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HOTEL SHINING: DAS ENDE ALLER GEBURTEN
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eBook230 Seiten3 Stunden

HOTEL SHINING: DAS ENDE ALLER GEBURTEN

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Über dieses E-Book

Gordon, der Meeresbiologe, erforscht auch die Tiefen der Psyche mit ungewöhnlichen Mitteln. Er analysiert seine ungewöhnlichen Erlebnisse streng wissenschaftlich. Dabei bewegt er sich selbst auf dünnem Eis. Zum ersten Mal in seinem Leben fährt er allein zu einer bekannten Rehaklinik, aufgrund seiner Wirbelsäulenprobleme. Das Hotel in den österreichischen Bergen ist ganz im Stile des "Overlook" aus dem Film "The Shining" gebaut. Aber nicht nur das Ambiente weist stark filmische Bezüge auf. Auch die Patienten an seinem Tisch weisen Ähnlichkeiten mit Gestalten aus der Literatur und Computer-Spielen auf. Das ganze Szenario des entlegenen Spitals beunruhigt ihn. Allein die Begegnung mit der Patientin Songe Sagesse löst bei ihm eine Flut verschütteter Erinnerungen aus. Ereignisse aus Träumen, Meditationen und Vorstellungen, mischen sich mit tatsächlich Erlebtem und ergeben einen verborgenen Sinn. Unvermutet werden unverstandene Fragmente zusammenhangloser Erlebnisse zu einem kompakten Mosaik, das die Geheimnisse des Daseins lüften könnte. Gedankensplitter aus der Tiefe des Unbewussten über eine Hexe in einem grünen Kleid rütteln auch Songe Sagesse auf. Gordon ist Naturwissenschaftler und akzeptiert nicht kritiklos den Kausalitätszwang. Doch zu Silvester hebt sich der Vorhang ein wenig. Gordon ahnt jedoch nicht, als er sich einen Wing-Suit bestellt, dass er durch diesen Wunsch zu fliegen, seine Angst vor der Wahrheit endgültig überwindet und an den Ort gelangt, der ihm schon als Kind bekannt war, den er aber in der Realität nie gefunden hatte. Dort am höchsten Punkt zwischen den Kalkkögel laufen alle Wege zusammen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum11. Nov. 2018
ISBN9783742716583
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    Buchvorschau

    HOTEL SHINING - Gerald Roman Radler

    ERSTES BUCH

    Sie hatte die Gabe, das war mir sofort klar. Gleich als ich sie im Speisesaal sah, wusste ich, dass sie etwas Besonderes war. Aber ob sie es selbst so klar sah, bezweifelte ich. Eigentlich machte ich mir zu diesem Zeitpunkt bewusst noch keine Gedanken über diese Dinge, es war mehr so eine leise Stimme, die wie in einem Selbstgespräch die Situation analysierte. In mir war eine Art Wissenschaftler, der alles um ihn herum sezierte und begutachtete. Und das war keine Spaltung, denn ich war ja Wissenschaftler. Nur war ich eben nicht das, wofür man mich halten konnte. Ein Psychiater. Vielleicht ein Philosoph, oder sogar Journalist. Manchmal hielten mich die Leute für einen Techniker. Einmal sagte ein junges aufmerksames Fräulein, mit dem ich am Strand auf einer Forschungsreise zu den Azoren sprach: „Ich glaube, sie sind HTL-Lehrer, oder Mathematikprofessor am Gymnasium".

    Nichts von alledem stimmte. Mir hatten es die Meere und Gewässer angetan. Sie waren so tief wie das Unbewusste selbst und genauso unerforscht. Offensichtlich war ich ein Archetyp für viele Belange. So etwas kann man nicht lernen, so etwas wird man. Aus bestimmten Gründen, gehen Menschen verschlungene Wege, die dazu führen, dass sie zu einem Archetyp werden. Dazu ist es wichtig, dass ein Mensch niemals der Angst den Sieg lässt. Die Angst vor dem Unbekannten endgültig zu besiegen, wird nie ganz möglich sein. Sie wird immer wieder in verschiedenen Verkleidungen auftauchen, gerade dann, wenn man es am allerwenigsten erwartet. Aber selbst in der größten Not, wenn man sich geschworen hat, fürderhin leise zu treten und sich zu verkriechen, beginnt schon der Plan für den nächsten Angriff. Zumindest war es bei mir so.

