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Die Würde
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eBook333 Seiten4 Stunden

Die Würde

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Über dieses E-Book

Als der angolanische Vertragsarbeiter Amadou in den Vor-Wendejahren auf Betty trifft, begehrt er sie aus reinem Heimweh, weil sie seiner Schwester Nsamba ähnelt. Für Betty, die Altenpflegerin, ist Amadou nur eine der willkommenen Abwechslungen zu ihrem freudlosen Job. Im Widerstreit der Kulturen trennen sich ihre Wege, bis Betty schwanger wird, und nicht weiß, von wem… Zu allem Übel hat Betty auch noch ein Problem mit der Heimbewohnerin Irma, deren Kinder gerade aus Angola zurückgekehrt sind, mit dem Versprechen an die Eltern, deren Sohn Amadou in der DDR zu unterstützen. Bald wird Piet und Toni Hein klar, dass mit Irmas wie mit Amadous Würde sträflich umgegangen wird.
In der Wendezeit treten erstmals auf ostdeutschem Boden Kräfte in Erscheinung, die Amadous Schicksal fatal besiegeln, aber auch solche, die Irma verzweifeln lassen …Zum Glück gibt es auch mutige Menschen, wie den Journalisten Volker Brandt, die etwas bewirken können…
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum14. Apr. 2019
ISBN9783748590637
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    Buchvorschau

    Die Würde - Maxi Hill

    Prolog

    Die Pflicht gegen sich selbst besteht darin, dass der Mensch die Würde der Menschheit in seiner eigenen Person bewahrt.

    Immanuel Kant

    Die Würde ist ein Roman über fatale Liebe und beschämendes Leid ganz dicht beieinander im menschlichen Wesen.

    Als der angolanische Vertragsarbeiter Amadou in den Vor-Wendejahren auf Betty trifft, begehrt er sie aus reinem Heimweh, weil sie seiner Schwester Nsamba ähnelt. Für Betty, die Altenpflegerin, ist Amadou nur eine der willkommenen Abwechslungen zu ihrem freudlosen Job. Im Widerstreit der Kulturen trennen sich ihre Wege, bis Betty schwanger wird, und nicht weiß, von wem… Zu allem Übel hat Betty auch noch ein Problem mit der Heimbewohnerin Irma, deren Kinder gerade aus Angola zurückgekehrt sind, mit dem Versprechen an die Eltern, ihren Sohn Amadou zu unterstützen. Bald wird Piet und Toni Hein klar, dass mit Irmas wie mit Amadous Würde sträflich umgegangen wird. In der Wendezeit treten erstmals auf ostdeutschem Boden Kräfte in Erscheinung, die Amadous Schicksal fatal besiegeln, aber auch solche, die Irma verzweifeln lassen …

    Die Story beschreibt zwar Menschen am Rande des politischen Umbruchs in der DDR, doch alles könnte auch heute passiert sein.

    Betty

    Von Minute zu Minute, und das am Ende eines langen, wütenden Wartens auf Amadou, wächst ihre Sorge. Es ist bereits 23 Uhr. Für diese Nacht hat man den ersten Frost angekündigt und er ist mit seiner hellen Jacke unterwegs. Noch ist ihr nicht klar, dass dieser Augenblick eine Wende anzeigt. Sie kann sich nicht erinnern, jemals um sein Wohlbefinden besorgt gewesen zu sein. Irgendwo tief in ihr keimt die Gewissheit, dass diese Sorge Liebe bedeuten könne. Wie oft schon hörte sie von Frauen jener Art, zu der sie selbst nicht gehört — und zu der sie nie gehören wollte —, wie treue Bindung die Selbstachtung fördert. Genau das scheint es zu sein, was Betty jetzt spürt. Allmählich glaubt sie, das wilde Kind in ihrem Bauch erzeugt erste Muttergefühle. Dann wieder meint sie, der beschwerliche Dienst im Pflegeheim habe sie ehrfurchtsvoll vor dem Leben gemacht. Doch von Selbstbetrug hält sie nicht viel. Gerade dort, zwischen den roten Mauern bei den Hinfälligen, wächst ihre tiefe Abscheu gegen das Leben.

