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Der Träumer und der Schnüffler: Hauptstadt Chroniken IV
Der Träumer und der Schnüffler: Hauptstadt Chroniken IV
Der Träumer und der Schnüffler: Hauptstadt Chroniken IV
eBook303 Seiten4 Stunden

Der Träumer und der Schnüffler: Hauptstadt Chroniken IV

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Über dieses E-Book

Der Privatdetektiv Andy, der im Auftrag von Elaines Eltern noch immer nach der verschwundenen Tochter sucht, gerät durch einen Zufall in den Tornado-Zug und wird in die Hauptstadt gebracht. Er will nur die Umstände von Elaines Verschwinden aufklären und mögliche Schuldige finden - die Hauptstadt braucht ihn jedoch aus ganz anderen Gründen. Das von Elaine geschaffene Spiegelbild der Hauptstadt existiert noch immer, und verfügt mit einem Träumer über einen entscheidenden Vorteil im Kampf ums Überleben, womit das bisherige Status Quo und alle Pakte gebrochen wurden. Nur eine Hauptstadt kann den Konflikt überstehen - und ihr Schicksal hängt von den Entscheidungen der Träumer ab.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum14. März 2013
ISBN9783847632160
Der Träumer und der Schnüffler: Hauptstadt Chroniken IV

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    Buchvorschau

    Der Träumer und der Schnüffler - Inga Kozuruba

    Prolog

    Das erste, das er nach dem Aufwachen tat, war es, sich neben sein Bett zu übergeben. Er hatte wieder diesen Alptraum gehabt, der ihn schon seit Wochen heimsuchte. Er sah darin einen Mann mit seinem eigenen Gesicht – oder zumindest dem Gesicht, das der heutige Teenager als Mann haben würde, der sich an einer jungen Frau verging, immer und immer wieder, mit jedem Mal brutaler und perverser als zuvor. Die Umgebung und die Details wechselten zwar mit jeder Heimsuchung, aber diese Konstellation blieb immer gleich. Der Mann mit seinem künftigen Gesicht ließ die unbekannte Frau immer wieder geschlagen, gedemütigt, gebrochen zurück, mehr tot als lebendig – aber tatsächlich immer noch lebendig. Als ob er sich noch etwas für später aufheben wollte. Und jedes Mal wenn er aufwachte, spürte er dieses irre Grinsen auf seinem Gesicht, bei dem er sich nicht sicher war, ob es eine verzerrte, falsch gepolte Mimik der Abscheu oder doch eine grässliche Form der Genugtuung für etwas war, das er nicht begreifen konnte. Darum übergab er sich jeden Morgen. Aber an diesem Morgen wurde er zum ersten Mal dabei ertappt.

    „Brüderchen, du bist doch nicht etwa schwanger, oder?", er hörte das klare, helle Lachen eines jungen Mannes und sah irritiert zur halb offenen Tür seines Zimmers, in der eben selbiger stand. Ein gutaussehender junger Mann, gerade kein Junge mehr, offensichtlich bewusst androgyn in seiner Erscheinung und mit einer Ausstrahlung von Selbstsicherheit und Arroganz, die nur einem gefallenen Engel anhaften konnte. Warum dieser Kerl ihn jedoch als Brüderchen bezeichnete, konnte er beim besten Wissen und Gewissen nicht sagen. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wer dieser Typ eigentlich war.

    Das Amüsement wich indessen vom Gesicht des Unbekannten und wurde zu einem fragenden Blick, der offensichtlich sein Gesicht mehr als nur widerspiegelte. „Sag mal, was ist hier los? Du weißt doch sonst immer alles. Und jetzt, sieh dich an, das reinste Fragezeichen."

    „Ich... hab‘ schlecht geträumt. Das ist alles... Bruder." Er war sich nicht sicher, aber irgendwie erschien es ihm angemessen, diese Anrede zu benutzen. Vielleicht hatte er am Abend zuvor irgendwie doch zu viel getrunken. Er konnte sich zwar nicht einmal daran erinnern, etwas getrunken zu haben, aber das wäre dann womöglich auch nicht mehr verwunderlich.

    Der Unbekannte wirkte plötzlich besorgt: „Schlecht geträumt? Was hast du geträumt?"

