wissen, dass ich María Iribarne Hunter getötet habe. Aber niemand weiß, wie ich sie kennenlernte, welche Beziehung wirklich zwischen uns bestand und wie ich auf den Gedanken kam, sie zu töten. Ich werde versuchen, alles ganz unparteiisch zu erzählen, denn obwohl ich durch ihre Schuld viel gelitten habe, erhebe ich nicht den törichten Anspruch, vollkommen zu sein.
In der Frühjahrsausstellung 1946 stellte ich ein Bild aus, das Mutterschaft hieß. Es war so wie viele andere Bilder vor ihm auch. Wie die Kritiker in ihrer unerträglichen Sprache sagen, war es solide und gut aufgebaut. Es hatte also die Eigenschaften, die jene Schwätzer meinen Leinwänden immer zusprachen, einschließlich »etwas zutiefst Intellektuellem«. Aber oben, links, durch ein Fensterchen hindurch, sah man eine kleine, abgelegene Szene: einen einsamen Strand und eine Frau, die auf das Meer blickte. Es war eine Frau, die auf das Meer blickte, als ob sie etwas erwartete, vielleicht einen leisen und entfernten Ruf. Die Szene atmete meiner Meinung nach eine beklemmende und absolute Einsamkeit aus.
Niemand beachtete diese Szene. Die Blicke schweiften darüber hinweg wie über etwas Sekundäres, wahrscheinlich Dekoratives. Mit Ausnahme eines einzigen Menschen schien niemand zu verstehen, dass diese Szene etwas Wesentliches darstellte. Es war am Tag der Eröffnung. Eine mir unbekannte junge Frau stand lange vor meinem Bild, offenbar ohne der großformatigen Frau im Vordergrund Bedeutung zu schenken, der Frau, die dem spielenden Kind zuschaute. Dagegen war ihr Blick fest auf die Fensterszene gerichtet, und ich hatte dabei die Gewissheit, dass sie völlig in die Betrachtung meines Bildes versunken war. Weder sah sie die Leute, die vorbeigingen oder vor meinem Bild stehenblieben, noch hörte sie sie.
Die ganze Zeit beobachtete ich sie fasziniert. Dann verschwand sie in der Menge, während ich schwankte zwischen einer unüberwindlichen Angst und dem beklemmenden Wunsch, sie zurückzurufen. Angst wovor? Vielleicht so etwas wie die Angst, alles Geld, das man überhaupt hat,