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Avatar - Der Herr der Elemente: Die Avatar-Chroniken - Der Aufstieg von Yangchen
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eBook501 Seiten15 Stunden

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Über dieses E-Book

Yangchens Unerfahrenheit könnte sich als ihr größter Vorteil erweisen … Als Yangchen in politischen Angelegenheiten nach Bin-Er im Erdkönigreich reist, führt eine zufällige Begegnung mit einem Informanten namens Kavik zu einer seltsamen Partnerschaft. Bin-Er ist eine Stadt, die von korrupten Shang-Händlern regiert wird, die sich über den Erdkönig und seine Launen ärgern. Um sich seinem Einfluss zu entziehen, haben die Shang nur eine Lösung im Sinn: eine geheimnisvolle Massenvernichtungswaffe, die ihnen die Macht direkt in die Hand geben würde. Während Yangchen und Kavik versuchen, den Plan der Shangs zu vereiteln, vertieft sich ihre Freundschaft. Aber damit Yangchen ihren Weg als einzigartig mächtiger Avatar gehen kann, muss sie lernen, sich vor allem auf ihre eigene Weisheit zu verlassen. Dieser dritte Teil der Avatar-Chroniken-Reihe beleuchtet die Reise von Avatar Yangchen von einer unsicheren jungen Frau zu einer verehrten Anführerin.
SpracheDeutsch
HerausgeberCross Cult
Erscheinungsdatum8. Dez. 2022
ISBN9783986660895
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    Buchvorschau

    Avatar - Der Herr der Elemente - F.C. Yee

    STIMMEN DER VERGANGENHEIT

    JETSUN SCHRITT den Korridor entlang und versuchte, den Schreien vorauszueilen.

    Die hohen Decken im Westlichen Lufttempel verwandelten selbst Geflüster in Echos und das Klirren herabfallender Teetassen in ohrenbetäubende Explosionen. Das Mädchen war zwar wieder im Krankenflügel und befand sich unter der Aufsicht der Ältesten, aber seine Schmerzensschreie wurden von den steinernen Wänden zurückgeworfen.

    Jetsun hielt es nicht mehr aus und rannte nun, so schnell sie konnte. Ohne sich um die Etikette zu scheren, stürmte sie an ihren Schwestern vorbei, brachte dabei Roben durcheinander, warf Tintenfässchen um und ruinierte frühzeitig jene bunten Sandgemälde, die erst nach ihrer Vollendung zerstört werden sollten. Niemand schalt sie oder warf ihr einen strengen Blick zu. Alle konnten es verstehen.

    Als ihr schließlich der Boden ausging, sprang sie. Der Tempel war zwar insgesamt groß, doch wegen der umgekehrten Bauweise, die sich aus der hängenden Konstruktion der Tempelgebäude ergab, existierte dennoch sehr wenig Standfläche. Zwischen den Turmspitzen lag nichts als Luft und ein Abgrund von eintausend Metern Tiefe. Sie hatte ihren Gleiter nicht dabei. Ausgesprochen gefährlich, allerdings konnte sie den Sprung auch ohne ihn schaffen.

    Die Luft in ihrem Rücken und unter ihrer Robe reichte, um sie zum nächsten Turm zu tragen, in dem sich die Große Bibliothek befand. Tsering, die als oberste Bibliothekarin über die Bücher wachte, wartete vor den hohen Regalen. Sie bedachte Jetsun mit einem gütigen, aber besorgten Blick. »Ich habe dich kommen sehen. Geschieht es schon wieder?«

    Jetsun nickte. »Mesose«, sagte sie.

    Tsering stieß frustriert die Luft aus. »Das könnte der berühmte Gelehrte Mesose der Ru-Ming-Ära sein. In Hu Xin gibt es ein Dorf namens Mesose; womöglich ist es nach einem der Gründer benannt. Es könnte aber auch einfach jemand mit dem Namen Mesose sein – in dem Fall kämen wir nicht weiter.«

    Avatare bewegten sich oft in gehobenen Kreisen. Oder sie verhalfen den Menschen um sich herum zu Ruhm und Anerkennung. »Es muss sich um den Gelehrten handeln, den du als Erstes genannt hast«, sagte Jetsun.

    Ein weiteres Aufheulen ließ sie beide herumfahren. Das Kind litt. »Hilf mir, dann geht es schneller«, sagte Tsering. »Nordwestliche Ecke, fang mit der Lyrik an, Ru mit den drei Tropfen des Wortstamms Wasser.«

    Sie teilten sich auf, um unterschiedliche Abschnitte des uralten Gewölbes zu durchforsten. Jetsun ließ den Blick über Titel und Überschriften schweifen, so rasch sie konnte. Nicht jedes Buch passte ins Regal. Viele der dicken Bände, die im Westlichen Lufttempel verwahrt wurden, waren so alt, dass sie auf Bambusstreifen geschrieben waren statt auf Papier. Sie kam an zu Ballen aufgerollten Texten vorbei, die einen größeren Umfang hatten als manche der Säulen, die Decke und Boden miteinander verbanden.

