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Der Friedhofsänger 7: Die Wahrheit: Mystery-Horror-Reihe
Der Friedhofsänger 7: Die Wahrheit: Mystery-Horror-Reihe
Der Friedhofsänger 7: Die Wahrheit: Mystery-Horror-Reihe
eBook289 Seiten3 Stunden

Der Friedhofsänger 7: Die Wahrheit: Mystery-Horror-Reihe

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Über dieses E-Book

Er ist alt. Allein. Und verflucht...
Als er vom Tod seiner Mutter erfährt, macht der am Rande der niederrheinischen Wallfahrtsstadt Kevelaer lebende Eremit Werner P. Bonner, auch Friedhofsänger genannt, die Entdeckung einer ganz besonderen Gabe, über die er verfügt: Sobald er die Hand auf einen Grabstein legt, erfährt er, wie der Mensch, der dort begraben wurde, zu Tode gekommen ist. Und was er sieht, lässt ihn Schreckliches erahnen: Das Böse hält Einzug in Kevelaer. Es tötet Menschen. Und es folgt einem teuflischen Plan…
SpracheDeutsch
Herausgebermainebook Verlag
Erscheinungsdatum1. Feb. 2017
ISBN9783946413783
Der Friedhofsänger 7: Die Wahrheit: Mystery-Horror-Reihe

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    Buchvorschau

    Der Friedhofsänger 7 - Daniel Stenmans

    zusammen…

    Teil Eins

    1

    Ich saß in meinem Garten, als mich die Nachricht vom Tod meiner Mutter erreichte. Ich hatte die Beine hochgelegt und starrte verlorenen Blickes auf ein paar sich sachte im Wind bewegende Sonnenblumen, die ich als eine Art Sichtschutz gepflanzt hatte. Ihre massigen Köpfe zuckten stumm vor und zurück, wie Gäste bei einer Rock-Ballade auf einem Konzert. Meine Fingerkuppen strichen über den rauen Stoff meiner Hose. Sie war alt, ausgebeult, aber ungeheuer bequem. Ich trug selten eine andere. Außer wenn es sich nicht mehr vermeiden ließ und ich sie waschen musste. In dem Spießkübel hinter meinem Heim, einem abblätternden Bauwagen.

    Das Leben, das ich führte, gefiel mir. Natürlich hatte ich mal ein anderes gehabt. Eines, das nicht schlecht war. Aber dieses war besser. Ich war allein, hatte meine Ruhe.

    Und ich konnte tun und lassen was ich wollte.

    Seit zehn Jahren lebte ich hier in meinem Bauwagen. Nachdem meine Frau gestorben war und meine Tochter mich aus unserem Haus geschmissen hatte, schlenderte ich durch die Gegend. Ich hatte ein paar Nächte im Südpark verbracht, eine Nacht sogar windgeschützt unter der Brücke am Ende der Gelderner Straße. Die Brücke war ein Teil der Umgehungsstraße von Kevelaer, die aber nicht wirklich etwas umging. Wie so viele andere politische Ideen, war auch die OW1 eine Unvollendete. Kevelaers Berliner Flughafen, wenn man so wollte.

    Dort im Windschatten der Brücke und im hohen Gras liegend war es überraschend gemütlich gewesen. So gut wie dort, hatte ich selbst in meinem Bett nicht geschlafen. Doch ein mürrischer Nachbar, der sich durch meine Anwesenheit bedroht fühlte, verscheuchte mich. Mit einer Axt und einer kraftvollen Faust bewaffnet stapfte er auf mich zu, unkontrollierte Wut im Blick, und schrie mich an: „Mach dass du weg kommst, du Penner!"

    „Ich tu doch nix", hatte ich ihm geantwortet.

    „Verpfeift dich, sag ich!"

    Der Mann hatte mit der Axt ausgeholt. Hätte ich meinen Mund auch nur wenige Millimeter geöffnet, hätte er das Ding auf mich geschleudert und mir den Schädel gespalten.

    Also tat ich das einzig Vernünftige. Ich machte, dass ich weg kam.