    Diese Angewohnheit ist mit der Absicht eines Bergsteigers zu vergleichen, der erkennt, dass er nicht den Schatten einer Chance hat und umkehrt. Weil er vielleicht zu erschöpft ist, oder das Wetter umgeschlagen hat. Aber er beginnt mit dem Abstieg nur, damit er bald wiederkehren kann und sich der Gefahr gestärkt stellen kann. Und dann kann es passieren, dass man zu einem Archetyp wird, den man im Märchen findet, in den Sagen, den Legenden. Sie sehen ohnedies für ihre Mitmenschen alle gleich verwunderlich aus und wenn man Pech hat, wird man eine Hülle, in der ein namenloses Programm abläuft. Der Held, der seine Bestimmung erfüllen muss, das eigene Sehnsüchte zurückstellend. Ich aber habe noch alles, was mich als Mensch auszeichnet, einschließlich des Wunsches Mensch zu bleiben, kein Gott werden zu wollen. Kein gefürchtetes Monster, oder ein Heiliger, den die Leute anbeten. Und in dieser Situation, bereits in der zweiten Hälfte meines Lebens, verschlug es mich ins Hotel Shining, wo ich in eine Art Zeitloch zu fallen schien, in dem alles möglich schien.

    An meinem Tisch, im gigantisch ausufernden Speisesaal saßen Asterix mit seiner Frau Notburga, das einzige Ehepaar, der kahlköpfige Minecraft, der nur einige Kilometer entfernt von hier wohnte, Primus von Quak, der kleine, zierliche Waldschratt, das „Kasermandl" der Steiermark und Songe Sagesse. Als ich sie sah, gab es mir einen Stich. Ich kannte sie. Aber sicher nicht von hier. Sie sah besonders aus. Wie aus einer anderen Zeit. Eine starke Kraft strömte von ihr auf mich aus, die ich noch nicht recht deuten konnte. Sie bewegte sich so langsam und würdevoll und hatte einen ernsten Gesichtsausdruck aufgesetzt. Ich überlegte, wer sie denn sein konnte. Hatte ich sie auf einer meiner Reisen getroffen? Vielleicht hatte sie im Biozentrum gearbeitet, oder sich als Studentin in der Fachbibliothek Biologie öfters ein Buch ausgeborgt? Ich wollte abwarten und vorläufig nichts sagen. Doch es dauerte nicht lange und sie sprach. Sie nahm sich kein Blatt vor den Mund. Gleich am Anfang sagte sie, dass sie mich kenne und nicht mehr wüsste, woher. Im Plauderton erwähnte sie dann ferner, dass sie eine Hexe in einem Vorleben gewesen war, aber nichts Genaues darüber wüsste.

    Wie recht sie damit hatte! Es war als hätten nur wenige Teile gefehlt, um in diesem Puzzle das richtige Bild zu erkennen. Das war somit geschehen. Ich sah sie bereits brennen – im Feuer der Reinigung – als sie in dem Moment im Plauderton verlautbarte, dass sie wahrscheinlich verbrannt worden war. Ich konnte schwören, dass ich sie schon früher einmal auf einem alten Kupferstich gesehen hatte, in bebilderten Büchern über Hexen. Vielleicht sogar in dem Buch von Kurt Blaschwitz, „Hexen und Hexenprozesse", das ich auf meiner ersten Reise nach Griechenland mit mir geführt hatte. Damals hatte ich sicher keine Assoziation zu Songe Sagesse gehabt. Mit diesem schweren Wälzer wollte ich unbedingt mein ansonsten leichtes Gepäck komplettieren. Das Thema war heikel, aber es war ein Stück innerer Heimat, das ich mit mir führte, ohne erklären zu können, warum gerade dieses Buch und nicht Hermann Hesse, Carlos Castaneda, oder ein anderes Buch geschätzter Autoren. Ich war der Wahrheit so nahe gewesen. Und dennoch war ich blind gewesen. Immer wieder wurde ich von Fragmenten aus vergangenen Leben bedrängt, in Form von Bildern, Szenen und altbekannten Gesichtern. Ich hörte manchmal vor dem Einschlafen Menschen über irgendwelche belanglose Dinge an mittelalterlichen Orten reden. Ich erinnerte mich, dass ich schon öfters die Vision von einer Gruppe Menschen gehabt hatte, die um einen Brunnen tratschend gestanden waren und mit ihnen Songe Sagesse. Ich war der heimliche, ungesehene Zuhörer gewesen!