    Sie setzt sich zu Tisch, schweigsam und ohne ihren Hunger zu stillen, den sie ihrem Kind zuliebe stillen sollte. Noch vor einigen Monaten hat sie jeden Hunger gestillt. Noch vor einigen Monaten war es ein anderer Hunger, ein Hunger nach Leben in Wollust und Selbstaufgabe.

    Ihre Hände streichen über die Wölbung des Bauches. Nie war ihr auch nur ein Gedanke gekommen, so, wie sie einst liebte, das konnte keine Liebe sein. Von ihren vielen Rechtfertigungen hat es nicht eine verdient, Rechtfertigung zu sein.

    Sie lächelt seltsam, nicht bitter, nicht einmal unglücklich, eher listig:

    Ob Amadou ein kleines Geheimnis hat? Vermutlich verbringt er diese Nacht mit einer anderen Frau. Mit einer schwarzen, wie er ein »Schwarzer« ist? Oder mit einer weißen wie sie selbst?

    Betty bleibt erstaunlich ruhig. Keine Frau der Welt hat etwas wie sie, etwas, das Amadou Neuschöpfung genannt hat, etwas, das seinen größten Stolz entfacht hat.

    Sie steht auf, schlendert schwerfällig in der Wohnung umher, kramt in einigen Papieren und sucht in Amadous Habseligkeiten nach einem winzigen Beweis seiner Untreue. Ein kleiner, abgegriffener Zettel steckt in der Brusttasche seines Hemds. Nicht der banale Zettel, wohl aber die in steiler Schrift geschriebene Adresse bekommt in Bettys Augen eine gewisse Bedeutung. Ihre fixe Idee über Amadous Liebschaft verliert sich im langen Grübeln. Professor Doktor Piet Hein …? Verdammt.

    An den Namen der Frau, Toni, kann sie sich noch genau erinnern, nicht aber daran, ob dieser Mann, der Sohn von Irma Hein, Piet heißt. Eines aber weiß sie ganz bestimmt. Das Paar war lange Zeit außer Landes, und als sie kamen, waren sie braun wie die Neger. Und dann fällt es ihr wie Schuppen von den Augen: Sie waren aus Angola zurückgekehrt und Amadou hatte diese Adresse bekommen. Die Adresse des Sohnes von Pissnudel Irma. Ein Aufschrei entweicht ihren Lippen: »Wie klein doch die Welt ist!«

    Die Nacht war kalt, wie angekündigt. Drüben vom Fluss steigen Nebelbänke auf, grau und träge. Sie schwappen über die Unterstadt und ziehen in breiten Schleiern herauf. Hier oben entladen sie ihre feuchte Last an kahlen Ästen und blanken Fensterscheiben.

    Betty erwacht aus einem ängstlichen Traum. Der Platz auf Amadous Schlafstatt ist unberührt. Ihre Blicke jagen durch das Zimmer, finden einen ärgerlichen Halt. Sein gestreiftes Hemd hängt noch immer über dem Stuhl, seine Arbeitsjacke baumelt am Haken im Flur. Sie betrachtet es mit einer gewissen Verachtung. Plötzlich sind das überflüssige Gegenstände, die nicht einmal dazu taugen, Amadou zu ihr zurück zu zwingen. Wer zum Teufel hält ihn davon ab? Sie fröstelt. Düster und schweigsam läuft sie von einem Fenster zum anderen. Irgendwann reißt sie in jähem Zorn am Riegel und zieht das Fenster auf. Er muss da unten stehen und sich nicht herauf trauen. Natürlich traut er sich nicht. Er ist nicht stark genug, um zu dem zu stehen, was er in dieser Nacht getrieben hat. Sie stellt sich vor, wie er die halbe Nacht um das Haus geschlichen ist, wie er sich gequält hat, nach oben zu kommen. Sie selbst hat nicht vergessen, wie sich Beschämung anfühlt. Sie ruft seinen Namen nach draußen in die Kälte, einmal, zweimal. Nichts, keine Antwort. Beim Hinunterschauen droht sie die Last ihres Leibes zu erdrücken. Lange wird das Balg nicht mehr brauchen, um reif für diese Welt zu sein. Diese Welt! Was für eine Welt wird es sein?