    Eine glückliche Fügung. Denn hätte mich dieser Idiot nicht mit seiner Axt bedroht, wäre ich nicht in Richtung Südstraße geflohen und hätte nicht den alten, verlassenen Bauwagen gefunden, der am Rande des neuen Gewerbegebietes stand, schön versteckt hinter einem mit Disteln bewachsenen Erdwall und einem wuchernden Wildwuchs aus Lorbeer- und Buchenhecken. Die halb aus den Angeln gebrochene Tür hing wie ein loser Zahn im Rahmen. Ich schob sie beiseite, kletterte die morschen Stufen hinauf und legte mich hin. Schwer atmend auf den Boden. Ein verrosteter Nagelkopf bohrte sich mir in den Rücken. Aber das störte mich nicht. Denn ich wusste, hier würde ich meinen Frieden finden. Einen, der zehn Jahre anhalten sollte.

    Bis heute.

    Ich hatte die Augen geschlossen und lauschte dem Brummen einer aufgeregten Hummel, als meine Alarmanlage einen Besuch ankündigte.

    „Scheiße!", empörte sich eine weibliche Stimme.

    Ich erkannte sie sofort, obwohl ich sie schon eine ganze Weile nicht mehr gehört hatte. Es versetzte mir einen Stich. Ich überlegte, mich im Bauwagen zu verstecken, zu warten, bis sie wieder weg war. Aber da sie schon mal den Weg zu mir hinaus gefunden hatte, musste etwas Wichtiges geschehen sein. Ich hatte keine Idee, was das sein konnte.

    Die letzten Worte, dir mir meine Tochter geschenkte hatte, lauteten: „Verpiss dich aus meinem Leben, du Versager!" Und dann hatte sie die schwere Haustür aus massivem Eichenholz, die ich mit meinen eigenen Händen eingebaut hatte, ins Schloss geworfen.

    Nun sollte ich Tina wiedersehen.

    Ich hatte häufig davon geträumt wie es wohl sein würde. Doch nie, wie ich um meinen Bauwagen herumging und sie vornüber gebeugt inmitten einem Meer aus Disteln stehen sah, den rechten Fuß in einer eingetretenen Eiscremedose, meiner Alarmanlage.

    In einem Radius von fünf Metern um meinen Bauwagen hatte ich mit einem Abstand von einem Meter Zwei-Liter-Eimer leere Eiscreme-Dosen vergraben. Diese hatte ich mit Wasser gefüllt und anschließend mit einer sehr dünnen Erdschicht abgedeckt. Sodass man einbrach, sollte man das Pech haben, genau auf einen der Deckel zu treten. Zuerst erschrak man über den plötzlichen Stolperer und dann über das kalte Wasser, das einem unangenehm in den Schuh floss. Mir war das selbst einmal passiert.

    Man konnte nicht anders als schreien. Eine bessere Alarmanlage gab es nicht.

    „Tina…", sagte ich, als ich meine Tochter ihr Bein anheben sah, der Deckel wie ein modernes Fußkettchen um ihren Knöchel hängend. Sie trat hilflos in die Luft, um sich von dem Plastikkragen zu befreien. Es half nichts.

    Als sie mich sah, hielt sie inne. Schaute mich stumm an.

    Für einen kurzen Moment trat ein Glanz in ihre Augen. Vielleicht eine Erinnerung an die Zeit, als noch alles gut war. Als nicht nur ich, sondern auch ihre Mama noch bei ihr waren und unser Leben einfach wunderschön, unbeschreiblich, ja, vollkommen gewesen war. Doch so schnell dieser Glanz auch gekommen war, so schnell war er auch wieder verschwunden. Als schöbe sich eine Wolke vor die Sonne, verdunkelte sich ihr Antlitz und ihre Mimik wurde frostig.

    Sie nickte zum Gruß.

    „Tina… du bist… groß… geworden." Eigentlich wollte ich alt sagen. Aber das sagte man wohl nicht zu einer jungen Frau von… Wie alt war sie jetzt? Einunddreißig? Ich war mir nicht sicher, aber ich dachte, ich war nah dran. „Ist was passiert? Kann ich dir helfen?"

    „Ich wüsste nicht, wobei du mir eine Hilfe sein solltest." Das saß! Aber sicher hatte sie recht.