    Fünf Minuten später kehrte sie aus den Tiefen der Bibliothek zurück, ein Buch fest umklammert. Sie wusste nicht, welches Thema darin behandelt wurde. Aber es stand der richtige Autor drauf.

    Tsering traf sie an der Tür. »Ich habe nichts finden können. Was du da hast, ist unsere beste Chance.«

    »Danke.« Jetsun rannte in die Richtung, aus der sie gekommen war, das Buch unter den Arm geklemmt.

    »Nimm das nächste Mal deinen Gleiter!«, rief ihr Tsering hinterher.

    Jetsun erreichte den Krankenbereich und rauschte hinein. Die Ältesten traten beiseite und ließen sie durch. Das Mädchen warf sich nicht mehr wild herum, sondern schluchzte nur noch trocken. Wieder und wieder schlug es mit der Faust auf sein Kissen, was nicht durch einen unwillkürlichen Fieberkrampf verursacht wurde, sondern eine bewusste Bewegung war, geboren aus einer überwältigenden Qual, die eine Achtjährige gar nicht hätte kennen dürfen.

    »Wir lassen euch beide allein«, sagte Äbtissin Dagmola und verließ gemeinsam mit den übrigen Nonnen den Raum. Zu viele Anwesende verdarben manchmal den Effekt. Jetsun schlug das Buch an einer zufälligen Stelle auf.

    »Das Risiko kann bestimmt werden anhand der Höhenlage, der Nähe der Wasserquelle, der Anfälligkeit gegenüber hoher Strömungsgeschwindigkeit und des potenziellen ökonomischen Schadens«, las sie vor. Verdutzt drehte sie das Buch um und warf einen Blick auf den Einband. Der Titel lautete: Eine Abhandlung über Talbewirtschaftung in Flussnähe.

    Warum in aller Welt haben wir dieses Buch? Jetsun schüttelte den Kopf. Es spielte keine Rolle. »Es ist unerlässlich, vorher erfolgte Maßnahmen zur Eindämmung von Überschwemmungen zu verstehen, denn sie könnten die Gefahr noch erhöhen, statt sie zu verringern.«

    Das Mädchen tat einen zitternden Atemzug, dann entspannte es sich. »Ein halbes Jahr, und weiter bist du nicht gekommen?«, fragte es und lächelte ins Nichts. »Du musst aufhören, dir so viele Projekte auf einmal vorzunehmen, Se-Se.«

    Es funktionierte. Den Geistern sei Dank, es klappt tatsächlich. Jetsun las weiter, arbeitete sich systematisch durch die unvertrauten Konzepte. »Was nun Schlickablagerungen angeht …«

    Als das Kind diese Tortur zum ersten Mal durchgemacht hatte, hatten sie keine Ahnung gehabt, was vor sich ging. Die Heiler hatten ihr Möglichstes getan, das Fieber zu senken und es der Kleinen so angenehm wie möglich zu machen. Dann hatten sich die Vorfälle gehäuft und ihr zunächst wirres Gestammel hatte begonnen, sich zu Sätzen, Namen und Gesprächsfetzen zusammenzusetzen. Die Betreuer hatten mit den Worten nichts anfangen können, bis sie das Mädchen eines Tages von Seiner Majestät, dem Erdkönig Zhoulai, sprechen hörten. Einem Mann, dem es nie begegnet war, denn er war schon vor drei Jahrhunderten gestorben.

    Zum Glück hatte die Äbtissin daran gedacht, Notizen zu machen. Jedes verständliche Wort hatte sie aufgeschrieben und später, beim Durchgehen ihrer Aufzeichnungen, hatte sie schließlich ein Muster erkannt. Die Namen: Angilirq, Praew, Yotogawa. Namen aus jeder Nation.

    Namen früherer Avatarsgefährten.

    Nicht jedes Phantom, mit dem das Kind sprach, hatte es in die Annalen der Geschichte geschafft und manchen, denen es gelungen war, war nie eine enge Verbindung zum Avatar nachgesagt worden. Jetsun konnte nur mutmaßen, wie viele Menschen und ihre Geschichten wohl in Vergessenheit geraten waren und nun, durch dieses Mädchen, bruchstückhaft wieder an die Oberfläche kamen.

    Zum Glück waren die Unterhaltungen oft angenehm. Die Kleine lachte mit ihren Freunden in Städten, die mittlerweile andere Namen trugen, oder Provinzen, die es nicht mehr gab. Jetsun hatte dabei schon so einiges mit angesehen: Wie das Mädchen aus dem Bett gesprungen war und seine Erfolge bei legendären Winterjagden herausgebrüllt hatte; oder es hatte sich auf den Boden gesetzt und meditiert, mit dem inneren Frieden eines Fremden.

    Gelegentlich erlebte die Kleine jedoch Albträume im Wachzustand und Schübe der Trauer und des Zorns drohten, sie zu zerreißen. Dann murmelte sie die Namen nicht, sondern schrie sie hinaus, als wäre sie vom Universum selbst verraten worden.