    Sie muss raus, muss mit jemandem reden, wenn nicht mit Amadou, dann vielleicht über Amadou, der aus lauter Heimweh dem Abbild seiner Schwester Nsamba verfallen war.

    Amadou

    Es gab viele graue Tage in dieser kalten Welt. Heute war er besonders grau, besonders kalt. Den ganzen Tag schon konnte er an nichts anderes denken als an den hellen Morgen daheim und an Nsamba, und wie sie ihm aufgeregt entgegen gekommen war, ihn bei der Hand nahm und flüsterte: »Dein Antrag ist zurück. Komm, lies selbst!«

    Dieser war ein glücklicher Tag und ein aufregender zugleich.

    Seine Augen werden feucht, das Bild der fremden Welt verschwimmt.

    Amadou steht an der Bushaltestelle und wartet auf den Linienbus. Er ist ein Farbtupfer in der grauen Stadt, die im Herbst noch um einiges liebloser, um einiges trister erscheint. Hier unten an der Neiße, die seit dem Krieg die Kreisstadt teilt, stehen die Häuser aus vergangenen Epochen, die Geschäfte und Kneipen, die Polizei und das Rathaus. Wie hat ihn alles begeistert, als er hierher kam in dieses Land, in diese Stadt — diese Häuser, die intakten Straßen mit ihren sauberen Gehwegen. Auch wenn der Krieg die Schätze vieler Epochen vernichtete, auch wenn der ehrwürdige Stadtkern geopfert wurde, um eine Grenze zu ziehen, eine Grenze zwischen Völkern — zwischen Menschen, die sich Brudervölker nennen. Das bewegt den Fremden nicht, so wie sein entzückter Blick das Bröckeln der Fassaden nicht wahrnimmt.

    Der Vertragsarbeiter Amadou Ricardo Nginga wohnt nicht hier unten in der Stadt. Seit zwei Jahren haust er oben auf dem Hügel am Rande der Plattenbausiedlung, da, wohin ihn der Bus jetzt bringen wird, da, wo die Baracke steht. Ausländerheim nennen es die Leute, Vertragsarbeiterwohnheim hat man es korrekt zu nennen. Diese Baracke ist schlimmer, als sein Zuhause in Angola gewesen war. Nein, so hatte er sich das Leben im reichen Europa nicht vorgestellt. Seine Auffassung von Lebensglück bestand in erster Linie darin, als kluger und reicher Mann zurückzukehren. Er verabscheut seine Heimat nicht, aber alles dort behinderte sein Fortkommen, lähmte seinen Elan.

    Ein angenehmer Kitzel überkommt ihn noch trotz allem bei dem Gedanken, er könne hier seinen Weg zu einem Leben in Wohlstand finden.

    Im Konsum-Kaufhaus werden die Schaufenster dekoriert. Dicke blaue Vorhänge versperren den Blick auf die Auslagen, nur die Losungen auf rotem Fond sorgen schon dafür, dass die Dinge so gesehen werden, wie das Volk die Dinge zu sehen hat. Die DDR feiert in Kürze. Die Politik feiert ihr Dasein. Ob das Volk etwas zu feiern hat, wird sich zeigen.