    Und jetzt stand sie vor mir. Ihre dichten, langen Haare, die großen Augen, die leicht aufgestellte Nase. Das Gesicht wirkte nicht, als wäre es aus der Gegenwart. In jeder Epoche sahen die Menschen, entsprechend ihrer Lebensumstände, anders aus. Ich hatte ihre Figur noch gut in Erinnerung, sie musste einfach aus einem anderen Jahrhundert stammen. Viele Frauen der Gegenwart hatten ganz andere Proportionen – waren bleich und abgemagert, weil sie die zerstörerische Kraft der Sonne fürchteten und einen strengen, vermeintlich gesunden Diätplan einhielten. Aber Songe Sagesse sah echt aus. Sie hatte Rundungen an den passenden Stellen und ihr Busen wies eine beruhigend natürliche Form auf. Ihre Lippen waren eher schmal und reizvoll geschwungen, so dass man ihre zwei frechen Schneidezähne sehen konnte, wenn sie lächelte. Sie konnte nur eine Hexe sein! Und natürlich war sie nicht verbrannt worden. Es hätte sie nur ein Ethnologe genauer betrachten müssen. Das sehen müssen, was ich sah! Falls das im Mittelalter jemand mitbekommen hätte, wäre es um sie geschehen gewesen. Nur lebten wir im einundzwanzigsten Jahrhundert und ich war kein Inquisitor. Wäre ich einer gewesen, ich hätte sie bei Nacht und Nebel befreit. Ich hätte nur so getan, als würde ich sie der Hochnotpeinlichen Befragung unterziehen. Und dann zur Flucht verhelfen. Ja, ich wollte Songe Sagesse zur Flucht verhelfen. So wie ich es damals getan hatte. Ich wollte mit ihr aus dem Hotel Shining fliehen. Aber dazu bestand kein Anlass für sie. Sie schien sich hier wohl zu fühlen. Dieser Wunsch betraf eher mich und ich erwog, mich in der Nacht aus der Klinik zu stehlen, um zurück nach Wien zu reisen.

    Ein tiefer Schmerz zog in Wellen durch meine Brust. Eine alte Schuld, die ich mit meinem Handeln in grauer Vorzeit aufgeladen hatte, längt erkannt, verstanden und beglichen und nun erneut aufgeflammt für eine letzte Entrichtung. Was hätte ich den tun sollen? Es war meine Tarnung gewesen. So konnte ich ungehindert der Zauberei frönen, geschützt durch die Unwissenheit der Menschen, die in harmlosen Mitbürgern, vor allem aber in Frauen, Kundige vermuteten. So konnte mir niemand auf die Schliche kommen, niemand vermochte mir etwas anzuhaben. Ich befragte die Kandidatinnen und stellte die Schwere ihrer Verfehlungen fest. Dabei kam ich immer zu dem Schluss, dass sie nicht mit dem Satan im Bunde standen. Ich selbst stand natürlich genauso wenig mit dem Teufel im Bunde. Ich kannte den Teufel gar nicht. Ich bezweifelte damals, dass es ihn gab. Genauso wie ich die Existenz eines Gottes für unwahrscheinlich hielt. Ich hatte eher durch Zufall etwas Unglaubliches entdeckt.

