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Wie ein Engel auf Erden: Ein unmoralischer Krimi aus der Nachwendezeit
Wie ein Engel auf Erden: Ein unmoralischer Krimi aus der Nachwendezeit
Wie ein Engel auf Erden: Ein unmoralischer Krimi aus der Nachwendezeit
eBook309 Seiten3 Stunden

Wie ein Engel auf Erden: Ein unmoralischer Krimi aus der Nachwendezeit

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Über dieses E-Book

Beate Blaugrün, alleinstehend, 53 Jahre, erwacht stumm und zunächst staunend aus einem Koma, in das sie am letzten Tag der DDR nach einem Selbstmordversuch gefallen war. Als Bibliothekarin hatte sie auf dem Bahnhof der thürinigischen Kleinstadt eine Bücherei der Deutschen Reichsbahn betrieben, die nach der Wende niemand mehr bezahlen konnte. Der Vorschlag, statt mit Büchern am Fahrkartenschalter zu arbeiten, trieb die Tochter eines stadtbekannten Arztes zur Verzweiflungstat. Ins Leben zurückgekehrt, wenn auch stumm, entdeckt sie nicht nur um sich herum Veränderungen, auch sie selbst hat sich verändert: Hormonströme wie in der Pubertät erregen sie und lenken ihr Sinnen und Trachten darauf, sich einen Mann zu verschaffen. Das geschenkte Leben soll ausschließlich der Lust dienen. Vom Koma zurückgeblieben sind Unsicherheiten in den Bewegungen, so dass sie sich daran gewöhnt, einen Gehstock zu benutzen. Erinnerungslücken scheinen sie nicht zu plagen. So findet sie das Wochenendgrundstück ihrer Eltern, das unerreichbar im DDR-Grenzgebiet lag, und richtet es her. Aber in der Kindheit ahnt sie einen weißen Fleck, der sie manchmal beunruhigt. Als in ihrer Umgebung Männer verschwinden, taucht bei Beate Blaugrün ein Polizeikommissar auf. Er ihr gefällt. Ist das Liebe, fragt sie sich.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum25. Mai 2020
ISBN9783752955668
Wie ein Engel auf Erden: Ein unmoralischer Krimi aus der Nachwendezeit

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    Buchvorschau

    Wie ein Engel auf Erden - Hannelore Kleinschmid

    WIE EIN ENGEL AUF ERDEN

    Ein Krimi aus der Nach-Wende-Zeit

    von

    Hannelore Kleinschmid

    1. Teil

    1.

    Gott will, dass ich mich als Engel auf Erden fühle. Als Selbstmörderin ließ er mich nicht in sein Himmelreich ein, obwohl ich eine Ewigkeit an Petrus` Tor geklopft habe. Jetzt bin ich mit 53 Jahren ein medizinisches Wunder und erhalte Westrente.

    Invalide zu sein, erinnert in meinem Alter an die Einbeinigen aus dem letzten Weltkrieg. Außerdem stempelt es ab. Man gilt als irgendwie behindert und nicht ganz zurechnungsfähig. Folglich sehe ich mich als Frührentner wie die halbe DDR, von der ich mittlerweile weiß, dass es sie nicht mehr gibt. Eine Frührentnerin bin ich als realsozialistische Frau indes nicht, denn wir hatten fast ausschließlich männliche Berufe. Selbst Margot Honecker, deren Gatte unter dem Schutt der jüngsten Geschichte inzwischen zunehmend mit zwei „n geschrieben wird, die blauhaarige Diktatorin sozialistischer Pädagogenscharen war nur Minister und keine „in. Aber das ist an dieser Stelle unwesentlich.

    Beate Blaugrün landete nicht mit einer Todesanzeige im vereinigten Deutschland, sondern nach ausgepumptem Magen bewusstlos im Krankenbett. Dort verspürte und vernahm ich nichts von den Wehen der Wende. Mit ausgeschaltetem Bewusstsein glitt ich hinüber in den Kapitalismus bundesrepublikanischer Prägung. Auch nach dem Ende des sozialistischen Gesundheitswesens tropfte die Infusion in meine Venen. Als selbstgeschaffenes Opfer der Einheit wurde ich zum Überleben animiert. Das unterscheidet mich von den Volkseigenen Betrieben.