    Er beschrieb seinen Traum, so gut wie seine Erinnerung das zuließ. Mit unangenehm über seinen Körper kriechenden Gänsehaut bemerkte er, dass er sich noch so gut daran erinnern konnte, als würde er immer noch schlafen und den Traum durchleben. Der Unbekannte biss sich auf die Unterlippe und wirkte plötzlich überhaupt nicht mehr selbstsicher, sondern sehr zerbrechlich. Er staunte über diesen Morgen und vergaß darüber sogar den sauren Nachgeschmack in seinem Mund.

    „Du hast von IHM und Vatermutter und deiner Zeugung geträumt und du hast es nicht begriffen? Junge, irgendetwas ist hier ganz falsch... Ach du meine Güte..."

    Der unbekannte junge Mann sah ihn mit seinen weit aufgerissenen, dunkelbraunen Augen an und keuchte erschrocken: „Es geht los. Du hast ihre Stelle eingenommen. Dann sind Schwesterherz und ich auch bald dran. Oh nein... das... das ist viel zu früh."

    Er hörte sich das unsinnige Gestammel mit halboffenem Mund an: „Wovon redest du bitte? Was ist hier los? Wer bist du überhaupt?" Die Begegnung wurde immer seltsamer.

    Der Fremde eilte zum Bett, fasste ihn plötzlich an den Schultern und begann, ihn zu schütteln: „Ich bin dein Halbbruder! Der kleine, nervtötende Bastard..., doch dann beruhigte er sich wieder. „Ach, was mache ich da. Es ist zu spät. Er hat die Stelle der Quelle eingenommen und wenn ich dran bin, geht hier alles zu Bruch. Ich muss den ersten Zug machen... den ersten Zug freilassen. Wo hat Schwesterherz ihn nur wieder versteckt? Diese übereifrige Streberin...

    Murmelnd verschwand der Fremde aus dem Zimmer und er wischte sich ganz langsam den Mund ab. Was für ein seltsamer Morgen. Was für... aber er hatte keine Zeit für so was. Mit dem Alptraum konnte er sich später beschäftigen. Jetzt musste er nach seiner Schwester sehen und dann waren die Tagesgeschäfte dran. Seit dem Tod ihrer Eltern lastete auf den jungen Schultern des Prinzenpaares das Schicksal des Königreiches und die ganze Hilfe ihrer Berater konnte nichts daran ändern, dass die Zwillinge gerade mal fünfzehn Jahre alt waren. Im Badezimmerspiegel glaubte er noch für einen Augenblick etwas zu sehen, das nicht da sein sollte, und dann verdrängte er das alles aus seinem Bewusstsein. Es gab viel zu tun in der Hauptstadt.

    Kapitel 1: Der falsche Zug

    Das Geräusch, das Andy aus dem Schlaf riss, war nicht sein Wecker. Es waren durch die dünne Wand seines Appartements nur schwach gedämpfte Geräusche einer der vielen Talkshows, von denen sich seine ältere, allein lebende Nachbarin von früh bis spät berieseln ließ. Im Halbschlaf verfluchte er das erneute Wiederaufleben der öffentlichen Anprangerung als Unterhaltung, das ihn seinen kostbaren Schlaf kostete, bis er endlich bemerkte, dass an der ganzen Situation etwas falsch war. Eigentlich hätte er seinen Wecker verfluchen müssen, dieses schrill kreischende Ding, das sogar einen Toten aufwecken könnte. Doch sein Wecker verhielt sich an diesem Montagmorgen erstaunlich still. Ein Blick aus halb geöffneten Augen in seine Richtung zeigte Andy den Grund dafür. Der Wecker zeigte eine blinkende Uhrzeit, die auf keinen Fall korrekt sein konnte. Das war ein todsicheres Zeichen dafür, dass es irgendwann in der Nacht einen Stromausfall gegeben haben musste. Und offensichtlich hatte dieser Ausfall lange genug gedauert, um nicht nur seinen Wecker zu verstellen, sondern auch die Programmierung des Alarms zu löschen. Andy griff nach seiner Armbanduhr und fluchte leise, als seine Wahrnehmung sich von der digitalen Zeitanzeige auf die analogen Zeiger umgestellt hatte und Andy begriff, dass er verschlafen hatte.