    Amadou versucht einen schrägen Blick durch den klaffenden Spalt auf die noch ungeordneten Waren, die man hier kunstvoller in Szene zu setzen versteht als irgendwo sonst in dieser Gegend. Für ein Paket in die Heimat ist immer etwas dabei, aber sonst ändert sich nichts an dem, was er seit Langem denkt: Die Alemaos haben den Vorteil der hellen Haut, klar, aber eigentlich sind sie graue Mäuse, nichts weiter. Anders sein eigenes Abbild, das die Scheibe vor dem blauen Vorhang widerspiegelt — groß, schlank und bunt wie die Vögel im Eukalyptushain seiner Heimatstadt Lubango, elftausend Kilometer von hier entfernt. Die tiefschwarze Haut hebt das Gelb seiner Jacke noch greller ab, schneeweiße, nagelneue Adidas blitzen unter den Aufschlägen seiner knallroten Hose hervor. Nicht einmal ADIDAS haben diese Deutschen Demokraten, und sie neiden sie ihm. Auch für ihn waren diese Schuhe wie ein winziger Befreiungsschlag; er hatte sie bei der Durchreise im Duty-free-Shop in Lissabon gekauft, genau wie seine geliebte, goldumrandete Spiegelbrille. Die trägt er selten. Es fehlt an Sonne in diesem Land und es fehlt an Wärme von diesen Menschen. Darüber zu grübeln hatte ihn zuweilen viel Kraft gekostet. Er grübelt nicht mehr, was nicht heißt, er versteht es. Man kann sich an alles gewöhnen, auch an das, was man nicht versteht, was man nicht verstehen kann. An den eintönigen Ablauf seiner Tage und an das Gefühl der Verlorenheit bei Nacht hat er sich längst gewöhnt, darüber zu lamentieren hat er sich abgewöhnt.

    Amadou betrachtet sein Spiegelbild. Er streicht über den schmalen Rücken seiner Nase, über die sich sein Freund Eduardo zuweilen wundert, weil sie der schwarzen Rasse nicht adäquat sei, wie er es nennt. Amadou schmunzelt vor sich hin und denkt an die Worte seines Vaters Agostinho: Das schönste Erbe ist, sich selbst als das Erbe seiner Eltern zu begreifen. Amadous Nase ist vom Vater geerbt. Käme er nach Mama Mabele, hätte er auch eine breite Nase wie Eduardo und schaufelförmige Zähne und vielleicht eine großporige Haut…

    Er entblößt seine geraden weißen Zähne, er streicht über die glatte Haut auf der steilen Stirn. Seine Eitelkeit hat ihn nicht verändert, doch zuweilen entlarvt sie seine heimlichen Götzen, weswegen Eduardo ihn rügt. Während Amadou rundum als schön gilt, hat Eduardo einen gedrungenen Körper und ein eher verquollenes Gesicht. Doch er fragt, was das in der Fremde gilt? Hier zählt nur die Farbe der Haut, sonst nichts.

    Ein Weltverbesserer, dieser Eduardo. Zum Glück hat er in ihm wieder einen Freund gefunden, nachdem er von Mufua getrennt wurde. Mufua war sein bester Freund. Mit ihm hatte er den Entschluss gefasst, sein Glück in der Fremde zu suchen. Portugal wäre das Beste gewesen, der Sprache wegen, doch da gab es keine Chance auf eine Ausbildung. Das Angebot aus der DDR kam ihm gerade recht.

    Hätte man ahnen müssen, dass enge Freundschaften unter Vertragsarbeitern nicht gelitten werden? Jetzt ist Mufua in einer anderen Gegend. Eine Ausbildung erhält auch er nicht. Er arbeitet in einem Schlachtbetrieb an der Oder, achtzig Kilometer nördlich von hier. Zum Glück gibt es hier Eduardo. Die beiden vereint so vieles und trennt so vieles. Ihre Liebe zu Angola, ihre Neugier auf das Leben in der entwickelten Gesellschaft und ihr Wissensdrang schmieden die Männer zusammen. Amadous Optimismus und Eduardos Hang zur Skepsis trennen sie dann und wann, genau wie ihre Meinung über Frauen.

    Er stellt fest, er sieht gut aus, wirklich gut. Und das sagt er seinem Spiegelbild — natürlich auf Portugiesisch.