    Zufällig hatten sie herausgefunden, dass sich das Kind manchmal beruhigen ließ, wenn sie dahinterkamen, mit welcher Figur aus der Vergangenheit es gerade redete, und dann aus deren Perspektive antworteten. Je tiefer sie in die jeweilige Rolle eintauchten, desto besser. Es war ganz so, als wären sie Eltern, die eine Gutenachtgeschichte vorlasen und dabei die Stimme verstellten, um die verschiedenen Figuren darzustellen.

    Vertrautheit war der beste Balsam, mit dem sie aufwarten konnten, also schauspielerten sie verzweifelt, um dem Mädchen zu helfen.

    Es nickte ein, als Jetsun bei einem Kapitel über die korrekte Bauweise von Hafendämmen angelangt war. Kurz darauf betrat Tsering das Zimmer.

    Kein Gleiter, fiel Jetsun auf. Wahrscheinlich hatte auch sie sehen wollen, ob sie den Sprung von einem Turm zum anderen noch schaffte.

    »Wie geht’s ihr?«, fragte die Bibliothekarin.

    »Besser«, sagte Jetsun. »Wer war Mesose?«

    »Ein Gefährte von Avatar Gun«, erklärte Tsering, während sie ans Bett trat. »Fähiger Dichter und Ingenieur. Er starb in Ha’an, als Gun dabei versagte, einen Tsunami aufzuhalten.«

    Jetsun hatte plötzlich einen sauren Geschmack auf der Zunge. »Versagte?« Dieses Wort hätte sie für niemanden gewählt – egal ob Avatar oder nicht –, der sich tapfer einer Naturgewalt entgegengestellt hatte. Ha’an existierte noch immer als Hafen, dabei hatte es sich gerade so angehört, als hätte es damals gut und gerne einfach von der Landkarte getilgt werden können, zusammen mit allen, die dort gelebt hatten.

    »So steht es geschrieben. Nachdem Mesose ertrunken war, verschwand Gun eine recht lange Zeit, ehe er zu seinen Pflichten zurückkehrte.«

    Du warst in Trauer. Wenn dieselben Fluten, die Gun bekämpft hatte, Mesose das Leben gekostet hatten, dann hatte das Mädchen in seiner Vision soeben persönlich mit ansehen müssen, wie sein Freund seinen letzten Atemzug getan hatte und untergegangen war. Wahrscheinlich hatte man daraufhin in den Trümmern nach seinem Leichnam gesucht.

    Am schlimmsten, dachte Jetsun, war sicher die schreckliche Frage, mit der sie ringen musste: Was, wenn ich etwas anders gemacht hätte? Was wäre, wenn? Vielleicht hatte Gun selbst verlangt, dass man im Zusammenhang mit dieser Katastrophe von einem Versagen sprach.

    Es war einfach ungerecht. Sich an die Ereignisse eines einzigen Lebens zu erinnern war bereits schmerzlich genug. Dutzende von Leben noch einmal durchlaufen zu müssen … Nun, das wäre, als würde man von einem Tsunami erfasst. Fortgerissen von Mächten jenseits der eigenen Kontrolle.

    »Die Kleine ist schlau«, sagte Jetsun. »Wenn sie weiter diese Visionen hat, wird sie schon bald herausbekommen, wer sie ist – lange bevor sie sechzehn wird.«

    Tsering seufzte. Sie streckte die Hand aus und streichelte dem schlafenden Mädchen über das schweißnasse Haar.

    »Ach, kleine Yangchen«, sagte sie. »Was machen wir nur mit dir?«

    DER ERSTE SCHRITT

    MIT ELF JAHREN war sich Yangchen darüber im Klaren, wer sie war, und behandelte ihre Avatarschaft auf Geheiß der Ältesten mit der nötigen Ernsthaftigkeit, zumindest in dem Maße, wie es einem Kind möglich war. Dies ist ein sehr wichtiges Geheimnis, verstehst du? Wie Tserings Puddingrezept. Sprich am besten nicht darüber, bis wir noch ein paar Dinge herausgefunden haben.

    Die ungewollten Schübe lebhafter Erinnerungen kamen weiterhin. Die Obersten des Westlichen Lufttempels waren besorgt darüber, mit welcher Leichtigkeit Avatare der Vergangenheit sich in Yangchens Gedanken stahlen und plötzlich aus ihr sprachen. Wenn sich die Nonnen darüber unterhielten, belauschte sie ihre Gespräche, indem sie sich von Luft getragen unter Fenstersimsen oder hinter Säulen versteckte.