    Eine Möglichkeit, sich an frühere Leben zu erinnern. Man kann es eine Art „Roter Faden" nennen, der sich durch alle Leben durchzog. Es war so, als fände man im Traum eine wunderschöne Blume, die man pflückt und sie mit sich nimmt. Und nach dem Erwachen findet man die Blume – findet man den Traum. Durch die Blume, die formvollendet am Bettlaken liegt, erinnert man sich an den rasch verflogenen Traum. Plötzlich ist alles da und man kann sein Leben nutzen, um sich wieder vorzubereiten, auf das Sterben, das sich wieder erinnern. Bei mir war es eine Blume, oder besser – wie ein Blume. Es war streng genommen eine Droge, die älter als die Menschheit selbst ist. Die musste ich nur in einem neuen Leben wieder finden. Einmal beachtet, die Neugier geweckt und eingenommen, wusste ich sofort alles. Die Details meiner früheren Existenzen, erschlossen sich mir bei wiederholtem Konsum gemächlich.

    Ich versuchte Songe Sagesse nicht anzustarren, während ich mich der Erinnerung hingab, als wäre ihre Gestalt ein Katalysator, der den Schalter für eine Videoaufzeichnung betätigte. Die Bilder flossen leicht und ohne mühevolle Konzentration. Ich wurde zum Bischof zitiert. Er erwartete mehr Ergebnisse und Geld für die Kirche. Denn nachdem eine Frau als Hexe entlarvt wurde, ihr Geständnis unterschrieben hatte, wurde sie der Reinigung durch das Feuer überlassen. Davor musste sie freilich furchtbare Dinge über sich ergehen lassen. Nach vollzogener Einäscherung floss ihr Vermögen der Kirche zu. Erstaunlicher Weise wurden immer öfter wohlhabende Frauen und Männer der Hexerei überführt. Sie alle waren so wenig der Zauberei kundig, wie ein Bauer, samt seinem Esel. Doch bei Songe Sagesse war das anders. Irgendetwas Seltsames ging von ihr aus. War sie sich eigentlich im Klaren darüber, was sie ausstrahlte? Spielte sie ein Spiel, so wie ich es tat? Oder wusste sie gar nicht, wer sie war, oder was in ihr schlummerte? In dem Fall konnte ich versuchen, sie sehr sanft zu ihrer wahren Identität zu führen. Das stand damals nämlich wirklich auf meinem Plan: Sie sehr behutsam zu ihrem Selbst zu geleiten, oder ihr bestenfalls lachend und scherzend in die Arme zu fallen, wenn sie es nur über sich bringen würde, zu gestehen, dass sie sehr wohl eine Hexe sei und mich auch längst als Zauberer entlarvt hatte. Aber keinesfalls würde ich sie foltern lassen und dem Scheiterhaufen zuführen. Das Unangenehme war, man verlangte endlich positive Ergebnisse im Sinne des Klerus. Ich sah keinen Ausweg. Meine Tarnung würde auffliegen, wenn ich mich offen gegen den Bischof stellte. Ich konnte Songe Sagesse nicht laufen lassen. Die primitiven, abergläubischen Bauern hatten panische Angst vor ihr und erwarteten die Bäckerprobe. Die konnte ich freilich abwenden, nur um sie zum Schein der speziellen Hochnotpeinlichen Befragung unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu unterziehen. Dann, so hoffte ich, konnte ich mit ihr reden. Und ich musste es schaffen, sie zur Flucht zu überreden, denn offensichtlich war sie der Meinung, es könne ihr nichts passieren. Dabei sollte ich auch herausfinden, ob sie über sich und ihre Gabe Bescheid wusste, dann nämlich würde es leichter sein, einen Plan zu schmieden. Doch es sollte anders kommen.

    Ein Gedanke quälte mich damals fortwährend, so erinnerte ich mich lebhaft an mein einstiges Leben, als wäre es gestern geschehen. Selbst wenn die Flucht gelänge, was würde nach der Flucht passieren? Was würde mit mir geschehen? Soweit wollte ich gar nicht denken. Was sollte ich bloß tun? Songe Sagesse war sehr unnahbar. Ich hatte nach dem ersten Gespräch sogar den Eindruck gewonnen, dass sie mich nicht leiden konnte. Sie erkannte den drohenden Ernst der Lage nicht. Es war ja nicht mein Ernst, ich hielt die ganze Hexenverfolgung für ein lächerliches Kasperltheater, wie fast alle Aufführungen im Leben der Menschen – allerdings ein brandgefährliches, tödliches Bühnenspiel, in dem die verurteilten Darsteller nicht gut weg kamen. Songes Leben stand auf dem Spiel und mittlerweile Meines auch, wenn ich das tat, wonach mir der Sinn stand. Dann war es vorbei mit dem Katz und Maus Spiel! Was, wenn sie nicht auf mich hörte, oder noch schlimmer, mir misstraute? Das durfte auf keinen Fall passieren.