    Kurze Schritte auf harten Absätzen schlagen hinter ihm über den bröckelnden Beton. Leute eilen vorbei, man kichert ungeniert. Amadou dreht sich um. Er sieht zwei Frauen in roten Schuhen mit superdünnen Absätzen. Es gibt kaum etwas, was ihn vom ersten Tag in diesem Land mehr verblüfft als solche Schuhe. Aber an diesem Tag fesseln nicht bleistiftdünne Absätze seinen Blick. An diesem Tag, zu dieser Stunde, in dieser Sekunde ist es ein Gesicht unter hellbraunen Haaren, das ihn erstarren lässt. Dieses Gesicht schaut zurück, kurz, doch ein Pfeil trifft genau und steckt tief. Wie sie den Haarschopf trägt, hochgesteckt und mit vielen kleinen Kringeln, wie sie die Hüften dreht, wie sie die Lippen formt, all das ist Nsamba, seine Schwester. Er steht wie versteinert und schaut hinterher, verblüfft klappt seine Lippe nach unten, weiter als normal, und er weiß, ein wenig dumm sieht sie immer aus, seine Verblüffung.

    Dieses Brennen in der Kehle stellt sich ein und auch ohne den so verhassten kalten Wind treibt es ihm Wasser in die Augen - hemmungslos. Amadou kennt das gut, doch er begreift es nie. Er hatte sich so gefreut, diese Chance bekommen zu haben, und nun hat er wieder einmal Sehnsucht nach zu Hause. Dieses trabalho forcado im ätzenden Dunst passt nicht zu dem, was ihm versprochen wurde. Er denkt nach. Malochen nennt es Günther. Ja, malochen. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund hatte er sich abgefunden mit dem Leben hier, mit der Baracke, mit der Arbeit und mit all den kalten Lügen. Irgendetwas schwebt in seinem Hinterkopf, das er noch nicht ordnen kann. Irgendein Gespür, irgendein Glaube, es könne alles noch werden wie erhofft.

    Wieder einmal hat er das Gefühl, von etwas Wichtigem ausgeschlossen zu sein, abgeschnitten, ausgegrenzt. Kälte überzieht seine Haut. Immer tiefer gräbt er sich in die Jacke, doch so verkrampft beginnt er noch mehr zu frieren.

    Hier herrscht nicht nur ein eisiges Klima, hier herrscht das Gegenteil von allem, was er erwartet hat: das Gegenteil von Überfluss, von Reichtum und Freundschaft. Ja, auch Freundschaften hatte er erwartet, doch die jungen Leute sind skeptisch und die alten begaffen ihn wie ein Tier aus dem Zoo. Wenn er je mit den Menschen von hier zusammen gewesen war, so hatten sie ihn entweder wie ein Kind behandelt oder wie einen Aussätzigen.

    Das mit den Menschen ist eine komplizierte Geschichte. Wie macht man das? Wie kommt man mit denen zusammen? Wie oft hat er schon mit Eduardo darüber gesprochen. Unzählige Male.

    Seit dieser Minute bewegt ihn nur noch ein Gedanke und der macht ihn verrückt: Er muss diese fremde Nsamba treffen, muss mit ihr reden. Einmal wenigstens. Der wehende Rock und der wippende Haarschopf waren so rasch, wie sie aufgetaucht waren, wieder in der Menge der heimwärts Hastenden verschwunden. Allein, wie so oft, steht er da, verloren, und er denkt nach, wie er immer nachdenkt, ohne zu einem Schluss zu kommen.

    Er war ausgezogen in die Fremde, um ein besseres Leben zu führen, ohne Krieg, ohne das ganze Elend um ihn herum. Hier herrscht ein anderes Elend, das Elend der Fremdheit, des Ausgeschlossenseins. Darüber helfen auch seine Freunde nicht hinweg. Einmal Mama Mabeles liebenden Blick, einmal an Vater Agostinhos Schulter anlehnen können, einmal Nsamba streicheln. Ach Nsamba!

    Amadou bläst heißen Atem von sich. Diese hier wird nicht anders sein, als alle hier, denkt er, weil die alten Bilder in seinem Kopf drängen, die ihn kränken.