    Meines Wissens habe ich zwischenzeitlich weder das Jenseits besucht noch irgendwelche geistig und seelisch erweiternden Erlebnisse verbuchen können. Weitestgehend bin ich Beate Blaugrün geblieben, die man gern übersieht.

    Zuerst hörte ich nur Geräusche, die ich nicht zuordnen konnte. Es brummte und dröhnte um mich herum, und erst nach langer Zeit erkannte ich den grellen auf- und abschwellenden Lärm als Stimme eines Menschen. Wie lange ich danach wieder ins Nichts fiel, weiß ich nicht. Ohne mit der Wimper zu zucken, starrten meine offenen Augen eines Tages ins Licht. Eine Stimme explodierte so nahe bei mir, dass sie mich zu durchzucken schien und mein Körper von einem Krampf geschüttelt wurde.

    Sie erwacht! Sie erwacht! Sie kommt zu sich. Rufen Sie den Doktor! Schnell! Schnell! Aufseufzend fügte dieselbe Stimme hinzu: „Das Warten war nicht vergebens."

    Damals habe ich diese Worte nicht begriffen. Aber Karin hat sie mir inzwischen gut hundertmal wiederholt. Sie ist meine beste Freundin. Im Grunde genommen, ist sie der einzige Mensch auf Erden, der mir nahesteht. Karin Ispen kümmert sich und verschwendet meinetwegen manchen Gedanken.

    Sanftes Schwarz erlöste mich nach dem einen Augenblick aus Licht und Lärm. Erst beim dritten Erwachen hielt die Welt mich fest. Jedenfalls bis jetzt.

    Ein langer, mühseliger Prozess begann, währenddessen ich mich mehr als einmal fragte, warum ich das alles auf mich nahm, wo ich doch hatte sterben wollen. Kein einziger Muskel meines Körpers war annähernd funktionsfähig. Meine Augen starrten aus dem Kopf heraus ins Krankenzimmer und erkannten nichts. Tage vergingen, ehe meine Ohren das Geräuschchaos zu ordnen anfingen. Ich erinnere mich, dass mir Karins Gesicht immer wieder erschien. Leise, ja monoton redete sie auf mich ein. Täglich erzählte sie mir von neuem, was geschehen war und wie wunderbar strahlend die lebendige Zukunft vor mir lag. Vorerst aber lag ich im Bett, verständnislos wie ein Neugeborenes, hilfloser als ein Baby. Für Karin war ich es tatsächlich: neu- oder wiedergeboren.

    Die Ärzte beratschlagten über meine Aussichten, je ein Glied zielgerichtet bewegen und Zusammenhänge begreifen zu können. Wie üblich taten sie das ohne Rücksicht darauf, dass ich persönlich vor ihnen herumlag. Je mehr Zeit verging, desto schlechter standen meine Chancen, dem Rollstuhl und dem Pflegeheim zu entkommen. Tröstlicherweise mehrten sich die Momente, in denen ich Dinge und Menschen wiedererkannte.

    Mit den Erinnerungen war und ist das allerdings so eine Sache. Oft weiß ich nicht, ob mir Karins Berichte Bilder vorgaukeln, wie es früher, damals, vor dem schwarzen Loch, alles gewesen ist, oder ob ich mich von allein darauf besinne.

    Die mühevolle Rückkehr ins Leben machte mich sprachlos. Dabei wollte ich es belassen. Ich entsagte dem Ringen um hörbare Wörter und blieb stumm. Gegenüber Zeitgenossen und Mitbürgern hatte ich mir eine gehörige Verspätung aufgebürdet, um den Schritt in die Marktwirtschaft zu tun, die mit dem Goldenen Westen über uns gekommen war.

    2.

    Zunächst landete ich im Irrenhaus.

