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Avatar - Der Herr der Elemente: Der Aufstieg von Kyoshi
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eBook585 Seiten11 Stunden

Avatar - Der Herr der Elemente: Der Aufstieg von Kyoshi

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Über dieses E-Book

Zwei Avatar-Zyklen vor Aang kam Kyoshi im Erdkönigreich zur Welt. Ihre Taten als Avatar wurden zur Legende und prägten die vier Nationen über Jahrhunderte. Doch bevor sie die Elite-Truppe der Kyoshi-Kriegerinnen gründete und zur gnadenlosen Verfolgerin der Gerechtigkeit wurde, war Kyoshi eine ausgesetzte Waise im Erdkönigreich.
Neun lange Jahre suchen die Weisen der vier Nationen verzweifelt den neuen Avatar, bis sie endlich den charismatischen Erdbändiger Yun finden und in ihm den Avatar erkennen – doch die anderen drei Elemente wollen sich einfach nicht seinem Willen beugen. Die Frage nach dem wahren Avatar kommt erst wieder auf, als seine Dienerin und Freundin Kyoshi auf einer Mission gewaltige Bändigerfähigkeiten beweist. Unausgebildet und ohne Vorbereitung muss Kyoshi entgegen allen Widrigkeiten die Rolle des Avatars annehmen.
Der erste der beiden Romane über Avatar Kyoshi beginnt die Reise eines Mädchens aus einfachen Verhältnissen, die auch Jahrhunderte nachdem sie zum Avatar wurde gefürchtet und bewundert wird.
SpracheDeutsch
HerausgeberCross Cult
Erscheinungsdatum2. Dez. 2019
ISBN9783966580113
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    Buchvorschau

    Avatar - Der Herr der Elemente - F.C. Yee

    DER TEST

    DIE HAFENSTADT YOKOYA wurde allgemein wenig beachtet.

    Dank ihrer Lage am Rande der Walschwanz-Meerenge hätte sie eine bedeutende Anlaufstation für Schiffe sein können, die aus einem der zahllosen Häfen kamen und Omashu belieferten. Doch dank der kräftigen und verlässlichen Winde war es für Händler auf dem Weg gen Süden einfacher und preisgünstiger, die große Shimsom-Insel direkt anzulaufen.

    Jianzhu fragte sich, ob es die Ortsansässigen überhaupt kümmerte, dass all die mit Reichtümern beladenen Schiffe direkt vor ihrer Nase vorbeisegelten, während sie selbst mit beiden Händen in den Eingeweiden irgendeines Elefantenkois wühlten. Nur eine Laune des Schicksals und das Wetter verhinderten, dass Gold, Gewürze, wertvolle Bücher und Schriftrollen direkt vor ihrer Haustür landeten. Yokoyas Los waren die Innereien von Fischen – Blasen und Kiemen im Überfluss.

    Auf der dem Festland zugewandten Seite sah es noch schlechter aus. Je weiter die Halbinsel ins Meer hinausragte, desto karger und felsiger wurde der Boden. Als Jianzhu zum ersten Mal in die Stadt geritten war, hatte ihn der Anblick der mageren Felder erschüttert. Das Ackerland entbehrte der wilden, vulkanischen Üppigkeit des Makapu-Tals oder der sorgsamen, planvollen Produktivität des Äußeren Rings von Ba Sing Se, wo sich das Wachstum dem Willen der königlichen Planer beugte. Hier mussten die Bauern jedoch für jedes bisschen Nahrung dankbar sein, das sie dem Boden abtrotzen konnten.

    Die Siedlung lag an der Grenze von drei verschiedenen Staaten: Erde, Luft und Wasser. Dennoch hatte keine dieser Nationen sie je wirklich für sich beansprucht. Die Konflikte der Außenwelt wirkten sich kaum auf das Leben der Yokoyaner aus.

    Berichte über die Verheerungen im Zuge des Gelbnacken-Aufstands tief im Erdkönigreich interessierten sie deutlich weniger als die Nachricht über den aus dem Lufttempel entflogenen Bison, der eine Woche zuvor einige Dächer abgedeckt hatte. Sie waren Seefahrer und konnten trotzdem keinen der gefürchteten Piratenanführer beim Namen nennen, die die Meere im Osten unter sich aufgeteilt hatten und der Marine von Ba Sing Se immer wieder ein Schnippchen schlugen.

    Alles in allem hätte Yokoya ebenso gut gar nicht auf der Landkarte verzeichnet sein können. Für das verzweifelte und frevlerische kleine Experiment von Jianzhu und Kelsang war es deshalb der perfekte Ort.

    Jianzhu stapfte durch den feuchten, schmutzigen Schnee den Berg hinauf. Das Stroh des Umhangs, der um seine Schultern hing, stach in seinen Nacken. Er passierte die Holzsäule, die das spirituelle Zentrum des Dorfs markierte, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Sie war nicht mehr als ein entlaubter Stamm, den man aufrecht in den Boden des kreisförmigen Hofs getrieben hatte. Das nackte Holz war nicht einmal mit irgendwelchen Schnitzereien verziert, was ziemlich nachlässig wirkte, wenn man bedachte, dass fast jeder Erwachsene der Stadt sich ein bisschen mit der Schreinerei auskannte.

    Da, schien der grimmige Pfosten sämtlichen Naturgeistern in der Nähe entgegenzurufen. Zufrieden?

    Verwitterte Häuser säumten die breite, ausgewaschene Straße und ragten wie Speerspitzen in den Himmel. Jianzhus Ziel war die zweistöckige Versammlungshalle am Ende. Kelsang hatte sich gestern dort eingerichtet, unter dem Vorwand, er bräuchte so viel Platz wie möglich für den Test; außerdem würde der Ort von günstigen Windströmungen profitieren. Kelsang hatte sich auf äußerst feierliche Art und Weise den Finger geleckt und ihn in die Luft gehalten.

    Wenn es denn half. Jianzhu schickte ein schnelles Gebet zum Wächter des Göttlichen Baumstamms, streifte seine Schneeschuhe ab, legte sie auf die Veranda und duckte sich unter den Türvorhängen hindurch.

    Die Halle war überraschend groß. Die Ecken am gegenüberliegenden Ende lagen im Halbdunkel. Die Bohlen, aus denen die Wände bestanden, mussten von wahrhaft gewaltigen Bäumen stammen. Die Luft roch nach Harz. Zehn lange und verblasste gelbe Tücher lagen ausgebreitet auf den abgenutzten Bodendielen. Auf jedem befand sich eine Reihe von Spielzeugen, ordentlich aufgereiht wie Setzlinge in einem Beet.