    Eines Tages, er hatte sich Fisch und Pommes Frites an einer Imbissbude bestellt, da raunte jemand, er habe wohl keine Kinderstube genossen, nur weil er seine blitzsauberen Finger zum Essen benutzte. Wie war es doch schön zu Hause, wenn der Fisch über dem Feuer im Hof brutzelte und der Reis im Kessel brodelte. Und dann — alle aßen sie gemeinsam mit bloßen Händen aus einem Kessel, nahmen sich Fisch vom selben Grill. Nicht, dass sie keinen Hausstand hätten wie die Leute in den musseques, den Elendsvierteln. Es war das Ritual, ihr Ritual, das ihm umso wertvoller erscheint, je länger er diesem entsagen muss.

    Der hell erleuchtete Bus kommt. Er setzt sich in eine freie Reihe, allein, wie er es inzwischen gelernt hat. Keiner soll seinetwegen aufstehen und einen anderen Platz einnehmen. Im Gegenlicht sieht er sein Spiegelbild und all die anderen Gesichter der Fahrgäste verschwimmen im kleinen Schmerz des Heimwehs. Er sieht Mutter Mabele, Vater Agostinho, Schwester Nsamba, Bruder Maka und die Zwillinge Ngunza und Nzua. Nur die kleine Avò sieht er nicht — kein Gesicht spiegelt diese gütige Greisin. Trotzdem. Er lacht allen zu, seine weißen Zähne blitzen aus der langsam einsetzenden Dämmerung zurück.

    Warum dauert die Dämmerung hier so lange? Warum ist es so kalt? Warum hat man uns hierher geholt? Warum hat man gesagt, man kann hier viel lernen? Warum hat der Schöpfer Schwarze und Weiße geschaffen? Warum versteht er die Bücher noch so wenig?

    Er will sie lesen, um alles zu wissen, was man von den Menschen wissen muss. Wenn man sie gelesen hat, versteht man die Menschwerdung, hatte Günther gesagt. Günther ist einer, der sich nicht zu schade ist, am Tisch der Schwarzen in der Kantine zu essen. Als sie einmal über die Rassen sprachen, hatte er sogar abgewinkt und gesagt:

    »Vergiss es. Alle Menschen gehören derselben Art an, dem Jetztmenschen, dem Homo sapiens sapiens. Kein Gott, nein, der Mensch zergliedert den Menschen in edle und weniger edle Rassen. Der Mensch verantwortet den Rassenwahn und er schürt ihn des Erhebens wegen.«

    Die verschiedenen Rassen interessieren Amadou nicht so brennend wie jene Dinge, die bei den Rassen gleich sind. Wörter wie Gene, Zellen, Chromosomen schwirren durch seinen Kopf. Er weiß, es hat etwas mit menschlichem Erbgut zu tun, doch es bleiben Menschen, trotz ungleicher Gene. Viel weiß er noch nicht, er ist neugierig und will es lernen. Das konnte er zu Hause nicht, dort fehlten ihm diese Bücher. Wenn er es genau bedenkt, ist das mit den Büchern ein phantastisches Ding. In jedem Dorf, so sagt Günther, gibt es eine kleine Bibliothek, wo die Menschen Bücher ausleihen können, kostenlos. Er muss die Zeit nutzen, er will schließlich klug und reich nach Hause zurück kommen.

    »Ich komme zurück und ich komme als Amadou Rico«, murmelt sein weicher Mund in der Sprache seiner Väter. Ein Kind dreht sich nach ihm um, staunt, nimmt rasch den Kopf zurück in Fahrtrichtung, um immer wieder nach hinten zu schielen, heimlich. Ängstlich?

    Er betrachtet sein eigenes Gesicht im Widerschein der dunklen Scheibe. Alles in Ordnung. Er betrachtet seine Hände, die schwer arbeiten müssen, schwerer als man es ihm versprochen hatte. Drei Schichten im Wechsel. Wenn er dieser Nsamba gegenübertreten will, müssen die Hände gepflegt sein. Nicht eckig und nicht dreckig dürfen die Nägel sein, wenn man einer so hellen Frau die Hand reicht. Seine Nägel sind nicht gepflegt, noch nicht — oder nicht mehr.