    Verwechselte ich hier nicht Gegenwart mit Vergangenheit? Ich versuchte mich aufzurichten, die düsteren Gedanken abzuschütteln und mich bequem zu positionieren, doch mein Rücken war verspannt. Die Sessel im Speisesaal waren denkbar ungeeignet für Patienten mit Wirbelsäulenerkrankungen. Ich verbrachte damals in jener Zeit, die von Aberglauben und Furcht vor den Mächten des Bösen geprägt war, einige schlaflose Nächte, bis ich einen greifbaren Plan hatte. Ich wollte auch jetzt Songe Sagesse helfen, sie war mir ans Herz gewachsen. Ich begriff, dass ich Vergangenes schwer von Gegenwärtigem trennen konnte. Konnte ich überhaupt reparieren, was ich damals falsch gemacht hatte? Oder gab es eine Trennlinie zwischen den einzelnen Existenzen, die niemand überschreiten konnte?

    Noch war es nicht soweit. Songe Sagesses Augen sahen mich neugierig und freundlich an. Hatte auch sie sich geändert, im Laufe der Jahrhunderte? Ich würde es bald sehen. Zurzeit hatte ich selbst einige unangenehme Probleme. Ich fühlte mich sterbenselend. Es war nicht die Wirbelsäule, die ich ständig spürte. Auch nicht die verschmälerte Bandscheibe. Ich war grotesker Weise ziemlich schmerzfrei. Das Hotel wurde als Spital zur Rehabilitation geführt und es arbeitete hier kompetentes Personal. Ich konnte mich nicht beklagen, was die Therapie betraf. Übungen, Moorpackungen, Interferenzen, Massagen, die dreißig Minuten dauerten. Hier in der guten Luft, neben Nadelbäumen und unter staubfreiem Himmel, am Ende der kleinen Straße, konnte sich ein Teil der Patienten von schweren Lungenproblemen erholen, der andere Teil war angehalten, sich ausschließlich dem Rücken zu widmen. Niemand musste sich ums Einkaufen, Kochen und Putzen kümmern, nur um die eigene Gesundheit. Wie viele andere hatte ich Wirbelsäulenprobleme erworben und ererbt. Auch wenn ich mich tatsächlich an frühere Leben erinnern sollte und immer noch der Alchimie frönte – den Körper hatte ich von den jeweiligen Eltern geerbt. In diesem Falle von einer sehr alten Familie. Und es war ja bekannt, dass der Adel unter seinesgleichen blieb und so auch kein frisches Blut in das Geschlecht floss. Die Rückenprobleme reichten bei den männlichen Nachkommen weit zurück bis ins dreizehnte Jahrhundert. Hier oben in den Bergen, im Hotel Shining waren wir durch ein Auswahlverfahren der Pensionsversicherungsanstalt untergebracht worden. Wir, die Osteochondrosen, die Bandscheibenvorfälle und Bandscheibenverschmälerungen und auch die Lungenkrebskandidaten. Die Raucher, die pulmologischen Fälle. Besonders schlecht aber ging es einem dünnen, kleinen Mann, der immer eine Zigarette im Mund hatte. Er verlebte hier seinen letzten Urlaub, mit Sauerstoffflasche, Rollator und metastasierendem Krebs.

    Eigentlich machte ich mir noch gar nicht so viele Gedanken um Songe Sagesse. Doch im Verlauf dieser Reha sollte ich mir immer mehr Gedanken um sie machen und letztlich sie um mich. Doch zu diesem Zeitpunkt laborierte ich an der Tatsache, dass ich mit einem anderen Mann in einem Doppelzimmer untergebracht war und ich davor noch niemals mit einem anderen Mann gemeinsam in einem Zimmer eine Nacht verbracht hatte. Und das aus gutem Grund. Ich mochte nämlich Männer nicht besonders. Ich fühlte mich ihrer Gattung nicht zugehörig. Ich hatte nichts gemein mit ihnen, bis auf die Tatsache auch ein Mann zu sein. Ich teilte nichts an Gesinnung und Idee mit Ihnen. Ich konnte mit Fußball nichts anfangen, ich wollte Autos genauso wenig wie Motoren und ich hasste diese Wettkampfsituation, die es immer unter Männern gab, wenn sie begannen sich selbst und ihre Besitztümer zu vergleichen.