    „Du gehörst nach Pfaffi! war eine der übelsten Beschimpfungen meiner Kindertage gewesen. „Von den Idioten dort redeten die Leute, wenn sie die Patienten der Nervenheilanstalt Pfaffenroda meinten. Die braven Bürger schämten sich auch als Genossen der „Klapsmühle", zu der die Kranken, Lahmen und Bedürftigen des ganzen Bezirkes in unsere Stadt gebracht wurden. Naja, in ihren Randbereich. Bereits im vergangenen Jahrhundert hatte man die Backsteinhäuser und -Villen hinter einer hohen Mauer verborgen, die mit Glasscherben und Stacheldraht obenauf in den bösen tausend und den nachfolgenden rosaroten Jahren von Büschen und Bäumen überwuchert wurde. Um die Anstalt zog sich parkähnliches Gelände, das dank des Mangels an Arbeitskräften den allmählichen Übergang vom sozialistischen Gärtnereiwesen zum Urwald veranschaulichte. Der Ort blieb tabuisiert, obgleich er fußläufig vom Stadtzentrum entfernt war.

    Als Kinder wagten wir uns gelegentlich bis in die Nähe der Mauer, und die erhoffte Begegnung mit einem Patienten jagte schon vorab eine Gänsehaut über den Rücken. Bei unzähligen Geschichten über Geisteskranke gruselte es uns wunderbar.

    Behutsam versuchte Karin, mich auf die Zeit in der Irrenanstalt vorzubereiten. Die Medizinmänner und -frauen priesen das wunderbare Wunder und meinten mich. Sie zogen im Laufe der Zeit alle Schläuche aus mir heraus und erklärten meine Körperfunktionen für weitestgehend normal. Dass ich mich nur unzureichend bewegen und gar nicht laufen konnte, schien nur mir unangenehm aufzufallen. Keiner störte sich daran, dass mein Mund stumm blieb. Oder doch? Warum wollte man mich in die Klapse abschieben?

    Ich traute meinen Ohren nicht, als Karin, ohne zu stottern, vom Rehabilitationszentrum Pfaffenroda sprach und die Wendungen erklärte, die die Nervenheilanstalt vollbracht habe, um zu überleben. Meine grauen Zellen hatten dereinst gelernt, dass Kliniken zum Überleben von Patienten da sind und nicht umgekehrt die Patienten für das Überleben der Kliniken. Doch ich stufte diesen Gedanken als rückwärtsgewandt ein. Er war wohl sozialistisch geprägt.

    „Pfaffi!" dachte ich und ließ über mich ergehen, was ich nicht verhindern konnte. Zu meinen Lebenserfahrungen gehört, dass man als Patient so gut wie nichts verhindern kann. Es gibt keinen Zustand, in dem der Mensch mehr ausgeliefert ist. 

    Zum Abschied legte mich das Krankenhauspersonal auf eine Trage, und die Sanitäter schnallten mich fest, weil das den Vorschriften entspricht, wie mir erklärt wurde, obgleich ich nicht gefragt hatte.

    Ohrensausen zeigte mir, wie sehr ich mich aufregte entgegen meiner Absicht, gelassen zu sein. Unter dem Torbogen der Heilanstalt, den ich vom Krankenwagen aus nicht sehen konnte, schwanden mir die Sinne, während der Fahrer mit dem Pförtner verhandelte und der Schlagbaum geöffnet wurde. Mein Kopfinneres fiel in Ohnmacht. Mein angeschnallter Körper fiel nicht, er blieb liegen.

    „Aber das Kind ist nicht verrückt!" Ich hörte die erregte Stimme meines Vaters.

    „Das sagen sie alle. wurde energisch erwidert. „Alle Eltern sagen das!

    „Ich bin Arzt, und ich sage Ihnen, dass meine Tochter nicht geisteskrank ist." Mein Vater brüllte so laut, dass ich mich am liebsten verkrochen hätte.

    3.

    Heute bin ich sicher, dass mir allein Karins geduldige Wiederholung meiner Geschichte auf die Beine geholfen hat. Es klang in meinen Ohren beinahe salbungsvoll, wenn sie vom Wunder meiner Wiedergeburt sprach, die sie, ohne rot zu werden, als frühere Rote mehr als einmal Auferstehung nannte.