    Normalerweise wäre es nicht so dramatisch gewesen, schließlich konnte er als ein freischaffender Detektiv seine Arbeitszeiten selbst einteilen, aber ausgerechnet an diesem Tag hatte er einen Termin. Und wenn er sich nicht höllisch beeilen würde, würde er ihn verpassen. Er hetzte unter die Dusche und schrubbte sich wie ein Verrückter die Zähne, während sich die andere Hand der Haarwäsche widmete. In seinen Gedanken war er schon einen Schritt weiter und warf eine Kleinigkeit nach der anderen aus seinem gewohnten morgendlichen Ablauf, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen.

    „Meine Damen und Herren, wir haben doch keine Zeit!", schoss ihm eine beliebte Phrase irgendeines Moderators durch den Kopf´, an dessen Namen er sich nicht erinnern konnte. Nur auf seinen Kaffee wollte Andy nicht verzichten. Sein Kaffee am Morgen war ihm heilig.

    Während er sich eilends ein Kleidungsstück nach dem anderen überzog und den Inhalt seiner Aktentasche zusammenklaubte, brühte ihm seine alte, aber zuverlässige Kaffeemaschine sein wichtigstes Lebensmittel auf. Keine Frage, für Andy war Kaffee ein Lebensmittel, ein Überlebensmittel sogar. Vielleicht war er süchtig, aber immerhin war dies keine so hinderliche Sucht wie Zigaretten oder Alkohol. Und es war letztlich auch unwichtig. Wichtiger war die Tatsache, dass an diesem Morgen der Kaffee unerwartet heiß war, als er den ersten Schluck nahm. Im Nachhinein war diese Tatsache vollkommen einleuchtend, schließlich hatte Andy normalerweise genug Zeit, um das Getränk auf die von ihm gewohnte Temperatur abkühlen zu lassen. Mit Milch würde er seinen Kaffee niemals verschandeln. An diesem Montag hatte er jedoch keine Zeit gehabt und schrie auf, als die Flüssigkeit ihm den Mund und die Kehle verbrühte.

    Er war sich nicht sicher, ob es wirklich ein Schrei des Schmerzes, oder doch nur der Überraschung war, aber angenehm war die Situation nicht. Vor allem deshalb, weil er die Tasse fallen ließ, die ihren Inhalt über die Küche und sein Hemd und sich schließlich selbst in vielen Splittern auf dem Boden verteilte. Laut fluchend riss Andy sich Hemd und Unterhemd vom Leib, die sich bereitwillig mit der dampfenden Flüssigkeit vollgesogen hatten und rauschte zurück in sein Schlafzimmer, um sich hastig einen Ersatz überzuziehen. Ein erneuter Blick auf die Armbanduhr sagte ihm, dass er gerade noch die Zeit dazu hatte, bevor er aus seiner Wohnung rennen musste, um seine U-Bahn zu erwischen. Für einen weiteren Versuch, seinen Kaffee zu bekommen, geschweige denn, die Küche zu säubern, blieb ihm keine Zeit mehr. Also zog er sich wieder an, schlüpfte hastig in seine Schuhe, warf sich seinen Trenchcoat über, griff nach seiner Tasche und rannte aus der Tür, die hinter ihm ins Schloss fiel.

    Wie er so etwas doch hasste! „Gentlemen, they walk, but never run."

    Das war eine Zeile von Sting und Andy kannte wenige Aussprüche, denen er so vorbehaltlos zustimmen würde. Und dennoch musste er genau das tun, was er verabscheute – wie ein Verrückter durch die Gegend zu rennen, nur um eine Bahn zu erwischen und einen Termin nicht zu versäumen.

    „Ich komme zu spät, ich komme so was von zu spät", hämmerte es in seinem Kopf.

    Offensichtlich kam er eben rechtzeitig an, um sich durch die gerade schließenden Türen hindurch zu schlängeln. Den beinahe eingeklemmten Zipfel seines Mantels konnte er im letzten Moment hinein zerren, bevor sie sich endgültig schließen konnten und der Zug sich in Bewegung setzte.