    Eine Bisonpfeife, ein aus Weidenruten geflochtener Ball, ein formloser Klumpen, der eine ausgestopfte Schildkrötenente sein mochte, eine Spiralfeder aus Walknochen, eine jener Stabtrommeln, die ratterten, wenn man sie zwischen den Handflächen drehte. Die Spielzeuge wirkten ebenso alt und abgenutzt wie die Fassade des Gebäudes.

    Kelsang kniete am Ende der Tücher und breitete weiteren Schnickschnack aus. Dabei ging der Luftbändigermönch mit so viel Achtsamkeit und Präzision vor, dass er an einen Akupunkteur erinnerte, der seine Nadeln setzte. Als ob es wirklich eine Rolle spielen würde, ob das Miniaturboot nun gen Osten oder Westen segelte. Er blieb auf Händen und Knien und schob seinen massigen Leib seitwärts, wobei seine wogenden orangefarbenen Gewänder und sein drahtiger schwarzer Bart so tief herabhingen, dass sie den sauber geschrubbten Boden erneut fegten.

    »Ich wusste nicht, dass es von diesem Spielzeug so viel gibt«, sagte Jianzhu zu seinem alten Freund. Er erspähte eine große weiße Murmel, die zu nah am Rand des Stoffs zu liegen schien. Mit einer anmutigen Handbewegung ließ er die Murmel dank seiner Erdbändigerkräfte vor Kelsang schweben wie eine Fliege, die seine Aufmerksamkeit erringen wollte.

    Kelsang schaute nicht einmal auf; er pflückte die Murmel aus der Luft und legte sie wieder an ihren Platz zurück. »Es sind Tausende. Ich würde dich ja um Hilfe bitten, aber du würdest es ohnehin nicht richtig machen.«

    Diese Aussage bereitete Jianzhu Kopfschmerzen. An dem Punkt, alles »richtig zu machen«, waren sie schon lange vorbei. »Wie hast du Abt Dorje überredet, dir all diese Reliquien zu überlassen?«

    »Genauso wie du Lu Beifong überzeugt hast, einen Luftnomadentest im Erdzyklus durchzuführen«, sagte Kelsang ruhig, während er einen Holzkreisel mittig ausrichtete. »Gar nicht.«

    Wie pflegte ein gewisser gemeinsamer Freund vom Wasserstamm doch immer zu sagen? Lieber um Verzeihung bitten, als auf Erlaubnis warten. Jianzhus Ansicht nach war die Zeit des Wartens lang vorbei.

    Als Avatar Kuruk, Bewahrer des Gleichgewichts und des Friedens auf der Welt, Brücke zwischen Geistern und Menschen, im reifen Alter von dreiunddreißig Jahren verstorben war – Dreiunddreißig! Das einzige Mal, dass Kuruk für irgendetwas früh dran gewesen war! –, wurden seine Freunde, Lehrer und auch andere bekannte Bändiger in die Pflicht genommen, den neuen Avatar zu finden, reinkarniert im nächsten Staat des Elementezyklus. Erde, Feuer, Luft, Wasser, dann wieder Erde – eine Ordnung, so unveränderlich wie der Lauf der Jahreszeiten. Seit annähernd tausend Generationen ging das schon so und man hoffte, dass es noch weitere tausend Generationen fortdauern würde.

    Doch dieses Mal schien der Kreislauf ins Stocken geraten zu sein.

    Sieben Jahre waren seit Kuruks Tod vergangen, sieben Jahre des vergeblichen Suchens. Jianzhu hatte jede verfügbare Aufzeichnung der vier Staaten durchforstet, die teilweise Hunderte von Jahren zurückreichten: Noch nie in der dokumentierten Geschichte hatte sich die Suche nach dem Avatar derart verzögert.

    Niemand wusste, was der Grund dafür war, auch wenn die verehrten Ältesten hinter verschlossenen Türen natürlich ihre Vermutungen austauschten: Manche behaupteten, die Welt wäre unrein und von den Geistern im Stich gelassen worden; andere meinten, dem Erdkönigreich mangele es an Zusammenhalt. Womöglich lag es ja auch an den Wasserstämmen, die an den Polen lebten und sich endlich vereinigen sollten. Und einige forderten sogar, dass die Luftbändiger, statt zu beten, endlich mal von ihren Bergen herabsteigen und sich die Hände schmutzig machen müssten. Die Diskussionen der Ältesten zu diesem Thema nahmen kein Ende.

    Jianzhu war nicht auf der Suche nach einem Schuldigen. Vielmehr bedrückte es ihn, dass Kelsang und er wieder einmal ihren Freund enttäuscht hatten. Bevor Kuruk von ihnen gegangen war, hatte er eines angeordnet: dass seine engsten Gefährten den nächsten Avatar aufspüren und sich seiner annehmen sollten. Doch bis jetzt hatten sie dabei versagt. Auf spektakuläre Weise.

    Längst hätten sie einen fröhlich plappernden siebenjährigen Avatar des Erdkönigreichs in ihrer Obhut haben sollen, beschützt von einer Reihe der besten Bändiger der Welt – ein Kind, das langsam und sorgfältig auf die Annahme seiner Pflichten vorbereitet wurde. Stattdessen gab es ein Vakuum, und mit jedem verstreichenden Tag wurde es gefährlicher.

    Jianzhu und die anderen Meister hatten alles darangesetzt, um das Fehlen des Avatars geheim zu halten, doch vergebens: Die Grausamen, Machthungrigen und Gesetzlosen – all jene, die unter normalen Umständen am meisten Grund gehabt hätten, den Avatar zu fürchten – hatten den Braten gerochen und merkten nun, dass sich die Lage zu ihren Gunsten veränderte. Wie Sandhaie, die rein instinktiv auf die leisesten Vibrationen reagierten, testeten sie ihre Grenzen aus, wagten sich vor. Die Zeit lief ab.

    Kelsang beendete seine Arbeit, als der Mittagsgong ertönte. Die Sonne stand hoch am Himmel und schmolz den Schnee auf dem Dach, das Wasser tropfte auf den Boden wie ein leichter Regen. Durch die papierbespannten Fenster waren die Silhouetten der Dorfleute und ihrer Kinder zu sehen, die sich für den Test anstellten. Alle schwatzten aufgeregt durcheinander.