    Meine Beine waren noch sehr zittrig, als erstmalig die paar Schritte zum Rollstuhl gelangen, und die Knie waren noch immer wacklig, als mich Karin zum ersten Mal im neuen Leben in meine alte Wohnung brachte. Wir fuhren in ihrem schönen Westauto, das ich mit Blicken bewunderte.

    Alte und neue Häuser in leuchtenden Farben grüßten mich unterwegs unbekannterweise, während die altersgrauen Gebäude dazwischen sich trübsinnig und schicksalsergeben dem Verfall überließen. Kurz bevor wir das Viertel mit den eintönigen Wohnblocks erreichten, an das ich mich in vielen Jahren als mein Zuhause gewöhnt hatte, staunte ich über die hellerleuchtete Tankstelle. Ich konnte mich nicht erinnern, was sich früher an diesem vielversprechenden Fleck befunden hatte.

    Die Tankstelle ist super. schien Karin meine Gedanken zu lesen. An allen Ecken und Enden findest du neuerdings Tankstellen, die zu jeder Zeit alles Mögliche für teures Geld verkaufen. Erinnerst du dich noch, wie lange wir manchmal mit dem Trabbi in der Schlange vor der einzigen Zapfsäule weit und breit gestanden haben? Naja, dafür spielte das Geld nicht so eine verdammt wichtige Rolle wie heute.

    Augenscheinlich kamen Karin und Fritz mit dem Geldverdienen unter realkapitalistischen Verhältnissen gut zurecht. Immerhin hatte Karin ihren Trabbi gegen den silbrig glänzenden Wagen eingetauscht, der nahezu geräuschlos dahinglitt. Schwindlig vom Schauen lehnte ich in seinen Polstern. Fürsorglich hatte mich Karin angegurtet. Fragen gingen mir durch den Kopf. Aber ich genoss die neue Erfahrung, dass man nichts versäumt, wenn man ein paar unbeantwortete Fragen erträgt.

    Gleich wirst du staunen! versprach meine Freundin. Eure Häuser sehen nämlich irgendwie richtig toll aus. Erstaunlich, was so ein bisschen Farbe bewirken kann. Wenn sie hält!

    Das Herz schlug mir bis zum Hals, als ich mich auf Karin und am Geländer hängend in den ersten Stock des Hauses hievte, in dem sich meine bejahrte Zwei-Raum-Neubauwohnung befand. Ich wusste, dass das Herzrasen nicht allein von der körperlichen Anstrengung herrührte, sondern vor allem von der Aufregung. In wenigen Augenblicken würde ich meinem Früher begegnen. Was würden mir meine Habseligkeiten über Beate Blaugrün sagen? Was würde ich in dem Zimmer empfinden, in dem ich hatte Schluss machen wollen?

    Für die frühere Beate schien es typisch zu sein, dass die Aktion Selbstmord nicht geglückt war. Warum ich mich umzubringen versucht hatte, reimte sich mein komatös geleerter Kopf mühselig zusammen. Wie Mosaiksteinchen fügte ich die Gründe aneinander. Doch wie verzweifelt ich am 2. Oktober 1990 gewesen sein musste, konnte ich nicht mehr nachempfinden. Es kam mir lächerlich vor, dass ich Dramatik in mein kleines Leben hatte bringen wollen. Aber Durchschnittsmenschen wie ich verzweifeln eben am Dasein, wenn Veränderungen sie aus den vertrauten Bahnen zu werfen drohen. Oder wenn jemand wie ich das denkt!

    Jedenfalls fühlte ich nichts von meiner damaligen Depression, als ich vor dem Bett stand, auf dem mich niemand anders als Karin gefunden hatte. Nur ein einziger Gedanke beherrschte mich, während ich - nach Atem ringend - meiner Wohnung wiederbegegnete: Sie war fürchterlich eng und vollgestopft mit allem möglichen Zeug. Hier bekam man keine Luft. Die schweren Möbel aus der Hinterlassenschaft meiner Eltern wirkten erdrückend. Dass ich das nie bemerkt hatte, wunderte mich.