    Sobald der Wagen, in dem Andy sich zwischen die anderen Fahrgäste gezwängt hatte, von der Dunkelheit des unterirdischen Tunnels geschluckt wurde, beschlich ihn sofort ein ungutes Gefühl. Irgendetwas war nicht in Ordnung. Zuerst dachte er, dass dieses Gefühl auf die ungewohnt lange, holprige Fahrt zurückzuführen war. War das eine U-Bahn oder eine Achterbahn? Nur die Tatsache, dass er nicht kopfüber an die Decke stürzte sprach für die erste Alternative. Das unter diesen Umständen ungewöhnlich ruhige Verhalten der anderen Fahrgäste war ebenfalls merkwürdig, aber auch das war nicht der Grund für das flaue Gefühl in seinem Magen. Dann dämmerte es ihm. Er war in den falschen Zug gestiegen. Die Anzeige für die Gleisbelegung hatte sich bereits auf die leere Position umgeschaltet, als er am Gleis angekommen war, oder sie war defekt gewesen, jedenfalls konnte er nicht mit Sicherheit sagen, dass er tatsächlich die richtige Bahn erwischt hatte. Es war vermutlich das klügste, an der nächsten Haltestelle auszusteigen und zu hoffen, dass er seinen Termin trotz dieses Fehlers immer noch wahrnehmen konnte.

    Genau das tat Andy auch, als der Zug anhielt und sich die Türen erneut öffneten. Er hetzte hinaus, und stellte verblüfft fest, dass er der einzige war, der den Zug verließ. Die Türen schlossen sich sofort und der Zug rauschte davon. Irritiert starrte Andy vor sich hin. Er konnte seinen Augen nicht glauben. Auf der Seite eines Wagens war ein Schriftzug in Regenbogenfarben gesprüht worden, das Wort Tornado, und auch das Bild eines solchen Naturschauspiels im für Sprayer üblichen Stil. Er schluckte und erinnerte sich sofort an einen Job, den er inzwischen nur aus Gründen der persönlichen Besessenheit verfolgte, nicht aus Gründen seiner Lösbarkeit. Eine aus ihrer Wohnung verschwundene junge Frau, die abgesehen von ihrem Pyjama weder Geld noch Kleidung mitgenommen hatte, eine Wohnung, die keinerlei Kampfspuren aufwies, und eine von innen abgeschlossene Haustür, der Schlüsselbund achtlos auf das kleine Schuhregal neben dem Eingang geworfen, genau in einen der abgetragenen, fleckigen Sneakers.

    Die einzige sinnvolle Spur war in seinen Augen ein mit einem schwarzen Permanentmarker vollkommen verschmiertes Comicheft, von dem nur ein Panel halbwegs zu erkennen war, und das genau den Zug zeigte, mit dem er eben gereist war. Wohlgemerkt war Andy der einzige, der darin ein Zeichen sah. Warum hätte die vermisste Elaine dieses Heft sonst unter ihrem Kopfkissen aufbewahrt? Allerdings war niemand bereit, diesem Hinweis auch nur die Spur einer Bedeutung beizumessen – niemand außer Andy. Und ausgerechnet dann, als er den Zug mal vor die Linse bekam, vergaß er, mit seiner Handykamera ein Bild davon zu schießen!

    Aber so sehr Andy sich auch darüber ärgerte, diese Gelegenheit verpasst zu haben, noch viel schlimmer war die Tatsache, dass er nun dastand und wartete, und wartete, und wartete, und keine andere U-Bahn vorbei kam. Jetzt saß er wirklich in der Klemme. Seinen Termin hatte er definitiv verpasst. Aufgebracht sah er sich um, in der Hoffnung, einen Fahrplan zu finden, der ihm sagen konnte, wann die nächste Fahrgelegenheit ihn zurück in sein gewohntes Leben bringen würde. Was für ein verrückter Gedanke das war. Genauso verrückt wie die Tatsache, dass er keinen einzigen Fahrplan, Stadtplan und nicht einmal eine Uhr entdecken konnte. Da war nur eine Tafel voller seltsam bekritzelter Zettel, die er nicht lesen konnte – was für Sauklauen! – und Graffiti an den Wänden, das für ihn genauso unleserlich war wie jeder einzelne Graffiti-Schriftzug den er bisher sah. Ausgenommen den verfluchten Tornado, natürlich!