    Genug gewartet, dachte Jianzhu. Diesmal muss es geschehen.

    Erdavatare wurden traditionell mittels Richtungsgeomantie aufgespürt, durch eine Reihe von Ritualen, die es ermöglichten, die größte und bevölkerungsreichste der Vier Nationen auf möglichst effiziente Weise zu durchsuchen. Dabei wurde von den Meistern der Erdbändigung ein Satz besonderer Knochentrigramme ausgeworfen und interpretiert. Das Ergebnis half, die Hälfte des Erdkönigreichs als möglichen Ort des neugeborenen Avatars auszuschließen, der nächste Wurf halbierte diesen Bereich erneut und immer so weiter. Auf diese Weise wurde das Gebiet eingegrenzt, bis die Sucher am Ende auf der Türschwelle des Erdavatarkindes standen.

    Mit dieser Methode kam man schnell voran und sie passte zur Mentalität der Erdbändiger. Schlicht und einfach eine Frage der Logistik. Und normalerweise klappte es beim ersten Versuch.

    Jianzhu hatte an mehreren Expeditionen teilgenommen, war von den Vorhersagen der Knochen in Einöden entsandt worden, in leere Edelsteinhöhlen unterhalb von Ba Sing Se und sogar in eine Gegend in der Wüste Si Wong, die so trocken war, dass selbst die Sandbändiger sich nicht dorthin verirrten. Lu Beifong hatte die Trigramme gelesen und auch König Buro von Omashu hatte sich daran versucht, ebenso wie Neliao, die Gärtnerin. Es ging abwärts durch die Hierarchie der Erdbändiger, bis auch Jianzhu sein Glück versucht und diverse Fehlschläge erlitten hatte. Seine Freundschaft zu Kuruk hatte ihm bei der Suche nach dem nächsten Avatar keinen besonderen Vorteil gebracht.

    Nachdem der letzte Versuch ihn auf einen Eisberg am Nordpol geführt hatte, wo nur Schildkrötenseehunde als Kandidaten herhalten konnten, hatte Jianzhu angefangen, auch für radikalere Vorschläge ein offenes Ohr zu haben. Bei einem Besäufnis mit Kelsang, als sie versucht hatten, ihren Frust zu ertränken, war dann eine vielversprechende neue Idee entstanden: Wenn die Methoden des Erdkönigreichs zu nichts führten, warum nicht die Methoden eines der anderen Reiche ausprobieren? Schließlich war der Avatar der einzige Bändiger aller vier Elemente und Ehrenbürger der ganzen Welt.

    Also pfiffen sie auf die Tradition und versuchten es mit der Methode der Luftnomaden, den Avatar zu identifizieren. Yokoya würde ein Probelauf sein, ein sicherer Ort fernab vom Trubel, der sonst im Land und zu Wasser herrschte; hier konnten sie sich in Ruhe Notizen machen und Probleme beheben. Wenn in Yokoya alles glattlief, könnten sie die Ältesten überzeugen, den Test aufs ganze Erdkönigreich auszuweiten.

    Die Methode der Luftnomaden war eigentlich recht simpel. Nur vier der ausgelegten Spielzeuge hatten in früheren Zeiten einem der Avatare gehört. Jedes siebenjährige Kind des Dorfs würde hereingebracht und vor eine überwältigende Menge von Spielzeug gesetzt werden. Der Avatar war das Kind, das sich, in Erinnerung an ein früheres Leben, zu den vier besonderen Spielzeugen hingezogen fühlte.

    So lautete zumindest die Theorie.

    In der Praxis war es das pure Chaos, eine Katastrophe, wie man sie in den Vier Nationen noch nicht gesehen hatte.

    Jianzhu hatte nicht daran gedacht, was passieren würde, wenn ein Kind beim Test durchfiel und man ihm sagte, es solle seine auserwählten Spielzeuge zurücklegen und Platz für den nächsten Kandidaten machen. Die Tränen! Das Geheul! Das Geschrei! Kindern Spielzeug wegnehmen, das sie sich gerade noch hatten aussuchen dürfen? Es gab keine größere Macht auf Erden als den rechtschaffenen Zorn eines beraubten Kindes.

    Und die Eltern waren sogar noch schlimmer: Bei den Luftnomaden mochten die Erzieher mit Anstand und Bescheidenheit reagieren, wenn ihre Schützlinge abgelehnt wurden; in den übrigen Nationen jedoch bestanden Familien nicht aus Mönchen und Nonnen. Vor allem im Erdkönigreich war, sobald es um Blutsbande ging, auf nichts mehr Verlass. Dorfbewohner, die vorher noch freundlich gegrüßt hatten, verwandelten sich in knurrende Canyonkriecher, sobald man ihnen erklärte, dass es sich bei ihrem geliebten kleinen Jae oder ihrer süßen Mirai in der Tat nicht um das bedeutendste Kind auf der Welt handelte, obwohl sie das doch eigentlich insgeheim schon immer gewusst hatten. Nicht wenige schworen Stein und Bein, sie hätten ihren Nachwuchs mit unsichtbaren Geistern spielen oder Erde und Luft gleichzeitig bändigen sehen.

    Kelsang entgegnete dann sanft: »Seid ihr sicher, dass es sich nicht einfach um Erdbändigung während einer normalen Brise handelte? Seid ihr sicher, dass das Baby nicht nur … gespielt hat?«

    Manche wollten es einfach nicht einsehen. Als die Dorfvorsteherin erfuhr, dass ihre Tochter – Aoma oder so ähnlich – abgelehnt worden war, bedachte sie die beiden mit einem Blick abgrundtiefer Verachtung und verlangte, mit einem höherrangigen Meister zu sprechen.

    Tut mir leid, meine Gute, dachte Jianzhu, nachdem Kelsang annähernd zehn Minuten damit verbracht hatte, sie zu beruhigen. Wir können nicht alle etwas Besonderes sein.

    »Zum letzten Mal: Wir sprechen nicht über ein Gehalt!«, knurrte Jianzhu einem besonders dreisten Bauern ins Gesicht. »Avatar zu sein ist kein bezahlter Posten!«

    Der stämmige Mann zuckte mit den Schultern. »Dann verschwenden wir hier nicht unsere Zeit. Ich nehm mein Kind und hau ab.«

    Aus dem Augenwinkel sah Jianzhu, dass Kelsang hektisch mit den Händen wedelte und sich dann mit dem Finger über die Kehle fuhr, als wollte er ein Halsabschneiden andeuten. Das kleine Mädchen war zu einem Flugspielzeug hinübergegangen, das einmal einem Avatar gehört hatte, und starrte es gebannt an.