    Langsam entsteht ein Plan in seinem Kopf, wie er es anstellen will, doch etwas widerstrebt ihm. Oscare. Oscare würde wissen, wo man diese Frau aufspüren kann. Doch dieser Oscare mag Amadou nicht, und Amadou mag Oscare nicht. Warum? Was geht es jemand an!

    Angola – Monate zuvor

    Die Luft ist noch kühl, der Tag noch jung. Nach dem Wetter braucht sie nicht zu schauen, es wird werden wie immer zu dieser Zeit auf diesem Kontinent, warm und trocken. Toni Hein geht prüfend durch die Wohnung in diesem Haus, wo die meisten deutschen Entwicklungshelfer wohnen. Ihre Augen sind klar, beinahe zufrieden. Der kleine Hausrat liegt ausgebreitet vor ihr, nützliche Dinge, die sie in den letzten Jahren Stück für Stück von zu Hause mitgebracht hatte, weil sie in diesem Land nicht zu beschaffen waren. Bald braucht sie all das nicht mehr. Bald wird es guten Freunden hilfreich sein, jenen Angolanern, die diesem misslichen Leben nicht einfach adieu sagen können, wie sie es jetzt kann. Die meisten Angolaner bleiben ihrer Heimat treu, trotzen dem Krieg und warten, bis der Brudermord in den unsäglichen Verirrungen dieses fremd gesteuerten Krieges endlich aufhört.

    Weil Piet hier ist, ist auch sie hier; und weil es hier einen Beitrag zu leisten gilt, die Menschenwürde weltweit erhalten zu helfen. Die große Chance der Menschheit auf Einigkeit, auf Gleichheit, auf Brüderlichkeit, woran die Leute hier glauben, das war etwas, woran auch sie glaubte, wie die Christen an ihren Gott glauben. Erst hier wichen ihre Augen ab von der glühenden Hoffnung auf eine gerechtere Welt, um der grauen Wahrheit ins Auge zu blicken. Die Welt ist nicht gerecht, solange sich einer über den anderen erhebt, solange die Wahrung der Würde des Einzelnen von dessen Besitz, von dessen Hautfarbe, von dessen Religion abhängt, solange der Wohlstand des einen aus dem Elend des anderen entspringt.

    Ein flaues Gefühl überkommt sie, wenn sie an die Heimreise denkt. Nicht, dass sie ihr schwer fällt, nicht dass sie ins Ungewisse reist.

    Ihre Sicherheit ist nirgendwo so sicher wie in der Heimat, sagt Piet sehr gern. Natürlich gibt sie ihm Recht, vor allem, wenn donnernde Salven der schießwütigen Möchtegern-Krieger die Luft erzittern lassen.

    Aber Tonis Vertrauen in die Heimat ist verletzt. Wogegen wird sie das aufwiegen können?

    »Was nutzt all der Glauben an eine gerechte Welt, wenn die Menschheit die Würde der Menschen nicht achtet?«

    Sie stemmt ihre Arme in die Hüften und atmet tief durch. Klar war sie bereit gewesen, dieses Opfer zu bringen. Klar wurde sie enttäuscht. Klar war sie einmal stolz darauf, auf der ehrbaren Seite zu stehen. Warum wurde ihre Einsicht so enttäuscht. Warum schnappen ausgerechnet hier im ärmsten Winkel der Welt listige Devisenbeschaffer nach deutschen Wohlstandsikonen?

    Sie gibt sich einen Ruck aus der Starre ihrer ungeliebten Gedanken. Liebevoll streicht sie über eines der Bündel aus Decken, Textilien und Schuhen. Später werden noch die Lebensmittel dazukommen. Sie weiß, so Geschundenen wie Ntumba im bairro kann sie den Schmerz nicht nehmen. Der frühe Tod ihres Sohnes Enkembe, der Hunger und die Kälte der Nacht, der Mangel an sauberem Wasser, all das kann sie nicht wettmachen, aber für eine Weile konnte sie deren größte Not lindern helfen.