    Das flaue Gefühl in Andys Bauch wuchs heran zu etwas, das sich in einer viel zu nahen Zukunft als Magenkrampf erweisen würde, wenn er sich nicht wieder in den Griff bekam. Resignierend warf Andy einen Blick auf seine Armbanduhr, wie um sich bestätigen zu lassen, dass er seinen Termin auf jeden Fall verpasst hatte. Ein wehleidiges Stöhnen entwich seiner Kehle, als er sah, dass die Uhr genau dann stehen geblieben war, als er in den verfluchten Zug gestiegen war. Hatte sich an diesem Tag denn alle Technik gegen ihn verschworen? Der kleine Bildschirm seines Handys zeigte nur die Meldung, dass er kein Netz hatte. Das wiederum war unter der Erde nicht verwunderlich. Also machte sich Andy mit durch seine Verärgerung beschleunigten Schritten auf den Weg zum Ausgang. Vielleicht konnte er das Schlimmste durch einen Anruf abwenden und seinen Termin verschieben, jetzt wo er mit Sicherheit zu spät war.

    Es gab zwei Rolltreppen am Ausgang und beide reagierten nicht auf das Betreten der Druckplatte, das sie ansonsten zur Bewegung animiert hätte. Mit einem Seufzer, das der Stimme in seinem Hinterkopf und der Behauptung: „Das hast du doch gewusst", recht gab, begann Andy den herkömmlichen Aufstieg nach oben.

    Wie mühsam das war! Wie gewohnt, wenn er in Eile war, nahm Andy mehrmals zwei Treppenstufen auf einmal, und ließ dabei völlig außer Acht, dass die Stufen einer Rolltreppe höher waren als die normaler Treppen. Er war gänzlich außer Atem, als er endlich oben ankam und vom Nieselregen empfangen wurde. In diesem Augenblick fiel ihm auch wieder ein, dass er eigentlich noch einen Regenschirm mitnehmen wollte. Vermutlich konnte er froh sein, dass er in seiner Eile wenigstens seine Tasche und sein Portemonnaie mitgenommen hatte. Aber der Regen war im Moment seine geringste Sorge. Schlimmer war die Tatsache, dass sein Handy immer noch kein Netz hatte. Es reagierte zudem weder auf das Betätigen des Ausschaltknopfes noch auf irgendeine andere Aktion. Nur das Entfernen des Akkus ließ den Bildschirm verlöschen – aber nach dem erneuten Einsetzen ließ das Handy sich nicht mehr einschalten. Andy war kurz davor, das Ding auf dem Bürgersteig zu zerschmettern, warf es dann aber doch einfach nur in seine Tasche. So viel zu diesem eigentlich so einfachen Plan.

    Er sah sich um, konnte aber keine Telefonzelle sehen. Das war aber nicht das einzige, das an dieser Straße nicht vorhanden war. Es fehlten ebenso jegliche Straßenschilder, Verkehrsschilder, Ampeln oder Zebrastreifen. Er sah zwar Plakatwände und Liftfaßsäulen – die verschmierten Fetzen, die daran klebten, waren jedoch dermaßen wenig aussagekräftig, dass es nur eine Verschwendung der Zeit war, sie einer näheren Betrachtung zu unterziehen. Die einzige Aussage, die Andy von ihrem Zustand ableiten konnte, war, dass diese Gegend verdammt heruntergekommen sein musste. Unschlüssig stand er auf der Straße herum und sah keinen einzigen Bus und auch kein Taxi. Es gab da nur die Gleise einer Straßenbahn, aber keine Möglichkeit, zu ihnen zu kommen, geschweige denn eine Haltestelle. Vielleicht konnte ihm einer der seltenen Fußgänger weiterhelfen?

    „Verzeihung, ich suche die nächste Haltestelle..."

    „Können Sie mir vielleicht sagen, wo die Straßenbahn hält?"

    „Entschuldigung, kann ich Sie kurz etwas fragen?"

    „Hey, Sie, warten Sie mal!"

    Egal was Andy auch sagte, er bekam keine Antwort. Die Leute verhielten sich so, als wäre er nicht existent, und gingen einfach an ihm vorbei. So etwas hatte er noch nicht erlebt. Vor allem konnte er einfach nicht fassen, dass er gestrandet war und weder herausfinden konnte, wo er sich befand, noch eine Möglichkeit fand, von diesem unbekannten Ort wegzukommen.

    Unbekannter Ort schien sogar die richtige Bezeichnung zu sein. Er kannte die Stadt, in der er lebte, gut genug, und er konnte sich nicht erinnern, jemals eine Straße wie die, in der er sich im Augenblick befand, gesehen zu haben. Zugegeben, er war kein Taxifahrer, und er kannte auch nicht jeden Winkel seiner Stadt, aber das alles um ihn herum konnte kaum dazu gehören. Irgendwie wirkte alles so merkwürdig vertraut, und gleichzeitig so fremd, dass Andy das Gefühl hatte, er würde gleich überschnappen. Was für ein Unsinn!