    Ich schwieg, ging nicht weiter auf sie zu. Die Distelköpfe zwischen uns bewegten sich im Wind, schienen in Deckung zu gehen.

    „Es geht um Oma", sagte Tina.

    „Was ist mit…", begann ich, doch sie ließ mich nicht ausreden.

    „Sie ist tot!"

    Dieses Mal stockte ich nicht nur, ich machte sogar einen Schritt zurück. Es war, als hätte sie mir tatsächlich eine Ohrfeige versetzt. Sofort schoss mir das Blut in den Kopf und mir wurde elendig heiß. Schweiß stand auf meiner Stirn. Ich wischte ihn fort. Er war kalt.

    „… tot…?" Mehr konnte ich nicht sagen.

    „Ich dachte, du solltest es wissen."

    „Ich…", begann ich, konnte aber nicht weiter sprechen. Mir war, als hätte jemand meine Kehle mit Sägemehl gefüllt.

    „Falls dir überhaupt noch irgendetwas wichtig ist, außer dir selbst…" Tina schenkte mir einen letzten, verachtenden Blick.

    „Warte!", brachte ich hervor.

    Und tatsächlich hielt sie inne. Sie wandte mir ihre Schulter zu, drehte sich aber nicht komplett herum.

    „Willst du… herein… kommen…", fragte ich hilflos und wies mit zitterndem Finger auf meinen maroden Bauwagen, durch den der Wind pfiff, der mich nachts ordentlich frösteln ließ, wenn ich nicht richtig zugedeckt war.

    Ist das dein Ernst?, sagte ihr Blick. Dann grunzte sie verächtlich und ging davon mit ausladenden Schritten über Disteln, Dreckklumpen und Schlaglöcher.

    Das hatte ich erwartet. Dennoch hatte ich für einen kurzen Moment gehofft, sie hätte sich anders entschieden. Vielleicht beim nächsten Mal, dachte ich. Es war schon ein gutes Zeichen, dass sie überhaupt hierhergekommen war. Beim nächsten Mal würde sie bestimmt…

    Beim nächsten Mal.

    Doch da war auch sie tot.

    2

    Oma ist tot, raunte mir Tinas Stimme durch den Kopf. Es war wie in einem Film, in dem der Hauptdarsteller dem Wahnsinn anheimfiel und aus jeder Ecke seines Hauses Stimmen zu hören schien. Tinas Stimme kam aus der halboffenen Schublade der improvisierten Küchenzeile, die schon seit ihrem Bestehen nicht mehr richtig zu schließen war. Sie drang von unter dem Bett zu mir herauf, dort unten wo es nicht viel mehr außer Wollmäuse gab. Außer nachts. Da versteckten sich dort meine Dämonen und vertrieben den Staub. Tinas Stimme zischte durch die Ritzen in der Bretterwand des Bauwagens, manche so groß, dass man einen Zollstock quer hindurchschieben konnte. Von überallher kam ihre Stimme und verkündete mir immer und immer wieder das Unverständliche, den Tod meiner Mutter.

    Dabei gehörte es zum Lauf der Dinge dazu.

    Menschen wurden geboren. Und starben irgendwann. Entweder weil sie zu alt geworden oder krank waren. Manche starben durch einen Unfall oder weil sie das Opfer eines Verbrechens wurden. So schrecklich alles auch war, es geschah, mehrmals am Tag.

    Es war nicht der Tod meiner Mutter an sich, was mich so schockierte. Immerhin war sie auch schon…

    … 71 Jahre alt?

    Ich zweifelte, war mir aber sicher, dass ich ungefähr richtig lag.

    Was mich schockierte, war, dass ich mich nicht von ihr hatte verabschieden können. Dass ich überhaupt nicht mehr mit ihr hatte sprechen können. Ich hätte ihr gerne gesagt, dass ich sie trotz allem noch lieb hatte. Gerne hätte ich ihr auch gesagt, dass es mir leidtat. Bestimmt sogar, auch wenn ich dies sicher nie öffentlich zugeben würde. Aber es gehörte sich so. Doch nun war das alles nicht mehr möglich. Meine Mutter war mit der Erinnerung gestorben, dass ihr einziger Sohn sie eine „verdammte Ziege" genannt und sie geohrfeigt hatte. Wollte man so sterben? War es einem überhaupt möglich, so in Frieden zu gehen? Ich bezweifelte das. Doch leider konnte ich nichts mehr daran ändern.