    »Wisst ihr, wir stellen uns immer wieder die Frage: Was machen wir mit ihr?«, hörte sie Jetsun eines Tages sagen, wobei ihre Stimme schneidender klang als sonst, wenn sie mit den Ältesten sprach. »Die Antwort ist: Wir halten sie davon ab, den Kopf gegen den Boden zu schlagen, und wenn die Erinnerungen vorbei sind, gehen wir zur Tagesordnung über. Genau das braucht sie, also kriegt sie es auch. Nicht mehr, nicht weniger.«

    Nicht dass Yangchen einen weiteren Grund gebraucht hätte, ihre ältere Schwester anzubeten. Jetsun war nicht ihre Blutsverwandte – oder möglicherweise doch, allerdings nur im Sinne einer Cousine vierten oder fünften Grades. Jedenfalls spielte es definitiv keine Rolle. Wenn ein Mädchen sich beim Obstschneiden derart ungeschickt anstellte, dir aber wenigstens die symmetrischen Stücke gab, dann war es deine Schwester. Es war auch deine Schwester, wenn es dir gegenüber auf dem Luftballplatz keine Gnade zeigte, dir nicht mal einen Punkt überließ und dir dabei sogar noch ins Gesicht lachte. Jetsun war immer entweder diejenige, die ihr mit größter Geduld zuhörte, wenn sie weinte, oder die, die sie überhaupt erst aus der Fassung brachte.

    Deshalb machte es durchaus Sinn, dass Jetsun sie bei ihrem ersten Versuch anleitete, mittels Meditation in die Geisterwelt zu gelangen. Ein solcher Führer war Anker und Pfadfinder zugleich, eine Stimme in der Dunkelheit. »Erwarte nicht zu viel«, sagte Jetsun zu Yangchen, die vor Aufregung übersprudelte. »Nicht jeder hat die Fähigkeit, zwischen den Welten zu wechseln. Du bist kein schlechterer Avatar oder Luftnomade oder Mensch, falls es nicht klappt.«

    »Pfft. Wenn du’s geschafft hast, schaff ich’s auch.« Wenn du’s geschafft hast, muss ich es schaffen. Um mehr wie du zu werden.

    Jetsun verdrehte die Augen und schnipste Yangchen gegen die Stirn, genau an der Stelle, wo sie irgendwann einmal ihre Pfeiltätowierung tragen würde.

    Sie stiegen zu den Wiesen über den Felswänden hinauf, in die der Westliche Lufttempel gebaut war. Es war nicht nötig, dass sie den ganzen Weg bis zum Östlichen Lufttempel, dem Ausgangspunkt vieler spiritueller Reisen, auf sich nahmen; sie konnten es ebenso gut erst einmal hier probieren, nahe der Heimat. Außerdem, dachte Jetsun verächtlich, hat die besondere Heiligkeit des Östlichen Tempels mehr mit Renommee zu tun als mit irgendwelchen Fakten.

    Im Gras befand sich ein Meditationszirkel, eine ebene Fläche aus Steinplatten. Fünf Felssäulen ragten in unregelmäßigen Abständen darum herum auf und bildeten einen Kreis. Sie wirkten wie die Finger und der Daumen einer Hand, drei stilisierte Wirbel – das Emblem der Luftnomaden – zierten die Kuppen wie Fingerabdrücke. Yangchen kannte diesen Ort, hatte ihn jedoch bisher immer gemieden. »Ich hab das Gefühl, als würde mich jeden Moment ein Riese packen.«

    »Oder er lässt dich frei«, sagte Jetsun. »Eine Hand kann sich öffnen oder schließen, aber nichts davon zweimal hintereinander.«

    Yangchen verstand nicht, wie es Jetsun stets gelang, die Dinge geradeheraus zu sagen und dabei derart kryptisch zu klingen. Die beiden saßen in der Handfläche des Riesen, einander zugewandt. Sie waren nicht allein: Äbtissin Dagmola und Bibliothekarin Tsering waren mitgekommen. Sie hatten sich selbst zu Assistenten degradiert: Gerade stellten sie Weihrauchschalen und ein Windhorn auf. Die Äbtissin selbst würde die Meditationsglocke schlagen. Die beiden wesentlich älteren Frauen hatten Jetsun die Rolle der Führerin ohne Zögern überlassen.

    Die Sitzung begann. Der schwelende Weihrauch roch scharf und erdig, wie Baumharz. Yangchen spürte die Vibration der Obertöne des Horns durch den steinernen Untergrund. Bald wusste sie nicht mehr, wie oft die Glocke bereits geschlagen worden war, die die Zeit anzeigen und zugleich ihre Bedeutungslosigkeit betonen sollte.

    Plötzlich sah sie durch die geschlossenen Lider ein helles Leuchten, als hätte sie die ganze Zeit unter Wolken gesessen, die sich nun auflösten. Als sie die Augen öffnete, war das Licht zwar intensiv, blendete sie jedoch nicht. Die Farben wirkten lebendiger, als wären die Elemente in einem Mörser zerrieben und dann erneut auf die Leinwand der Welt gestrichen worden. Rote Blumen glommen wie Glut, über ihnen hingen Blätter, so groß wie Hausdächer, durchzogen von grünen Adern, und bildeten einen Baldachin. Der Himmel erschien ihr blauer als ein Gewand, das mit Indigo gefärbt worden war.