    Die Schienen der Straßenbahn waren seine einzige Spur in Richtung eines Rückwegs, oder aber die Rückkehr unter die Erde in der Hoffnung, doch noch eine U-Bahn zu erwischen. Andy musste jedoch irritiert feststellen, dass es keinen Weg mehr nach unten gab. Er drehte sich mehrmals um die eigene Achse, sah jedoch kein Anzeichen davon, dass es in seiner Sichtweite irgendwann einmal eine U-Bahn-Station gegeben hatte. Das konnte nicht stimmen. Er schloss die Augen, zählte bis drei und sah sich erneut um. Es gab keinen Weg mehr nach unten. Es gab nur die Straße und die Straßenbahn. Drehte er jetzt wirklich durch?

    Vielleicht war er bei seiner Suche nach einem Schild oder bei seiner erfolglosen Befragung von ganz und gar nicht hilfsbereiten Passanten unbemerkt um eine Ecke gelaufen? Er hielt sich zwar nicht für zerstreut, geschweige denn hysterisch, aber in Anbetracht seiner verzwickten, verwirrenden Lage konnte er nicht ausschließen, dass ihm tatsächlich so etwas passiert war. Aber egal welche Straßenecken er auch überprüfte, er fand keine Spur mehr von der U-Bahn-Station. Er konnte froh sein, dass er die Schienen der Straßenbahn wiedergefunden hatte, die für ihn wenigstens einen Wegweiser darstellten. Egal in welche Richtung er ihnen folgen würde, früher oder später würde er eine Haltestelle finden und von dort aus weiterreisen können.

    In dem Augenblick fuhr leise scheppernd eine seltsame, altmodisch anmutende Straßenbahn an ihm vorbei. Er war sich nicht sicher, ob die Wagen nur in einem Retro-Look gestaltet waren, oder tatsächlich aus der Geburtszeit dieses Fortbewegungsmittels stammten. Und zum ersten Mal seit seinem Auftauchen in diesem Teil der Stadt wurde jemand auf ihn aufmerksam. Es war ein Schulmädchen in einer dunklen, britischen Schuluniform, vielleicht sechzehn Jahre alt, dünn wie ein Model und blass wie ein Junkie, mit einem durchdringenden Blick der großen, dunklen Augen unter dem bis an die Augenbrauen reichenden, perfekt waagrecht verlaufenden Pony der ebenso dunklen, glatten Haare. Als einzige Person sah sie ihn direkt an, und ihr Blick blieb so lange an ihm hängen bis der Winkel des Fensters zu seiner Position dies unmöglich machte. Sie bewegte ihr Gesicht nicht ein wenig, und dennoch war ihr Blick direkt auf ihn gerichtet, wie man es von manchen unheimlichen Gemälden her kannte.

    Konnte das ein Zufall sein? Andy musste erneut an das beinahe vollkommen unleserliche Comicheft unter Elaines Kopfkissen denken. Es musste einen Zusammenhang zwischen íhrem Verschwinden und diesem Tornado-Zug geben. War Elaine am Ende genauso wie er jetzt irgendwo hineingeraten und – ja, was dann? Was auch immer dann passiert war, es konnte nichts Gutes gewesen sein. Es hatte dazu geführt, dass aus einer jungen Frau mit einer vielversprechenden Zukunft ein depressiver Schatten ihrer Selbst geworden war, bevor sie endgültig verschwand. Plötzlich drängte sich ihm die Frage auf, ob eine Stadt ein menschenvernichtendes Ungeheuer sein konnte. Andy schüttelte nur seinen Kopf. Es waren immer Menschen, die eine Schuld zu tragen hatten. Und diese Schuldigen würde er sicherlich irgendwo hier finden. Irgendwo in dieser Gegend, in der er gestrandet war, so wie einige Monate zuvor die arme Elaine. Wieso dachte er eigentlich ständig daran, gestrandet zu sein? Und wohin war er eigentlich unterwegs?