    Wirklich? Sie hatten nicht damit gerechnet, heute schon irgendwelche positiven Ergebnisse zu bekommen. Aber gleich beim ersten Gegenstand das Richtige zu wählen, das war schon unwahrscheinlich. Zu unwahrscheinlich, als dass sie riskieren konnten, jetzt aufzuhören.

    »Okay«, sagte Jianzhu. Das Geld würde aus seiner eigenen Tasche kommen müssen. »Fünfzig Silberstücke im Jahr, wenn sie der Avatar ist.«

    »Sechzig Silber im Jahr, wenn sie der Avatar ist, und zehn, wenn sie’s nicht ist.«

    »WARUM SOLLTE ICH DICH BEZAHLEN, WENN SIE NICHT DER AVATAR IST?«, brüllte Jianzhu.

    Kelsang hüstelte und klopfte mit dem Fußballen auf den Boden. Das Mädchen hatte das Flugspielzeug aufgehoben und beäugte nun die Trommel. Zwei von vier richtig. Aus Tausenden.

    Heiliger Shu.

    »Ich meine natürlich, kein Problem«, sagte Jianzhu rasch. »Abgemacht.«

    Sie gaben sich die Hand. Es wäre ziemlich ironisch und würde genau Kuruks Sinn für Humor entsprechen, wenn sie dank der Gier eines Bauern die Reinkarnation fänden. Und noch dazu war es das allerletzte Kind in der Schlange, das sie heute prüften. Jianzhu musste beinahe kichern.

    Nun hatte das Mädchen auch die Trommel im Arm und nahm Kurs auf einen ausgestopften Schweineaffen. Kelsang war außer sich vor Aufregung, sein Hals drohte seine Kette aus Holzperlen zu sprengen. Jianzhu wurde schwindlig. Hoffnung hämmerte gegen seinen Brustkorb, wollte nach so vielen Jahren der Gefangenschaft endlich ins Freie.

    Das Mädchen hob den Fuß und trat auf das ausgestopfte Tier, so fest sie konnte.

    »Stirb!«, schrie sie mit ihrem hellen Stimmchen. Sie zermalmte es unter ihrer Ferse, bis man die Nähte reißen hörte.

    Kelsang erbleichte. Er sah aus, als wäre er Zeuge eines Mordes geworden.

    »Zehn Silber«, sagte der Bauer.

    »Raus hier«, fuhr Jianzhu ihn an.

    »Komm, Suzu«, rief der Bauer. »Wir gehen.«

    Er entwand dem Mädchen, der Schlächterin des Schweineaffen, die anderen Spielzeuge, hob es hoch und ging hinaus. Die ganze Eskapade war für ihn lediglich der Versuch gewesen, ein Geschäft zu machen. Auf dem Weg nach draußen hätte er beinahe ein anderes Kind umgelaufen, das von der Veranda aus heimlich zugesehen hatte.

    »Hey!«, sagte Jianzhu. »Ihr habt Eure andere Tochter vergessen!«

    »Das ist nicht meine«, sagte der Bauer, während er die Stufen zur Straße hinunterstapfte. »Die gehört keinem.«

    Eine Waise also? Jianzhu hatte das unbeaufsichtigte Mädchen in den Tagen zuvor nicht in der Stadt gesehen; aber vielleicht hatte er sie unbewusst als zu alt abgetan, um eine Kandidatin zu sein. Sie war viel größer als all die anderen Kinder, die zu ihnen gebracht worden waren.

    Als Jianzhu zu ihr hinausging, um zu schauen, was ihm entgangen war, fing das Mädchen an zu zittern und machte Anstalten zu fliehen, doch ihre Neugier siegte über ihre Furcht und sie blieb, wo sie war.

    Unterernährt, dachte Jianzhu finster, als er seinen Blick über die hohlen Wangen und aufgesprungenen Lippen des Kindes gleiten ließ. Und definitiv eine Waise. In den inneren Provinzen hatte er Hunderte von Kindern wie sie gesehen: Sie trieben unbeaufsichtigt auf den Straßen herum, nachdem ihre Eltern von irgendeiner der Banditengruppen erschlagen worden waren, die derzeit als gesetzlose Daofei die Gegend unsicher machten. Das Mädchen musste weit gewandert sein, um es bis in die relativ friedliche Gegend von Yokoya zu schaffen.

    Zum Anlass der Avatarprüfung hatten die Familien des Dorfs ihre Kinder besonders schick angezogen, so als wäre es ein Festtag. Dieses Kind jedoch trug einen fadenscheinigen Mantel; ihre Ellenbogen guckten durch die Löcher in den Ärmeln. Ihre übergroßen Füße drohten die Riemen ihrer zu kleinen Sandalen zu sprengen. Keiner der Ortsansässigen kümmerte sich um sie, gab ihr zu essen oder etwas zum Anziehen.

    Kelsang, der trotz seiner furchterregenden Erscheinung besser mit Kindern umgehen konnte, hockte sich vor ihr hin. Mit einem Lächeln verwandelte er sich von einem orangefarbenen Berg in eine gigantische Version der ausgestopften Kuscheltiere hinter ihm.

    »Hallo, du«, sagte er und legte eine Extraschippe Freundlichkeit in seine tiefe Stimme. »Verrätst du mir, wie du heißt?«

    Das Mädchen zögerte einen Moment und musterte die beiden Männer wachsam.

    »Kyoshi«, flüsterte sie. Dabei zog sie die Augenbrauen zusammen, als wäre die Enthüllung ihres Namens ein schmerzvolles Zugeständnis.

    Kelsang nahm Notiz von ihrem zerfledderten Aussehen und vermied es vorerst, nach ihren Eltern zu fragen. »Kyoshi, hättest du gern ein Spielzeug?«

    »Meinst du nicht, sie ist zu alt?«, fragte Jianzhu. »Sie ist größer als manche Jugendliche.«

    »Pscht«, sagte Kelsang und wies mit der Hand zu den Spielzeugen, mit denen die Halle geschmückt war.

    Die Enthüllung so vieler Spielzeuge auf einmal hatte eine magische Wirkung auf die meisten Kinder. Aber Kyoshi sog nicht die Luft ein, lächelte nicht, bewegte keinen Muskel. Stattdessen hielt sie den Blickkontakt mit Kelsang aufrecht, bis er blinzelte.