    Yangchen war ein Kunststück der Avatarschaft geglückt. Es war nicht einfach passiert, als hätte sie ein Blitz zwischen die Schläfen getroffen, war ihr nicht schmerzhaft durch die Glieder gefahren. Sie selbst hatte es bewirkt. Sie hatte es geschafft!

    Ein Sieg. Und das Beste war, dass ihr liebster Mensch auf der Welt gleich neben ihr saß und den Augenblick mit ihr teilte.

    »Guck an«, bemerkte Jetsun auf ihre typisch nüchterne Art. »Beim ersten Versuch.«

    Yangchen wollte lachen und eine Meile weit in die Luft springen. Aber sie würde einen kühlen Kopf bewahren, genau wie ihre Führerin. »Vielleicht ist mir nur wieder eingefallen, wie’s geht.«

    »Bescheidenheit geht nicht über Wahrheit. Ich glaube, du hast das ganz allein zustande gebracht.«

    Yangchen meinte, ihr Herz würde vor Glück zerspringen. Über den Hügeln der Geisterwelt schwebte langsam eine Schule geflügelter Wale dahin, durchscheinend und geleeartig. In der Nähe stieß ein hüpfender Pilz eine Wolke aus Sporen aus, die sich in funkelnde Glühwürmchen verwandelten.

    Plötzlich kam ihr eine Frage. »Und was machen wir jetzt?«

    »Das ist das Schöne daran«, sagte Jetsun. »Wir machen gar nichts. Die Geisterwelt hat keinen Nutzen, und darin liegt die große Lektion. Hier nimmst du nichts. Du siehst nichts voraus, machst keine Pläne, quälst dich nicht ab. Du machst dir keine Sorgen darum, was du gewinnst oder verlierst. Du bist einfach. Wie ein Naturgeist.«

    Enttäuscht schürzte Yangchen die Lippen. »Heißt das, wir müssen hierbleiben? Können wir uns nicht wenigstens umsehen?«

    Jetsun grinste auf sie herab. »Doch. Doch, das können wir.«

    Yangchen nahm die Hand ihrer Schwester und kam zu dem Schluss, dass es ihr womöglich gefallen könnte, der Avatar zu sein.

    STIMMEN DER GEGENWART

    MENSCHEN AUS DEM Erdkönigreich und der Feuernation – oder Mittler, wie sie von den Wasserstämmen genannt wurden – konnten oft nur schwer verstehen, wie schnell das Schicksal eines Ortes sich zu Lasten eines anderen verbessern konnte. Im Rahmen der anhaltenden Auswirkungen der Platin-Affäre schienen viele Neuankömmlinge in Bin-Er davon überrumpelt zu sein, wenn sie das explosive Wachstum der Stadt erblickten, obwohl sie selbst Teil des Ganzen waren, fortgeschwemmt vom Wandel.

    Kavik hingegen wusste, dass sich wichtige Orte ohne Vorwarnung über große Distanzen hinweg verlagern konnten. Herden bewegten sich wie Wasser. Fischschwärme bewegten sich wie Wasser. Und auch Menschen taten es, wenn ihr Lebensunterhalt davon abhing.

    Und dieses Fließen ging nicht immer friedlich vonstatten. Menschenströme konnten zu rasch dahinrauschen und sich an einem einzigen Platz sammeln, der keinen Ausweg bot. Auf ihrem Weg zertrümmerten sie Eisbrocken und Treibgut. Geriet man mit seinem Boot je in einen solchen Strudel, dann hing das Überleben davon ab, ob man herausfand, wie lange es noch dauern würde, bis einen das gleiche Schicksal ereilte.

    Kavik war nicht sicher, wie viel Zeit der Stadt Bin-Er noch blieb. Doch was ihn selbst in diesem Augenblick anging, waren es vielleicht noch zehn, zwanzig Minuten, bis es übel für ihn werden würde und die Situation völlig außer Kontrolle geriet. Er hatte gerade versucht, den Großen Platz im internationalen Viertel zu überqueren, als ihm plötzlich eine enorme Menschenmenge im Weg gestanden hatte, die vor Feindseligkeit schäumte. Alle hier am nördlichen Rand des Erdkönigreichs trugen schwere Winterkleidung, um zu überleben, was es schwer machte, sich zwischen ihnen hindurchzuzwängen.

    Gewöhnlich wusste Kavik über solche Dinge Bescheid. »Was ist hier los?«, fragte er die Umstehenden.