    Während seine Gedanken seltsame Kurven nahmen und ihm eine verrückte Möglichkeit nach der anderen vorschlugen, welche schrecklichen Dinge Elaine zugestoßen sein konnten, die eine Erklärung für ihren Zustand vor dem Verschwinden sein würden, hatte er sich offensichtlich in Bewegung gesetzt, und zwar in die Richtung der vorbeigefahrenen Straßenbahn. Zuerst war er gelaufen, in der unbewussten Hoffnung, das Fahrzeug bei der nächsten Haltestelle einholen zu können, sofern sie nicht zu weit entfernt war. Aber dies war ihm nicht vergönnt. Keuchend versuchte er, zumindest ein hastiges Schritttempo zu halten, doch die Straßenbahn holte er nicht mehr ein. Stur lief er weiter, die Gleise entlang, bis er schließlich durch einen Zufall dieses seltsame Mädchen in der Tür eines Lokals verschwinden sah. Den Schriftzug über der Tür konnte Andy nicht entziffern, egal wie er sich bemühte. Vermutlich war das irgendein Insider-Gag, oder eine bewusste Verwendung fremder Schriftzeichen, um sich von der Konkurrenz abzuheben. Andy überquerte die Straße und trat ein.

    Eine leicht mit Zigarettenrauch versetzte Luft umschloss Andy, kaum dass sich die Tür hinter ihm schloss. Das Lokal war wohl eine Mischung aus einem Imbiss, einer Kneipe, einer Bar, und weiß der Geier was noch alles dazugehörte. Ein perfekter Treffpunkt für Leute, die etwas zu essen haben wollten, einen Drink, etwas Unterhaltung oder die mal das Tanzbein schwingen wollten. Für alles bot sich hier eine Gelegenheit. Besonders gut besucht schien es an einem Montag Morgen nicht zu sein, was zu erwarten war. Ein Wunder, dass das Lokal überhaupt geöffnet hatte. Er sah nur wenige Leute, und diese ignorierten ihn wie der Rest der Welt in dieser Gegend. Die meisten begnügten sich mit ihrem Kaffee oder ihrem Essen. Das Mädchen sah er nicht mehr.

    Unschlüssig näherte Andy sich dem Tresen, hinter dem eine Frau seines, auf die vierzig zugehenden Alters sich gerade um den Abwasch einiger Tassen kümmerte. Sie hatte hochgestecktes, leicht golden schimmerndes rotes Haar und war sogar verdammt hübsch, obwohl ihr Alter ihr mehr als deutlich anzumerken war. Fältchen der Trauer dominierten ihren Ausdruck, auch wenn sie sich nicht allzu deutlich zeigten. Gerade als er sie ansprechen wollte sah sie zu ihm und er war sofort baff über den Blick ihrer Augen, von denen er nicht sagen konnte, ob sie grau, blau oder doch grün waren.

    „Was kann ich Ihnen bringen?", fragte sie und eine Gänsehaut jagte über seinen Rücken. Eine Frau mit einer solchen Stimme sollte nicht in einem kleinen Lokal arbeiten, sondern auf der Bühne stehen.

    „Ich...", Andy erinnerte sich plötzlich daran, dass er an diesem Tag weder etwas gegessen, noch seinen üblichen Morgenkaffee zu sich genommen hatte. Vielleicht war das eine Erklärung für all die merkwürdigen Dinge gewesen, die ihm passiert waren? Unachtsamkeit auf Grund von einem Mangel an Substanzen, die sein Körper jeden Morgen benötigte?

    „Ich nehme einen Kaffee und... haben Sie ein Frühstücksmenü?" Er hoffte, dass es für so etwas noch nicht zu spät war. In dem diffusen Licht des herbstlichen Nieselregens war ihm jegliches Zeitempfinden verloren gegangen.

    Die Frau lächelte leicht und nickte: „Selbstverständlich. Um genau zu sein haben Sie zwei zur Auswahl." Sie reichte ihm eine einfache Karte.

    Andy nahm sie entgegen und blinzelte verwirrt. Wieder konnte er kein einziges Wort entziffern. Also versuchte er es auf gut Glück. Das Essen war ohnehin zweitrangig: „Ähm... ich nehme dann die erste Variante. Den Kaffee bitte stark, schwarz und ungesüßt."

    Sie lächelte und nickte, und verschwand hinter der Tür, die offensichtlich in die Küche führte. Eine Minute später kehrte sie mit einer großen Tasse zurück, aus der dampfend der für Andy schönste Geruch des Morgens aufstieg. Genau so

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