    Ich stand in meinem Garten, einer wüsten Graswiese mit hüfthohen Disteln, wildwucherndem Girsch, mannshoher Schafgarbe und am Rande ein paar verkümmerten Trauerweiden.

    Und jetzt? Was sollte ich nur tun?

    Ich hatte keine Ahnung. Ich dachte, dass man von mir erwartete, zu ihrer Beerdigung zu gehen. Doch das konnte ich nicht. Ich konnte ihnen nicht unter die Augen treten. Tina nicht, ihrem Mann Steffen nicht. Und auch ihrer Tochter nicht… Wie hieß die Kleine noch?

    Johanna? Oder nur Hanna?

    Verdammt! Mir fiel der Name meiner Enkelin nicht ein. Aber konnte man mir einen Vorwurf machen? Immerhin hatte ich sie noch nie gesehen. Außer ihren Fingern in Schwarzweiß kannte ich nichts von ihr. Die waren nämlich als Foto nebst Geburtsanzeige in den Niederrhein Nachrichten abgedruckt gewesen. Jetzt fiel es mir wieder ein. Hanna Sophie. Ohne H.

    Mit einem Mal traf mich eine ungeheure Niedergeschlagenheit, dass ich mich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Sie fühlten sich weich an. Zittrig. In meinen Wangen kribbelte es und ich musste mich setzen. Ich hockte mich einfach ins hohe Gras. Irgendetwas stach durch meinen Hosenboden. Es interessierte mich nicht. Entweder hatte ich mich auf eine Hummel oder eine Diestel gesetzt. Scheiß egal. Ich hatte es verdient.

    Und dann kamen die Tränen. Ich merkte es erst gar nicht. Ein Schrei wollte meiner Kehle entweichen. Ich öffnete den Mund, doch nichts drang daraus hervor. Ich biss mir in die Hand.

    Warum tat es auf einmal so weh?

    Vielleicht weil mir bewusst geworden war, dass ich nicht nur alleine war, sondern auf immer und ewig alleine bleiben würde.

    Bislang hatte mir das nie etwas ausgemacht. Bis heute. Bis gerade eben.

    3

    Ich ging zur Beerdigung. Hielt mich aber im Hintergrund. Pastor Reinhardt führte die Trauergemeinde an. Es waren viele. Ich hatte nicht erwartet, so viele Leute anzutreffen. Nicht gesehen zu werden, stellte sich als schwieriger heraus, als ich angenommen hatte. Noch dazu, dass mein Äußeres nicht gerade als unauffällig hätte beschrieben werden können. In meinen Hosen hatte ich Hochwasser, mein Hemd – das einzige, das ich besaß – war speckig und der bodenlange Mantel war zwar schwarz, doch zwei rote Flicken an den Ellenbogen schienen sogar im Dunkeln zu leuchten. Das einzig Vorzeigbare war meine Krawatte, ein hübsches, glänzendes Ding von Seidensticker. Doch die sah keiner, da ich den weiten Mantel um meine knochigen Hüften geschlungen hatte, um so die unangenehm beißende Kälte fernzuhalten.

    Der Sarg meiner Mutter wurde neben meinem Vater – Gott hab ihn selig – in die Erde gelassen. Vier Männer standen rechts und links des Grabes und ließen die hölzerne Truhe in gleichmäßigem, gemäßigtem Tempo hinab in die feuchte Dunkelheit. Anschließend sprach Pastor Reinhardt noch ein paar Worte, die ich aber nicht verstand, da ich zu weit vom Grab entfernt stand. Nur die abschließenden „Ruhe in Frieden und „Amen wehte der hartnäckig kalte Wind zu mir herüber. Es ist viel zu kalt für fast Mai, dachte ich, als ich ein Zucken am Saum meines Mantels spürte.

    Ich wandte mich nach rechts, sah aber nichts.

    Doch das Zucken hielt an.

    Ich neigte den Kopf und blickte in zwei strahlend blaue Augen, die von einem Kranz gebogener Wimpern umrahmt wurden.