    Nachdem mein Vater nach langem, mit großer Geduld ertragenem Leiden - wie ich in der Todesanzeige log - eingeschlafen war, floh ich die großen dunklen Räume, in denen ich mein Leben, seitdem ich denken konnte, zerronnen war. Mit meinem kleinen Gehalt als Bibliothekarin bei der Deutschen Reichsbahn hätte ich die Miete schwerlich aufbringen können, obgleich ihre Geringfügigkeit zu den sozialistischen Errungenschaften zählte. Die Riesenräume im ersten Stock der alten Villa, in denen sich die Vorhänge bei geschlossenen Fenstern bewegten, wenn draußen Wind wehte, fraßen Kohlenberge, waren aber nur schwer warm und sauber zu halten. Das hatte ich ausgiebig am eigenen Leibe erfahren. Mein Vater, der Arzt Doktor Blaugrün, hatte, solange meine Mutter lebte, stets eine Haushaltshilfe bezahlt. Erst nachdem er sich zur Ruhe gesetzt hatte, musste seine einzige Tochter als Dienstmädchen zur Verfügung stehen. Tatsächlich stand sie zur Verfügung, die brave Beate, deren Beruf der Herr Akademiker nie ernstnahm.

    „Bücherwurm, mach mal!" pflegte er anzuordnen. Fünfzehn Jahre habe ich als gehorsame Tochter den Haushalt geführt und mit ihm, ohne je zu widersprechen, die Wohnung geteilt.

    Warum fing ich kein neues Leben an, nachdem die Zwänge abfielen und ich von Vater und Wohnung befreit war?

    Ich weiß es nicht. Die herrschsüchtige Stimme hatte mich so lange im Zaum gehalten, was bei meiner Art nicht schwer war. Auch ohne sie blieb ich die gehorsame Tochter.

    Für mich kinderloses Fräulein verhießen die Bestimmungen über Wohnraumlenkung in der Ehemaligen nach Vaters Tod eine Ein-Raum-Wohnung. Doch mein geschäftstüchtiger Erzeuger hatte mich vorausschauend in einer Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft angemeldet, so dass ich eine AWG-Wohnung mit zwei Zimmern beziehen durfte.

    Braunkohle gab es im Land, und Kohleöfen erlaubten billiges Bauen. Zudem bedeutete für die werktätigen Menschen Ofenheizung eine echte sozialistische Hilfe zur Gesunderhaltung. Treppauf und treppab zu laufen, war für Bürger mit sitzender Tätigkeit staatliche Fürsorge. Asche runter und Kohlen hoch - lautete der Rhythmus, dessen Tempo sich daraus ergab, wie warm es einer haben wollte.

    Als ich jetzt gegen die kalte Ofenwand gelehnt stand, umschlossen mich meine vier Wände alptraumhaft, obwohl Karin die Wohnung gelüftet und einen Blumentopf zur Begrüßung auf den Couchtisch gestellt hatte. Das Gewächs mit den weißen Blüten, das an einen gebogenen grünen Plastikstab gefesselt war, sah ich zum ersten Mal. Trotz der vielen Blüten tat es mir leid. Geht es dir nicht gut? fragte die einzige Freundin. Offenbar spiegelte meine Miene etwas von dem Alptraum wider, der mich umfangen hielt.

    In meiner neuen Situation erlaubte die Frage keine eindeutige Antwort. Wenn ich nickte, besagte das: Ja, es geht mir nicht gut. Wenn ich den Kopf schüttelte, hieß es: Nein, es geht mir nicht gut. Um irgendeine Antwort zu geben, schüttelte ich den Kopf.

    Gewöhnt alle Schwierigkeiten des realsozialistischen Alltags zu meistern, würde mich Karin gewiss von Möbelstücken befreien können, die diese beiden Zimmer überfüllten.

    Ich war entschlossen, keines der früheren Gefühle in mir hochkommen zu lassen. Nie wieder im Leben wollte ich mich aus Verzweiflung umbringen.

    4.

    Als Karin mich nach dem ersten Besuch in meiner Wohnung wieder nach Pfaffi fuhr, starrte ich aus dem Fenster, schweigend, wie es meine neue Art war. In der Beziehung zu Karin fiel das nicht weiter auf. Wenn ich mich auf den Erinnerungspfad in die DDR begebe, höre ich Karin reden, sehe mich von Zeit zu Zeit nicken und zu einem wehleidigen Aber ansetzen, dem selten ein vollständiger Satz folgte.