    In der Gegenwart von Frauen fühlte ich mich einfach wohl und unbeschwert. Sie waren selbst angenehm, wenn sie unangenehm wurden. Es gab eine so viel geringere Anzahl an Serienkillerinnen, wie man männliche Massenmörder anführen mochte. Auch die Verbrechen im Affekt wurden hauptsächlich von jungen Männern begangen. Diese Fakten reichten mir schon als Grund, um eine Stange für die Frauen zu brechen. Die wenigen Giftmorde, die von Frauen verübt wurden, waren zu vernachlässigen. Und nun sollte ich ein Zimmer mit einem Mann teilen, weil ich zu geizig war, mir ein Zimmer allein zu gönnen. Ich hätte den doppelten Preis für ein Einzelzimmer zahlen müssen und das wiederstrebte mir. Mein Zimmernachbar hatte das Zimmer schon fensterseitig bezogen. Er taxierte mich mit unsicherem Blick, als ich den Raum betreten hatte. Da ich in meinem Kettner-Outfit gekommen war, gerüstet für die Berge, begann er zu raten.

    „Sind sie Jäger?"

    „Nicht ganz!", sagte ich, denn die Unterhaltung mit diesem Mann war mir jetzt schon lästig. Er saß am Bettrand und hielt sich den Kopf mit beiden Händen.

    „Dann sind sie vom Militär?" er konnte einen bulgarischen, russischen, oder rumänischen Akzent nicht verbergen.

    „Auch nicht ganz", sagte ich, während ich meinen waldgrünen Trolley ausräumte.

    „Was sind sie dann?" er ließ nicht locker und es schwang Besorgnis mit.

    „Ein bisschen von allem", schürte ich seine Bedenken, ohne aufzusehen, während ich meine Sachen in den Kasten räumte. Hätte ich gewusst, dass dieser Mann von der rumänischen Mafia gejagt wurde, hätte ich mich vielleicht anders verhalten. Doch so trieb ich meinen trockenen Scherz voran. Warum sollte er sich wohl fühlen, wenn ich es nicht tat? Dazu bestand gar kein Grund. Ich nahm also das Bett, das noch übrig blieb und überlegte, wie ich es hier drei Wochen aushalten sollte. So lange dauerte, die von der neuen Orthopädin angestrengte und sofort bewilligte Reha. Wie konnte ich nur so dumm gewesen sein, sie anzunehmen. Ich hatte kaum Beschwerden. Im Moment zumindest. Aber dieser Schmerz über dem Steißbein, an den ich mich im Laufe vieler Jahre gewöhnt hatte, der begleitete mich immer. Das konnte sich freilich ändern. Er wurde hin und wieder ohne Vorwarnung unerträglich. Aus heiterem Himmel konnte es geschehen, dass ich mich nicht mehr normal bewegen konnte und die Besserung dauerte Tage. In der Zeit konnte ich mich nur unter extremsten Schmerzen aufrichten, ging gebückt herum und es schien als stecke mein Grizzlyfänger hinten in der Wirbelsäule.

    Es folgten einige Untersuchungen und ich hatte an diesem ersten Tag, der schon als Therapietag geführt wurde ausreichend Zeit, mich ein wenig umzusehen und auch zu verirren. Denn das Hotel teilte sich in einen alten und einen neuen Trakt. Verschiedene, aber gleich aussehende Lifte erschwerten den Zugang zu den jeweiligen Stockwerken, die sowohl im alten, als auch im neuen Gebäude normal nummeriert worden waren. Das hieß, dass es drei Stockwerke im neuen Gebäude gab und zwei Stockwerke plus ein Untergeschoß für Anwendungen im alten Gebäude. Es dauerte eine Weile, bis ich wusste,

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