    Schnell wie ein Peitschenhieb flitzte sie an ihm vorbei in die Halle, schnappte sich einen Gegenstand vom Boden und lief zurück zu ihrem Platz auf der Veranda. Sie beobachtete die Reaktionen von Kelsang und Jianzhu ebenso gebannt wie die beiden das Mädchen.

    Kelsang warf Jianzhu einen Blick zu und neigte den Kopf in Richtung der Tonschildkröte, die Kyoshi nun an ihre Brust drückte. Eines der vier wahren Relikte. Kein Kandidat war heute auch nur in die Nähe dieses Spielzeugs gekommen.

    Sie hätten aufgeregt sein sollen wie bei der fiesen kleinen Suzu, aber Jianzhu hatte Zweifel. Es war schwer zu glauben, dass sie nach so einer Enttäuschung mit einem Mal Glück haben sollten.

    »Gute Wahl«, sagte Kelsang. »Aber ich hab eine Überraschung für dich: Du kannst noch drei haben! Vier Spielzeuge, nur für dich! Wär das nicht schön?«

    Jianzhu nahm deutlich wahr, wie die Haltung des Mädchen sich veränderte: Es war fast wie ein Beben, das sich durch die hölzernen Bodendielen übertrug.

    Ja, sie wollte sehr gern noch drei Spielzeuge, wie jedes Kind. Aber in ihrer Vorstellung war das Versprechen von mehr gefährlich. Eine Lüge, um ihr wehzutun. Wenn sie den Griff um ihren einzigen Schatz lockerte, würde sie am Ende mit nichts dastehen. Bestraft für ihren Glauben an die Freundlichkeit dieses Fremden.

    Kyoshi schüttelte den Kopf. Die Knöchel der Finger, mit denen sie die Kröte umklammert hielt, wurden weiß.

    »Schon gut«, sagte Kelsang. »Du musst die Schildkröte nicht weglegen. Das ist ja das Schöne, du kannst einfach … hey!«

    Das Mädchen wich einen Schritt zurück, dann noch einen, und bevor sie reagieren konnten, machte es auf der Stelle kehrt und rannte mit dem einmaligen, jahrhundertealten Relikt in den Händen den Hügel hinab. Auf halbem Wege die Straße hinunter bog sie scharf ab und verschwand zwischen zwei Häusern. Sie hatte offensichtlich viel Erfahrung darin, auf der Flucht Verfolger abzuschütteln.

    Jianzhu schloss die Augen gegen die Sonne. Das Licht drang in scharlachroten Flecken hindurch. Er spürte seinen eigenen Pulsschlag. Seine Gedanken wanderten zu einem anderen Ort.

    Statt in Yokoya stand er in der Mitte eines Dorfs im Herzen des Erdkönigreichs, das gerade erst durch Xu Ping An und die Gelbnacken »befreit« worden war. In diesem Wachtraum stanken seine Kleider nach verrottendem Fleisch und der Wind trug die Schreie der Überlebenden zu ihm herüber. Ein offizieller Botschafter, der in einer Sänfte hergetragen worden war, verlas minutenlang eine Schriftrolle mit den Ehrentiteln des Erdkönigs, nur um Jianzhu am Ende zu sagen, dass keine Verstärkung von der Armee Seiner Majestät kommen würde.

    Er versuchte die Erinnerung abzuschütteln, doch die Vergangenheit hatte ihre scharfen Klauen in ihn geschlagen. Nun saß er an einem Verhandlungstisch aus purem Eis, gegenüber von Tulok, dem Herrn der Piraten der Fünften Nation. Als man ihn aufforderte, das Versprechen seines Großvaters zu ehren und die südlichen Küstenlinien des Kontinents in Frieden zu lassen, ließ der alte Seeräuber sein schwindsüchtiges Lachen hören. Blut und Schleim spritzten auf die Verträge, die Avatar Yangchen mit ihrer eigenen heiligen Hand aufgesetzt hatte, während seine Tochter und Leutnantin an seiner Seite stand und Jianzhu mit ihrem seelenlosen Blick durchbohrte, als wäre er ihre Beute.

    Damals und zu vielen anderen Zeiten hätte er zur Rechten des Avatars stehen sollen, der ultimativen Autorität, die die Welt ihrem Willen beugen konnte. Stattdessen war er allein und hatte das Gefühl, als würden sich die Kiefer gewaltiger Bestien des Landes und der See um ihn schließen und das Königreich in Dunkelheit hüllen.

    Kelsang holte ihn mit einem kräftigen Schlag auf den Rücken zurück in die Gegenwart.

    »Komm schon«, sagte er. »So, wie du guckst, könnte man meinen, du wärst derjenige, der gerade das wichtigste kulturelle Artefakt seiner Nation verloren hat.«

    Die gute Laune des Luftbändigers und seine Fähigkeit, Rückschläge mühelos wegzustecken, waren normalerweise ein großer Trost für Jianzhu, doch in diesem Moment wollte er seinem Freund in sein dummes bärtiges Gesicht schlagen. Er bemühte sich, es sich nicht anmerken zu lassen.

    »Wir müssen ihr folgen«, sagte er.

    Kelsang schürzte die Lippen. »Ach, es würde sich falsch anfühlen, dem Kind das Relikt abzunehmen, wo’s schon so wenig hat. Sie kann’s behalten. Ich gehe zum Tempel zurück und stelle mich Dorjes Zorn allein. Du musst dich da nicht mit reinziehen lassen.«

    Jianzhu wusste nicht, was Luftbändiger sich unter Zorn vorstellten, aber darum ging es gerade auch gar nicht. »Du würdest den Luftnomadentest ruinieren, nur um ein Kind glücklich zu machen?«, fragte er ungläubig.

    »Es wird schon wieder da landen, wo es hingehört.« Kelsang sah sich um und hielt inne.

    Dann verblasste sein Lächeln, als wäre diese kleine Stadt eine heftige Dosis Realität, die erst in diesem Moment zu wirken begann.

    »Letzten Endes.« Er seufzte. »Vielleicht.«

    NEUN JAHRE SPÄTER

    EINES WAR KYOSHI KLAR: Diese Situation war wie eine Geiselnahme.

    Stille war der Schlüssel, um die Sache heil durchzustehen. Abwarten in völliger Passivität. Neutrales Jing.