    »Wir haben endlich Shang Teiin festgenagelt«, erklärte ein bulliger Mann, der über die Menge hinwegblickte. »Irgendwann musste er ja die Mauern seines Anwesens verlassen. Entweder hört er uns hier und jetzt an oder er kann sich die Nacht über im Gidu-Schrein verkriechen.«

    Kavik gab sich Mühe, seine Besorgnis zu verbergen. »Und … wie genau habt ihr das gemacht? Teiin ist normalerweise schwer zu finden, oder?«

    »Wir haben zusammengelegt und einen Botenläufer dafür bezahlt, dass er Kopien der Zeitpläne und privaten Reservierungen des Schreins anfertigt«, sagte der Mann und grinste zufrieden. »Man muss die Methoden des Feindes gegen ihn verwenden. Und wie’s der Zufall will, jährt sich heute der Todestag seines Großvaters.«

    Das würde nicht gut ausgehen. Mit Teiin war nicht zu reden, er ließ immer gleich den Stock sprechen. Zu glauben, der mächtige Shang könnte sein Ahnenritual unterbrechen, auf den Stufen des Gidu-Schreins erscheinen und wohlwollend die Beschwerden seiner Angestellten zur Kenntnis nehmen, war im besten Fall fehlgeleitet, im schlimmsten Fall lebensgefährlich.

    Er musste hier verschwinden. »Dann geigt dem alten Ziegenhund mal ordentlich die Meinung«, sagte Kavik und wandte sich zum Gehen.

    Eine schwere Hand landete auf seiner Schulter und hielt ihn zurück. »Bleib bei uns, Bruder«, sagte der Mann und blickte ihn eindringlich an. »Wenn man die Shangs nicht hin und wieder runterputzt, tun sie so, als gäbe es uns nicht. Jede Stimme zählt.«

    Neulinge mussten sich immer besonders schwierig anstellen, nicht wahr? Er verlangte von Kavik, dass er eindeutig Stellung bezog. Ein Junge, der Fragen stellte, konnte schließlich von Teiin oder einem anderen Shang bestochen worden sein – könnte ein Spion sein, der die Menge beobachten sollte. Er gab Kavik einen Stoß, was zu gleichen Teilen brüderlich und bedrohlich wirkte.

    »Tut mir leid, aber ich muss noch beim Apotheker eine Bestellung aufgeben«, sagte Kavik. Er hatte seine eigenen Aufgaben zu erledigen und kein Interesse, hier neue Freunde zu finden.

    »Zu dieser Tageszeit?« Der Mann packte noch etwas fester zu.

    »Ich weiß, es ist spät«, gab Kavik rasch zu. »Aber Onkel Ping lässt sich Zeit mit dem Zumachen. Ich darf immer noch mit meiner Bestellung vorbeikommen, ehe er heimgeht.«

    Er sah zu, wie sich der Mann die Geschichte durch den Kopf gehen ließ. Möglicherweise hatte er es mit den Details etwas übertrieben, aber er hatte genug Zeit geschunden.

    »Da ist er! Da ist Teiin!«, rief jemand. Als der Mann sich umdrehte, entschlüpfte Kavik seinem Griff und tauchte in der Menge unter.

    Er kämpfte sich durch die wogende Masse, schwamm parallel zur Strömung und riskierte einen Blick zum Schrein. Die Steinstufen des Gidu führten etwas mehr als vier Meter in die Höhe; von dort aus gelangte man in eine Halle mit Doppeldach, in der die Wohlhabenden ihren Ahnen Ehre erweisen und den Geistern Opfergaben dalassen konnten. Shang Teiin, ein schmächtiger, aber rüstiger Sechzigjähriger, stand oben an der Treppe des geweihten Ortes und blickte nun voller Widerwille auf die Leute herab, die ihn eingekreist hatten.

    »Lügner! Betrüger!«

    »Zahl uns, was du uns schuldig bist!«

    Die wütenden Rufe schienen Teiin etwa so viel auszumachen wie fallendes Laub. Er atmete tief durch die Nase ein und Kaviks Herz begann zu rasen. Das war nicht das Gesicht eines Mannes, der in einen Hinterhalt gelockt worden war. Vielmehr verriet seine Miene, dass er nun zum Angriff übergehen würde.

    Der Shang gab ein Zeichen mit den Fingern und eine Gruppe Männer ergoss sich aus dem Schrein hinter ihm: angeheuerte Schlägertypen, Raufbolde, die auf der Lauer gelegen hatten. Ob nun durch Bestechung, Betrug oder eigene Spione, Teiin hatte Wind von der geplanten Demonstration bekommen und im Voraus Gegenmaßnahmen vorbereitet.

    Die bezahlten Schläger kamen die Stufen herabgerannt und stürzten sich auf die vorderste Reihe von Demonstranten. Dann ging das Geschrei los. Kavik zog sich die Kapuze so tief wie möglich in die Stirn und rannte los. Geduckt wich er Ellenbogen aus, wirbelte auf den Fußballen herum und stieß Leute in den Rücken, wenn es sein musste, bis er schließlich den Rand des Großen Platzes erreicht hatte.