    Im Laufe unserer Bekanntschaft wurde ich zu ihrem dritten Kind. Darin lag wohl der wahre Grund für unsere wunderbare Freundschaft. Das Mutter-Kind-Verhältnis war der Leim für unsere Bindung. Dabei war sie, seitdem ich sie kannte, nicht nur Hausfrau und Mutter, sondern zusätzlich für das Wohl und Wehe einer ganzen sozialistischen Kinderkombination zuständig, die Krippe und Kindergarten vereinte in einem Bauwerk, wie es sich überall in der Republik zweckgebunden wiederfand.

    In Karins Herz war so viel Raum, dass sie mich im zarten Alter von vierzig Jahren als Vollwaise in ihren Familienkreis aufnahm.

    Wir liefen zusammen. Wir joggten hintereinander her oder nebeneinander, und es war die schönste Zeit in meinem Leben. In meinem ersten Leben, füge ich zur Unterscheidung hinzu, denn das neugewonnene soll - wie ich mir selbst dauernd denke - nichts als genussreiche Zeiten bringen. Die Depressionen schicke ich sonst wohin, lasse sie den Bach runter und allein in die Hölle gehen. Im neuen Leben schlucke ich alle Pillen, derer ich habhaft werden kann. Wenn sie mir zu rosiger Stimmung verhelfen, muss nicht eine einzige von ihnen durch die Abflussrohre in die Kanalisation schwimmen.

    Dass ich mit Karin joggte, machte Fritz zwar manchmal eifersüchtig - sofern ein wortkarger Mann das überhaupt zu zeigen vermag -, in mir weckte der Dauerlauf jedoch Begeisterungsschübe. Übrigens bin ich keineswegs lesbisch. So zu denken, wäre falsch. Unter Karins Fittichen war ich zehn Jahre lang Kind und durfte es sein! Mehr war da nicht. Das schwöre ich.

    Bei dieser ersten Ausfahrt wurde mir nicht klar, ob Erinnerungslücken oder die Veränderung der Welt bewirkten, dass ich mich fremd fühlte. Energisch musste ich mich gegen die Angst wehren, die sich ausbreiten wollte und hohnlachend all meine Hoffnungen auszulöschen drohte, ich nähme von nun an das Leben auf die leichte Schulter. 

    Na, erkennst du die alte Stadt wieder? fragte Karin plötzlich. Hat sie sich seit der Wende nicht mächtig verändert? Ein hilfloses Lächeln erschien mir als Antwort angebracht.

    5.

    Wie eine sichere Fluchtburg kam mir das Krankenzimmer  - oder genauer: das Zimmer in der Rehabilitationseinrichtung - vor, in das ich erschöpft zurückkehrte. Ohne mich auszuziehen, sank ich auf das Bett und drehte mich zur Wand. Nach kurzem Zögern verließ Karin den Raum. Beim Hinausgehen wurde sie noch viele gute Wünsche los.

    Sie meinte es immer nur gut. Ich wusste das. Aber manchmal machte sie mich nervös.

    In dem weißen Zimmer, das noch immer untrüglich nach Krankenhaus roch, lag ich ganz allein, entspannt und unbeweglich.

    In diesem Zustand fühlte ich mich wohl. Er diente der Vorbereitung auf das neue Leben. Ich übte, indem ich meine Augen schweifen ließ, die Sachen zu benennen, die ich sah.

    Das war anfangs kein Kinderspiel, sondern schweißtreibende Arbeit. Manchmal trieb mir die Verzweiflung Tränen in die Augen, weil mir ein Begriff wie Lichtschalter oder Fenstervorhang oder Türgriff nicht einfallen wollte. Dass das Ding in der Schublade des Nachttisches Pinzette heißt, kostete mich eine Woche quälenden Grübelns.

    Irgendwie steckte die Neugier auf den Westen in mir, wie sie dereinst fast alle Bürger der Ehemaligen geplagt hatte. Jedenfalls kämpfte ich auf der körperlichen Ebene um gezielte, koordinierte Bewegungen und auf der geistigen um Wörter und Begriffe, wie sie zu Dingen und Lebewesen, Erscheinungen und Handlungen gehörten.