    Kyoshi folgte still dem Pfad durch das brachliegende Feld. Sie ignorierte das Gras, das ihre Fußgelenke kitzelte, und den perlenden Schweiß auf ihrer Stirn, der in ihren Augen brannte. Sie blieb gelassen und tat so, als stellten die drei Gestalten, die neben ihr gingen wie Straßenräuber in einer Gasse, keine Bedrohung dar.

    »Wie ich den anderen schon gesagt habe: Meine Mutter und mein Vater denken, dass wir die Kanäle zum Gipfel hin dieses Jahr früher ausbaggern müssen«, sagte Aoma, wobei sie die Wörter Mutter und Vater absichtlich betonte. Auf diese Weise hielt sie Kyoshi mal wieder vor die Nase, was ihr fehlte. Sie formte eine Brücke mit den Händen und trat fest mit den Füßen auf. »Eine der Terrassen ist beim letzten Sturm eingestürzt.«

    Hoch über ihren Köpfen, komplett außer Reichweite, schwebte der letzte, wertvolle Krug mit eingelegtem Würztang, den das Dorf dieses Jahr zu Gesicht bekommen würde. Kyoshis Aufgabe war es, ihn zu Jianzhus Anwesen zu liefern. Diesen Krug hatte Aoma aus Kyoshis Händen geerdbändigt und drohte nun, ihn jede Sekunde fallen zu lassen: Das große Tongefäß wippte auf und ab, wobei die Salzlake gegen den Wachspapierdeckel schwappte.

    Kyoshi musste jedes Mal einen Aufschrei unterdrücken, wenn der Krug sich Aomas Kontrolle zu entwinden schien. Mach keinen Laut. Warte ab. Gib ihnen bloß keinen Anlass für noch mehr Gemeinheiten. Reden macht alles nur schlimmer.

    »Ist ihr doch egal«, sagte Suzu. »Das edle Dienstmädchen kümmert sich einen Dreck um so was wie Feldarbeit. Sie hat ihren gemütlichen Job in diesem schicken Haus. Sie ist sich zu fein dafür, sich die Hände schmutzig zu machen.«

    »Und in ein Boot kriegt sie auch keiner«, sagte Jae. Er spuckte auf den Boden und verfehlte Kyoshis Fersen nur knapp.

    Aoma brauchte keinen besonderen Grund, um Kyoshi zu piesacken – ihre tiefe Abneigung genügte ihr vollkommen, genau wie den anderen. Es stimmte, dass Kyoshi ihre Tage unter dem Dach eines mächtigen Weisen verbrachte, statt sich die Nägel beim Schleppen von Feldsteinen abzubrechen. Außerdem hatte sie sich noch nie auf der Jagd nach einem guten Fang in die unsteten Wasser der Meerenge vorgewagt.

    Was Jae und Suzu jedoch bequemerweise ignorierten: Jedes Stückchen Ackerland, jedes seetüchtige Boot unten an den Docks gehörte einer Familie. Jene Mütter und Väter, von denen Aoma so gern sprach, gaben ihr Gewerbe direkt an ihre Töchter und Söhne weiter. Außenseiter hatten nicht die Möglichkeit, irgendetwas zu erben, das ihnen das Überleben sichern würde. Wären Kelsang und Jianzhu nicht gewesen, wäre Kyoshi auf der Straße verhungert, vor aller Augen.

    Heuchler.

    Kyoshi presste die Zunge gegen den Gaumen, so fest sie konnte. Es war noch nicht so weit. Irgendwann vielleicht, aber nicht heute.

    »Lasst sie in Ruhe«, sagte Aoma und änderte ihre Haltung, um die Erdbändigerposition »Geteilte Brücke« einzunehmen. »Ich hab gehört, Dienstmädchen zu sein ist harte Arbeit. Darum helfen wir ihr ja beim Ausliefern. Ist doch so, Kyoshi?«

    Zur Bekräftigung ließ sie den Topf durch eine enge Lücke zwischen zwei Ästen eines Baums schweben. Eine Erinnerung daran, wer hier die Kontrolle hatte.

    Kyoshi schauderte, als das Gefäß auf den Boden zustürzte wie ein Falke und dann wieder aufwärts in Sicherheit schoss. Nicht mehr weit, dachte sie, als der Pfad einen scharfen Knick nach links um den Hügel herum machte. Nur noch wenige stille, wortlose Schritte, bis …

    Da. Sie waren endlich angekommen. Das Anwesen des Avatars, in all seiner Pracht.

    Das Herrenhaus, das Meister Jianzhu gebaut hatte, um den Retter der Welt zu beherbergen, war einer Miniaturstadt nachempfunden. Eine hohe Mauer verlief in einem perfekten Quadrat um das Grundstück herum und dann einmal quer durch die Mitte, um die nüchternen Trainingsbereiche von den lebenssprühenden Wohnquartieren abzugrenzen. Beide Abschnitte hatten ihr eigenes, nach Süden gelegenes Torhaus, jedes davon größer als die Versammlungshalle in Yokoya. Die massiven eisenbeschlagenen Türen standen offen und gaben den Blick auf einen prunkvollen Garten frei. Eine Herde friedlicher Ziegenhunde weidete auf dem Rasen und hielt das Gras kurz.

    Elemente aus fremden Nationen waren sorgsam ins Design des Komplexes integriert worden: Drachen aus Gold jagten geschnitzte Polar-Orkas um Hausecken; die Dachziegel waren im Stil des Erdkönigreichs gefertigt, aber ihre Anordnung entsprach auf ausgeklügelte Weise den numerologischen Prinzipien der Luftnomaden, außerdem hatte man Lacke und Anstriche aus aller Welt importiert, um sicherzustellen, dass die Farben sämtlicher vier Nationen gleichmäßig vertreten waren.

    Als Jianzhu das Land gekauft hatte, hatte er den Dorfältesten erklärt, Yokoya sei der ideale Ort für den Avatar, um sich dort niederzulassen und ausgebildet zu werden: Fernab der von Gesetzlosen verwüsteten Lande im Inneren des Erdkönigreichs und zugleich in ausreichender Nähe zum Südlichen Lufttempel und zum Südlichen Wasserstamm. Sein Gold hatten die Dorfbewohner damals gern genommen. Doch als das Herrenhaus fertig war, hatten sie zu meckern angefangen, es sei ein Schandfleck, ein Fremdkörper, der über Nacht aus der heimischen Erde geschossen war.