    „Ich kenne dich", sagte eine glockenhelle Stimme. Der Mund, der das sagte, lächelte mich an.

    „Was…?" Zu mehr war ich nicht in der Lage. Das kleine blondgelockte Mädchen zu meinen Füßen sagte, dass es mich kannte. Obwohl ich es noch nie zuvor gesehen hatte, wusste ich sofort, wer sie war. Dafür war sie meiner Tina, als sie im selben Alter gewesen war, zu sehr aus dem Gesicht geschnitten.

    „Ja… ich kenne dich…"

    „Und wer bitte schön bin ich?"

    „Ich glaube, du bist mein Opa."

    „Du glaubst…?"

    Das Mädchen nickte. „Ich hab dich auf einem Foto gesehen. Im Fotoalbum meiner Uroma. Der Mann neben meiner Oma sieht genauso aus wie du, nur besser."

    „Besser?" Ich hob die Augenbrauen und verkniff mir ein Grinsen.

    „Ja, jünger. Und der Anzug auf dem Foto ist auch schöner."

    „Aha…"

    „Warum bist du so dreckig?"

    Ich zuckte mit den Schultern.

    „Magst du es nicht, sauber zu sein?"

    „Doch… eigentlich… schon…", stotterte ich.

    „Und warum bist du es nicht?"

    „Nun ich… ich… hatte heute Morgen keine Zeit…"

    „Dich zu waschen? Das ist lustig. Das sollte ich mal meiner Mama sagen. Ich bekäme drei Wochen Hausarrest."

    „Du bist Hanna, richtig?"

    Die Kleine nickte. „Du kennst mich also auch", sagte sie und strahlte.

    Ich schwieg. Besser nichts sagen, als irgendetwas Dummes, schoss es mir durch den Kopf.

    „Warum kommst du mich denn nicht mal besuchen? Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, wenngleich ich immer noch keine Ahnung hatte, was. „Du bist doch schließlich mein Opa. Stimmt’s?

    „Naja… irgendwie stimmt das schon, sagte ich. „Aber…

    „Sie ist tot", unterbrach mich Hanna. Offenbar hatte sie kein Interesse an einer lächerlichen Erklärung. Sie schien clever zu sein. Viel cleverer als ich es von einer Achtjährigen erwartet hätte.

    Ich sah sie mit erhobenen Augenbrauen an.

    „Uroma ist tot. Ich hab sie eigentlich ganz lieb gehabt. Aber sie war oft grimmig. Sie hat sehr wenig gelacht. Und selbst wenn sie das getan hat, sah sie dabei nicht glücklich aus. Selbst beim Lachen hingen ihre Mundwinkel nach unten. Ungefähr so… Hanna imitierte ein Grinsen mit herunterhängenden Mundwinkeln. Ich musste lachen. Hannas Augen leuchteten. Sie zeigte mit dem Finger auf mein Gesicht. „Deine Mundwinkel zeigen nach oben, wenn du lachst. Dann bist du nicht so traurig, stimmt’s?

    „Wohl nicht", sagte ich.

    „Das ist schön. Hanna schwieg und blickte hinüber zu der sich langsam auflösenden Trauergemeinde. „Ich wäre ganz schön traurig, wenn ich so allein wäre wie du.

    Das saß. Ihr unbedacht hervorgebrachter Satz traf mich mit einer brutalen Wucht, dass ich schwankte. Ich ächzte.

    „Meine Uroma ist doch deine Mama. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das ist, wenn meine auf einmal tot wäre."

    Ich musste schlucken. Tränen traten mir in die Augen, verschleierten meinen Blick auf meine Enkelin.

    „Du weinst, sagte sie. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch nur ein unartikulierter Laut, eine Art Schluchzen, kam hervor. „Das ist schon in Ordnung. Wenn man traurig ist, muss man weinen. Denn sonst lacht man irgendwann mit den Mundwinkeln nach unten.

    Meine Tränen wollten gar nicht aufhören zu fließen. Doch gleichzeitig musste ich lachen. Die grenzenlose Leichtigkeit, mit der dieses Kind die Wahrheit des Lebens bereits erkannt hatte, war so erfrischend, dass ich gar nicht anders konnte, als zu lachen.