    Etwas fährt durch ihre Glieder. Das blanke Metall des elektrischen Backgerätes, das mit Muttern und Nieten versehen ist, sieht aus wie das Teufelszeug in angolanischer Erde, das diesem unschuldigen Kind erst das Bein, dann das Leben gekostet hat. Das Zimmer vor ihren Augen verschwimmt, das letzte Bild des kraftlosen Jungen kehrt zurück. Sie beherrscht es nicht, einem Schütteln zu entgehen. Außerstande, das Gerät noch einmal zu prüfen, treibt es sie hinaus auf den Balkon, von dem sie Hunderte Male über die Hütten der Hoffnungslosen bis hinüber zu «ihrem» bairro geschaut hat. Das Getöse von der Straße nimmt sie nicht wahr, die Luft ist so klar, doch sie kann kaum etwas erkennen. Das erste, was sich stets einstellt bei diesen Gedanken, sind ihre feuchten Augen und ihr Zorn auf die Mächtigen dieser Welt, die den Kindern die Kindheit nehmen und den Müttern die Hoffnung. Keiner verdient den Tod durch eines Anderen Hand. Jedem steht ein würdevolles Leben zu. Toni weiß, es ist sentimental, über das eine Kind so stark zu trauern. Zu viele Kinder sind es, die in diesem Land keine Chance auf ein Leben in Würde haben. Wie so oft verfällt sie in eine traurige Mattigkeit, und wie so oft wird diese erst vergehen, wenn sie einen sehr guten Gedanken geboren hat.

    Sie kneift ihre Augenlider zusammen. Die Hochebene liegt in starkem Licht, jenem Licht, das sie so sehr an die Namib erinnert. Dort schien es so friedlich und war doch lebensfeindlich.

    Was wird sie zu Hause erwarten?

    Wie aus dem Nichts kommt ihr der Gedanke, an den sie sich jetzt klammert. Vielleicht dieser Amadou, vielleicht ein anderer, zu Hause will sie denen helfen, die aus dem Elend kommen und im fremden Land ihr Glück versuchen. Es wäre auch in Mabeles Sinn.

    Die ganzen Jahre über waren sie sich nicht begegnet, wie sollten sie auch. Sie hatte ja nur noch Augen für die Flüchtlinge im bairro. Wer dort leben muss, ist vergessen von der Welt. Und — wie Toni erleben musste — sogar vergessen von denen, die sich der Solidarität rühmen. Auch wenn sie selbst zu helfen versucht hatte — kleinlaut, aber mit volltönendem Herzen — ändern konnte sie deren Leben nicht. Ihr Herz war so voller Hoffnung, ihr Wille so ungebrochen, beides hat nicht viel bewirkt. Herz und Wille allein sind untauglich für Veränderung. Wer verändern will, muss beständig streiten.

    Mabele und Agostinho Nginga wohnen nicht in einem der Elendsviertel. Sie wohnen in einem ansehnlichen Haus in einem Stadtteil, wo es kleine, gepflegte Gärten gibt, wo Obstbäume wachsen, wo Blumen und Kakteen wuchern und wo Kohlpflanzen aus der fruchtbaren Erde sprießen. So bescheiden die Menschen hier auch leben, um sie braucht man kaum Sorge zu haben.

    Toni erinnert sich noch genau: Während des Besuches bei Luciano standen Agosthino und Mabele plötzlich hinter der niedrigen Mauer, die Lucianos Grundstück von dem der Ngingas trennt. Mit Abstand betrachtet ist es möglich, Luciano hatte dieses Zusammentreffen für seine Nachbarn arrangiert. In Mabeles hübschem Garten stand ein ähnlicher «Wunderbaum», wie Luciano einen opfern wollte, sobald Piets und Tonis Heimreisetermin endgültig feststehen würde.

    »Die Ausfuhr von Pflanzen ist verboten«, sagte Piet.

    »Keine Sorge«, meinte Luciano und verbarg eine diebische Freude hinter den kleinen, faltigen Augen: »Schnittblumen sind erlaubt.«

    Er zählte das geschnittene Holz der Yucca-Palme einfach dazu, und man hatte den Anschein, er mache das nicht zum ersten Mal. Die Yucca, das wusste Toni, ist ein rechtes Wunderholz. Wenn man die Stammstücke einige

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