    Für Kyoshi war es der schönste Anblick, den sie sich vorstellen konnte. Es war ein Zuhause.

    Hinter ihr schnaubte Suzu verächtlich. »Ich weiß nicht, was unsere Eltern sich dabei gedacht haben, diese Felder einem Ganjinesen zu verkaufen.«

    Kyoshi presste die Lippen aufeinander. Meister Jianzhu gehörte tatsächlich zum Stamm der Gan Jin oben im Norden, aber es war die Art, wie Suzu es gesagt hatte, die sie störte.

    »Vielleicht wussten sie, dass das Land genauso wertlos und unproduktiv ist wie ihre Kinder«, murmelte Kyoshi.

    Die anderen blieben stehen und starrten sie an.

    Hoppla. Hatte sie etwa ein bisschen zu laut gesprochen?

    Jae und Suzu ballten die Fäuste, während ihnen dämmerte, was sie Kyoshi alles antun konnten, solange Aoma den Krug in ihrer Gewalt hatte. Jahre war es her, dass sich ihr irgendein Dorfkind auf Armeslänge hatte nähern können, aber war heute nicht ein besonderer Anlass? Vielleicht ein paar blaue Flecken, in Erinnerung an die alten Zeiten.

    Kyoshi wappnete sich gegen den ersten Schlag und ging auf die Zehenspitzen, in der Hoffnung, sie könnte zumindest verhindern, dass ihr Gesicht etwas abbekam. Hauptsache, Tante Mui merkte nichts. Ein paar Knüffe und Tritte und sie würden sie in Ruhe lassen. Es war ja ihr eigene Schuld, dass sie die Maske hatte fallen lassen.

    »Was macht ihr da?«, knurrte eine vertraute Stimme.

    Kyoshi verzog das Gesicht und öffnete die Augen.

    Frieden war keine Option mehr: Rangi war da.

    Rangi hatte sie wohl von Weitem gesehen und sich unbemerkt über den breiten Rasen angeschlichen. Oder sie hatte die Nacht über auf der Lauer gelegen. Oder sie hatte sich aus dem Baum fallen lassen wie ein Gleithautleopard. Kyoshi hätte der militärisch ausgebildeten Feuerbändigerin jedes dieser Kunststücke zugetraut. Jae und Suzu wichen zurück und versuchten, ihre Feindseligkeit zu verbergen, wie Kinder, die sich gestohlene Süßigkeiten in den Mund stopften. Kyoshi wurde klar, dass es das erste Mal sein musste, dass die anderen Kinder jemanden aus der Feuernation aus der Nähe sahen, und dann noch jemanden, der so furchterregend war wie Rangi: Mit ihrer eng anliegenden Rüstung in den Farben von Onyx und getrocknetem Blut hätte das Mädchen ein Rachegeist sein können, der gekommen war, um sich nach einer Schlacht die letzten Überlebenden zu holen.

    Beeindruckenderweise schaffte es Aoma irgendwie, Haltung zu bewahren. »Die Leibwächterin des Avatars«, sagte sie mit einem schwachen Lächeln. »Ich dachte, du sollst nicht von seiner Seite weichen. Machst du heute blau?«

    Sie schaute nach links und rechts. »Oder ist er hier irgendwo?«

    Rangi musterte Aoma an wie ein Stück Dreck, in das sie gerade hineingetreten war.

    »Ihr seid nicht befugt, euch auf diesem Gelände aufzuhalten«, sagte sie mit fester Stimme. Sie zeigte auf den Topf mit dem Tang, der über ihnen schwebte. »Oder den Besitz des Avatars zu berühren. Oder die Angestellten seines Haushalts zu belästigen.«

    Kyoshi fiel auf, dass sie es bei dieser Aufzählung nur auf den dritten Platz geschafft hatte.

    Aoma gab sich gelassen. »Dieser Pott ist riesig«, sagte sie und zuckte mit den Schultern, um mit gespielter Lässigkeit darauf aufmerksam zu machen, dass sie den Behälter nach wie vor mit ihren Kräften in der Schwebe hielt. »Es bräuchte zwei ausgewachsene Männer, um ihn ohne Erdbändigung anzuheben. Kyoshi hat uns gebeten, ihn ins Haus zu bringen. Stimmt’s?«

    Sie schenkte Kyoshi ein strahlendes Lächeln, eines, das sagte: Verpfeif mich und ich bring dich um. Als sie jünger gewesen waren, hatte Kyoshi diesen Ausdruck immer dann gesehen, wenn ein unbedarfter Erwachsener sie beim »Spielen« überrascht hatte, Kyoshi voller blauer Flecken und Aoma mit einem Stein in der Hand.

    Aber heute war anscheinend nicht ihr Tag: Unter ihrer aalglatten Maske blitzte etwas Wehleidiges hervor, als wollte sie ernsthaft um irgendetwas betteln.

    Kyoshi verstand mit einem Mal, was vor sich ging: Aoma wollte ihr tatsächlich bei der Auslieferung helfen. Sie wollte hineingebeten werden und den Avatar endlich mal aus der Nähe sehen, was Kyoshi jeden Tag konnte. Sie war neidisch.

    Kyoshi empfand einen Hauch von Mitleid, allerdings nicht genug, dass sie Rangi deswegen zurückgehalten hätte.

    Die Feuerbändigerin trat vor. Ihr anmutiger Kiefer spannte sich an und ihre dunklen, bronzenen Augen funkelten aggressiv. Die Luft, die ihren Körper umgab, waberte wie ein lebendiges Trugbild. Die aufkommende Hitze ließ die rabenschwarzen Strähnen, die sich aus ihrem Haarknoten gelöst hatten, aufwärts schweben.

    »Setz den Topf ab und mach, dass du wegkommst«, sagte sie. »Oder willst du wissen, wie die Asche deiner Augenbrauen riecht?«

    Aomas Gesichtsausdruck fiel in sich zusammen. Sie war geradewegs in die Höhle eines Raubtiers gestolpert, das weitaus größere Reißzähne hatte als sie. Und anders als bei den Erwachsenen des Dorfs würden Charme und Tricksereien bei Rangi rein gar nichts ausrichten.

    Was allerdings nicht bedeutete, dass sie es sich verkneifen würde, ihrem Widersacher vor dem Rückzug noch einen reinzuwürgen.

    »Klar«, sagte sie, »dachte schon, du fragst nie.« Und dann schleuderte sie ihre Hände in die Luft und ließ den Topf geradewegs an den Baumkronen vorbei in den Himmel schießen.