    Er vermied es, sich umzusehen. So schlimm würden die Kämpfe nicht werden. Ja, es würden Fäuste fliegen und vermutlich hatten Teiins Raufbolde Lederknüppel und Schlagstöcke im Ärmel versteckt, doch mehr wohl auch nicht. Falls sie Bändigerfähigkeiten einsetzten, dann bloß, um ein paar blaue Flecken zu verteilen. Niemand in Bin-Er, ob nun ein Shang oder sonst jemand, wollte ein schweres Verbrechen begehen und damit die Staatsgewalt des Erdkönigreichs auf den Plan rufen.

    Mit Kavik hatte der ganze Vorfall nichts zu tun. Gut, er mochte jener Botenläufer gewesen sein, der vor einer Woche in den Gidu-Schrein eingebrochen war, um die Reservierungsliste zu kopieren. Aber wenn er den Auftrag nicht angenommen hätte, hätte es jemand anders getan.

    Es wird schon nicht so schlimm werden, sagte er sich und ließ das Gebrüll und die Gewalt hinter sich zurück.

    Nur zwei Blocks vom Großen Platz entfernt herrschte Frieden. Kein Lärm, keinerlei Anzeichen von Kämpfen. Nur die gedämpfte Stille des beginnenden Abends. In Bin-Er konnte man mit einem kurzen Spaziergang in eine völlig andere Welt gelangen.

    Kavik kam an Männern und Frauen vorbei, die aus Heuerbüros auf die Straße strömten. Sie blickten weder nach rechts noch nach links, ignorierten die leeren Stände, die nur zu Mittag Mahlzeiten verkauften, ebenso wie die geschlossenen Läden, die Papier und Pinsel anboten, oder die Auktionshäuser, wo die geltenden Preise für Stoff und Porzellan in allen Vier Nationen beschlossen wurden. Sie schauten bloß geradeaus, wollten ins Bett.

    Bald würden sie von dem Handgemenge auf dem Großen Platz erfahren und es einfach umgehen. So wie man eine andere Route nahm, um einem Fuhrwerk auszuweichen, das umgekippt war. Eine lästige Störung, sicher. Neuerdings ereignete sich so etwas häufiger in Bin-Er. Aber das war eben der Preis fürs Geschäftemachen, nicht wahr?

    Kavik bog von der Hauptstraße in eine Gasse ein. Er hatte nicht gewusst, wer der Käufer der Schrein-Information sein würde. Genau aus diesem Grund benutzte er schließlich einen Zwischenhändler wie Qiu: So blieben beide Seiten eines Deals anonym. Kavik hatte angenommen, es handele sich lediglich um einen anderen Shang, der sich seinem Rivalen gegenüber einen Vorteil verschaffen wollte. Solche Dinge machten den Großteil der Aufträge für die Botenläufer in Bin-Er aus.

    Er erreichte das Haus, in das er einbrechen würde.

    Das Blaue Palais stand ganz am Rande des Shang-Territoriums. Dahinter gab es nichts außer einem gewaltigen offenen Feld, durch das die Grenze zum Erdkönigreich lief. In der Ferne konnte er den Laternenschein der Wachstationen ausmachen.

    Angeblich waren die Agenten des Erdkönigs auf dem gesamten Kontinent in höchster Alarmbereitschaft, nachdem Seine Majestät vor Kurzem in Ba Sing Se gewütet hatte. Qiu behauptete, die Mauern des Oberen Rings der Stadt seien nach der jüngsten Säuberung des Hofs mit den hochgeborenen Verrätern und Spionen bedeckt. Nicht mit ihrem Blut, sondern mit den Leuten selbst. Es sei ihnen gelungen, genug Verschwörer aufzustapeln, um die gesamte Fläche hübsch gleichmäßig abzudecken.

    Für einen Zwischenhändler, der mit hochwertigen Informationen handeln musste, glaubte Qiu doch wirklich die dümmsten Geschichten. Kavik war jedoch klar, dass es schlecht für die Gesundheit war, wenn man sich in einen nationalen Konflikt verwickeln ließ. Seine Arbeit bezog sich ausschließlich auf die Shangs, und dafür war er dankbar.

    Er versteckte sich hinter einem Gärtnerschuppen, der wahrscheinlich nur einen Monat im Jahr verwendet wurde. Als die Luft rein war, sprintete er über die offene Rasenfläche und drückte sich gegen die Wand auf der richtigen Seite. Sie strahlte eine derart intensive Kälte ab, dass er sie auf dem ungeschützten Gesicht spüren konnte. Anders als die Nachbarhäuser aus Backsteinen und Brettern bestand das Blaue Palais komplett aus Eis.

    Kavik verzog die Nase, als könnte er so die vielen Dinge, die ihn störten, auf einmal loswerden. Das Blaue Palais war jemandes Vorstellung einer prachtvollen Polarresidenz entsprungen. Es war dem Schöpfer jedoch nicht ganz gelungen, Agna Qel’as Architekturtraditionen nachzuahmen. Das ausgefallene Gasthaus wirkte zu quadratisch, zu klobig, und war ohne Rücksicht auf die natürlichen Bewegungen von Schmelze und Schneefall errichtet worden. Er wusste, dass ständig Wasserbändiger angeheuert werden mussten, um die Wände immer wieder neu zu formen und gefrieren zu lassen.