    Vor dem Einschlafen konzentrierte ich mich im Finstern auf meinen Körper und suchte nach den Bezeichnungen für die einzelnen Teile: Großer Zeh, Zehnagel, Ferse und Fersenbein, Knie und Kniescheibe, Oberschenkel, Hüfte, Bauch und Nabel und dazwischen - wie nennt sich das?

    Ich weiß nicht mehr, ob es in der dritten oder vierten oder fünften Woche geschah, in der ich das Spiel wiederholte. Vielleicht war es auch der vierte oder fünfte Monat meiner Rehabilitation. Wichtig ist, dass es überhaupt geschah!

    Als ich meine Oberschenkel hinauf dachte, spürte ich zum ersten Mal im neuen Leben, dass ich eine Frau bin. Ich überließ mich dem aufkeimenden Gefühl und vergaß die Suche nach Begriffen. Was mich da überkam, hatte in meinem vorigen Leben keinen Namen gehabt. Vor lauter Scham oder Verschrobenheit benutzte ich die Wörter nie, mit denen die vermutlich schönsten Dinge im Leben vom Volksmund bedacht werden. So sehr war ich Opfer meiner Erziehung, dass ich nicht einmal im Geiste ordinär war.

    Erotische Literatur gehörte im Sozialismus selbst für mich als Bibliothekarin zu den Engpässen. Vom Kamasutra bis zu Henry Miller herrschte nichts als Mangelware. Nur selten fanden sich in den Bücherschränken von Leuten, die nicht ausgebombt waren, bemerkenswerte fotografische Kulturgeschichten und Bände mit abgegriffenen Seiten.

    Mein Vater verleugnete solcherlei Besitz. Da ich nach seinem späten Tod keinen einzigen Papierschnipsel entdeckte, der ihn als Pornographie liebenden Mediziner ausgewiesen hätte, muss er sein Bekenntnis zu den Roten so weit getrieben haben, dass er unanständiges Schriftwerk vernichtete.

    Als alte Jungfer hatte ich mich stets mit mir selbst zufriedengeben müssen. Einige Gläser Wein halfen mir dabei. Aber Alkoholprobleme bekam ich nie. Dafür gibt es ausreichend Zeugen.

    Meinen Händen gestattete ich, was in Worte zu fassen, ich mir nicht erlaubte. Als geeigneter Ort erschien mir die Höhle unter der Bettdecke, in der ich meinen hochroten Kopf versteckte.

    Da mich nie jemand berührte, musste ich es selbst tun. Ich malte mir Begegnungen mit wunderbaren Männern aus, bis es schließlich ein Fingerspiel war, mich zu beglücken. So tröstete ich mich darüber hinweg, dass kein liebevoller, zärtlicher, gutaussehender, sportlicher, intelligenter Mann auf das Kissen an meiner Seite gefunden hatte. Insgeheim war ich sogar stolz, weil Phantasie und Konzentration ausreichten, auf meiner lieblosen Lagerstatt nicht jedes Gefühl vertrocknen zu lassen.

    Pornos, Massagestäbe und andere Hilfsmittel, die die andere Beate reichmachen, brauchte ich nicht. Wäre es anders gewesen, hätte ich mich damit begnügen müssen, altjüngferlich zu welken. Sexutensilien gehörten ebenfalls zu den Mangelwaren im realen Sozialismus. Es sei denn, man besaß schmuggelfreudige Westbekannte und -verwandte. In manchem Freundeskreis wurden zu aller Ergötzung Privatfotos herumgereicht, auf denen Klaus` Ehefrau Bärbel gerade den Büstenhalter löst und ein Foto weiter aus dem Slip steigt. Selbstverständlich saß eine unverheiratete Person wie ich nicht in diesen anregenden Runden. Außerdem hätte ich mich spätestens nach dem siebten anzüglichen Witz zurückgezogen. Aber dazu hatte ich nie Gelegenheit.

    Ich war ein hässliches Kind.

    Wer wird nicht zum unglücklichen Menschen, wenn

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