    »Dann find mal wen, der ›befugt‹ ist, das zu fangen!«

    Sie machte kehrt und preschte den Pfad hinab, Suzu und Jae dicht auf ihren Fersen.

    »Du kleine …« Rangi wollte ihnen nachsetzen, die Faust schon reflexartig geballt, um ihnen eine Salve aus feurigem Schmerz hinterherzuschicken, aber sie riss sich zusammen. Ihre Rache würde warten müssen.

    Sie schüttelte die Hand aus und spähte in den Himmel hinauf zum Krug, der immer kleiner wurde. Aoma hatte ihn wirklich, wirklich kräftig geworfen. Niemand konnte behaupten, sie hätte kein Talent.

    Rangi stieß Kyoshi mit dem Ellenbogen in die Seite. »Fang ihn«, sagte sie. »Benutz Erdbändigung und fang den Krug!«

    »Ich … ich kann nicht«, keuchte Kyoshi mit vor Entsetzen zitternder Stimme. Der unglückselige Krug erreichte den Höhepunkt seines Flugs. Tante Mui würde vor Wut überschäumen. Eine Katastrophe dieses Ausmaßes würde garantiert sogar Meister Jianzhu zu Ohren kommen. Sie würden ihr das Gehalt kürzen. Oder sie direkt feuern.

    Aber Rangi hatte sie noch nicht aufgegeben. »Was meinst du, du kannst nicht? Die Bedienstetenliste führt dich als Erdbändigerin! Fang ihn!«

    »So einfach ist das nicht!« Ja, Kyoshi war eigentlich eine Erdbändigerin, aber Rangi wusste nichts von ihrem kleinen Problem.

    »Mach das Ding mit deinen Händen – das, was sie gemacht hat!« Rangi formte die Hände zu einer Brücke, als ob es ihr irgendwie helfen würde, wenn ihr die Bändigerin eines anderen Elements eine derart krude Imitation zeigte.

    »Pass auf!«, schrie Kyoshi. Sie warf sich auf Rangi, um das kleinere Mädchen mit ihrem Körper gegen das herabstürzende Geschoss abzuschirmen. Sie fielen in einem Durcheinander aus Armen und Beinen zu Boden.

    Doch der Einschlag kam nicht. Keine tödlichen Keramikscherben, keine Dusche aus Einmachbrühe.

    »Runter von mir, du Dummkopf!«, murmelte Rangi. Sie trommelte mit den Fäusten gegen Kyoshis schützende Arme, doch sie hätte genauso gut ein Vogel sein können, der mit den Flügeln gegen seinen Käfig schlug. Kyoshi kam auf die Knie hoch und sah, dass Rangis Gesicht und Ohren fast so rot waren wie ihre Rüstung.

    Kyoshi half ihr auf. Der Krug schwebte neben ihnen, hüfthoch über dem Boden. Unter Aomas Kontrolle hatte er geschwankt und gewackelt, während er den natürlichen Mustern ihres Atems und ihrer unwillkürlichen Bewegungen gefolgt war. Doch nun hing er völlig still in der Luft, als stünde er auf einem eisernen Sockel.

    Plötzlich begannen die Kiesel auf dem staubigen Pfad vor Kyoshis Füßen zu beben und zu hüpfen, gelenkt von einer unsichtbaren Kraft, als lägen sie auf einer Trommel. Sie bewegten sich scheinbar in zufällige Richtungen, wie kleine betrunkene Soldaten, bis sie in einer Formation zur Ruhe kamen, die eine Botschaft darstellte:

    Gern geschehen.

    Kyoshis Kopf ruckte hoch und sie blinzelte zum Haus in der Ferne hinüber. Nur eine Person, die sie kannte, konnte so etwas vollbringen. Wieder begannen die Kiesel zu tanzen, formten sich diesmal rascher zu Worten.

    Hier spricht übrigens Yun. Du weißt schon, Avatar Yun.

    Klar, wer sonst. Kyoshi konnte nicht ausmachen, von wo aus Yun sie beobachtete, aber sie stellte sich das verspielte, spöttische Grinsen vor, das auf seinem hübschen Gesicht lag, während er einen weiteren verblüffenden Akt des Bändigens hinlegte, den Steinen ganz und gar seinen Willen aufzwang, als wäre das Ganze ein Spaziergang.

    Sie hatte noch nie von jemandem gehört, der mit der Erde aus der Distanz leserlich schreiben konnte. Yun konnte von Glück sagen, kein Luftnomade zu sein; andernfalls wäre er tätowiert worden, um seine Erfindung einer neuen Technik zu feiern.

    Was machen meine zwei Lieblingsdomen heute?

    Kyoshi kicherte. Na gut, doch nicht so leserlich wie gedacht.

    Klingt lustig. Wäre gern auch dabei.

    »Er weiß, dass wir nicht antworten können, oder?«, fragte Rangi.

    Klöße bitte. Jede Sorte außer die mit Lauch.

    »Es reicht!«, rief Rangi. »Wir lenken ihn vom Training ab! Und du kommst zu spät zur Arbeit!« Sie schob die Kiesel mit ihren Füßen beiseite. Die Tagesroutine war ihr wichtiger als irgendwelche revolutionären Entdeckungen in der Welt des Erdbändigens.

    Kyoshi pflückte den Krug von der unsichtbaren Plattform und folgte Rangi zum Anwesen. Sie ging langsam über den Rasen, um Rangi mit ihren langen Beinen nicht zu überholen. Hätte die Feuerbändigerin wirklich nur die Haushaltspflichten im Kopf gehabt, dann wäre die Sache damit gegessen gewesen. Kyoshi spürte jedoch, wie die Stille sich in Rangis schlanker Gestalt verdichtete.

    Sie waren auf halber Strecke zum Tor, als die Feuerbändigerin es nicht mehr aushalten konnte.

    »Armselig ist das!«, sagte sie, ohne sich umzudrehen. Ihre Abscheu konnte sie nur im Zaum halten, indem sie Kyoshi nicht ansah. »Wie du dich rumschubsen lässt. Du dienst dem Avatar! Hab wenigstens ein bisschen Selbstachtung!«

    Kyoshi lächelte. »Ich hab nur versucht, die Lage zu entspannen«, murmelte sie.

    »Du warst bereit, dich von ihnen schlagen zu lassen! Ich hab’s gesehen! Und wag ja nicht zu behaupten, du hättest dich gerade um neutrales

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