    Ich wischte mir mit dem Ärmel über die Augen und schniefte.

    „Brauchst du ein Taschentuch?"

    „Hast du eins?"

    Sie nickte und kramte in der Tasche ihrer dunkelblauen Jeans. Sie hielt mir ein verknittertes Päckchen Papiertaschentücher hin. Ich bediente mich, wandte mich zur Seite und schnäuzte mich.

    „Danke", sagte ich.

    „Gerne."

    „Hier bist du!" Die Stimme zerschnitt den Moment wie eine Schere das Band eines schönen Geschenkes. Die Augen, die mich ansahen, fixierten mich. Eiskalt und abschätzend betrachteten sie mich. Sie gehörten einem Mann, der fast an die zwei Meter groß war. Das musste Steffen sein.

    Ich nickte grüßend, konnte aber nichts sagen.

    Steffen nickte zurück und für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich, die Wut auf mich schwinden zu sehen. Immerhin ein Anfang.

    „Papa, das ist mein Opa, stimmt’s?"

    „Sie sind Werner?", fragte der Mann.

    Ich nickte.

    „Dann hast du recht, mein Schatz."

    Ich zeigte hilflos auf die kleine Hanna. „Tut mir leid, es war nicht meine Absicht, dass…"

    „Vergessen Sie’s", sagte der Mann. Er stellte sich aufrecht hin, die kleine Hand seiner Tochter verschwand in seiner riesigen Pranke.

    „Ich wollte nur…"

    „Ich denke, ich weiß, was Sie wollten. Und das ehrt sie. Aber ich glaube, es wäre besser, wenn Sie jetzt gehen."

    Ich nickte.

    „Aber warum kann Opa nicht mit uns kommen?"

    Steffen sah auf seine Tochter hinunter, dann ging er in die Knie und nahm ihre Hände in die seinen. Ich schluckte einen Kloß hinunter. „Das ist keine gute Idee, mein Schatz, sagte er. „Weißt du, Mama ist ganz traurig, dass Oma tot ist und…

    „Aber Opa ist auch traurig. Dann können wir doch zusammen traurig sein. Ist viel besser, als alleine traurig zu sein. Und…"

    „Weißt du, kleine Hanna, sagte ich und versuchte, meine Stimme fest klingen zu lassen. „Ich finde es sehr nett, dass du auch an mich denkst. Es ist nur so, dass ich lieber alleine traurig wäre. Ich bin so sehr daran gewöhnt, dass ich es anders gar nicht könnte.

    Hanna öffnete ihren Mund, wollte etwas sagen. Doch es kam nichts.

    „Danke", sagte ich.

    „Das ist…, begann sie. „Das ist wirklich traurig. Und jetzt war es an ihr, zu weinen.

    Steffen nahm seine Tochter auf den Arm und drückte ihr einen Kuss auf die kleine, gerötete Wange. „Lass gut sein, mein Schatz." Wir verabschiedeten uns, wieder mit einem Nicken.

    „Auf Wiedersehen", sagte ich.

    Hanna sagte nichts, vergrub ihr Gesicht in die Mulde zwischen Hals und Schulter ihres Papas und weinte, dass ihr kleiner Körper zitterte. Es galt nicht mir. Es war die Summe von allem, was dieser kleinen Seele gerade angetan wurde. Es war auch wirklich viel.

    Ich ging und drehte mich wieder um. Ich wollte meine Enkelin noch einmal sehen. Doch auch Steffen hatte sich auf den Weg gemacht. Sie war weg. Und ich war wieder allein.

    In der Nacht kehrte ich zurück auf den Friedhof. Ich hatte mich von meiner Mutter noch nicht verabschiedet. Das wollte ich nachholen. Und da ich nicht Gefahr laufen wollte, dass man mich sah – ich stellte mir vor, dass gerade in den ersten Tagen nach der Beerdigung ein Grab häufig aufgesucht wurde –, kam mir der Gedanke, mich in der Dunkelheit aufs Friedhofgelände zu schleichen.

    Ab 22 Uhr wurden die Portale des Friedhofs verschlossen. Eines gab

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