    Tut mir leid, Freunde, dachte Kavik. Aber wenigstens verschaff ich euch mehr Arbeit.

    Er warf seinen Parka ab, faltete ihn ordentlich zusammen und legte ihn in den Schatten, damit er trocken blieb. Frierend und voller Bedauern machte er eine Geste wie ein Schwimmer, der ins Wasser sprang. Auf diese Weise schmolz er eine Nische in die Ecke des Gebäudes und schlüpfte hinein.

    Ein Sarg aus Eis glänzte um ihn her. Er kam sich vor wie ein seltsames Küken in einer seltsamen Eierschale. Er konnte es sich nicht leisten, die Kammer auch nur ein Stück größer zu machen, sonst würde er zu früh ausschlüpfen und im Flur landen.

    Jetzt kam der schwierige Teil. Mit kleinen Bändigerbewegungen verwandelte er das Eis über sich in Wasser und überredete es dazu, vorsichtig – ganz vorsichtig – an der Innenwand vor ihm herabzurinnen. Ehe ihm das Tauwasser die Füße durchnässen konnte, schob er sich nach oben, indem er sich an den Wänden links und rechts abstützte. Sobald er die Beine in der Grätsche über dem Boden hatte, ließ er die Pfütze unter sich wieder gefrieren.

    Fünfzehn Zentimeter. Das komplexe Manöver, für das er wochenlang hatte üben müssen, hatte ihn gerade einmal fünfzehn Zentimeter angehoben. Nun musste er das Ganze mehrmals wiederholen, bis er das zweite Obergeschoss erreichte.

    Ein Beobachter hätte sich vielleicht gefragt, warum er nicht schneller machte, auch wenn er dann nass würde. Dieser Beobachter konnte gerne die Klappe halten und wieder zur Mitte der Welt zurückkehren, wo es nett und warm war. Kavik wusste sehr genau: Wenn er vollkommen trocken blieb, würde er etwa dreißig Minuten durchhalten, bevor der Kältetod eintrat. Wenn er eiskaltes Wasser abbekäme, wäre er vermutlich in weniger als fünf ausgeschaltet.

    In mühevoller Kleinarbeit bewegte er sich durch die Ecke des Gebäudes aufwärts und schloss dabei den Tunnel hinter sich. Ein besserer Wasserbändiger, Kalyaan der Große zum Beispiel, hätte wahrscheinlich ungehindert durch festes Eis gehen können. Kavik der Geringere musste sich wie eine Made hindurchwinden und sich hinterher die Frostbeulen an den Händen heilen lassen.

    Die Wände des Blauen Palais waren absichtlich milchig, der Privatsphäre wegen. Sie boten jedoch keinen vollkommenen Sichtschutz. Die Ecken mit ihrem besonders dicken Eis stellten noch das beste Versteck dar, aber jemand, der dicht daran vorüberging, würde ihn vielleicht dennoch bemerken. Von der Mitte des Erdgeschosses her drangen zahlreiche Stimmen zu ihm herüber, irgendeine große Versammlung, die ihm Qiu zufolge als Ablenkung dienen würde.

    Es funktionierte recht gut. Niemand kam zu seiner Ecke herüber und Kavik bahnte sich ohne Probleme seinen Weg ins nächste Stockwerk. Um wieder zu Atem zu kommen, verharrte er in der dicken Eisschicht, die die Decke des Erdgeschosses und den Boden der ersten Etage bildete, und schmolz einen kleinen Abschnitt darin weit genug, um einen Blick in den nächsten Stock werfen zu können.

    Diesmal befanden sich Leute auf den äußeren Fluren. Mit dem Dunkel der Nacht im Rücken und dem Licht der Öllampen im Inneren hatte er einen leichten Sichtvorteil. Er konnte vier, fünf Schemen ausmachen, die völlig reglos dastanden und schwiegen. Standen sie für irgendetwas an?

    Plötzlich lösten sich zwei aus der Reihe und stapften im Gleichschritt den Flur hinunter. Kavik hätte am liebsten den Kopf gegen die Wand seiner winzigen Kammer geschlagen, hätte er nicht befürchten müssen, dabei durchzubrechen. Das waren keine müßigen Gäste. Das waren Wachleute.

    Qiu, du verdammter Schweineaffe. Er hatte gesagt, Kavik müsse nur einem Bürokraten etwas abnehmen, der zu Besuch war, und es gebe keinen offiziellen Sicherheitsdienst. Nun steckte Kavik zwischen Himmel und Erde fest und fror sich das Steißbein ab, nur wenige Zentimeter von echten Soldaten entfernt, die mit gedungenen Schlägern wie denen von Teiin nicht zu vergleichen waren.

    Er musste warten, bis sie fort waren, ehe er weitermachen konnte. Und er musste sich für eine Richtung entscheiden. Aufwärts, und er würde das größte Risiko seiner bisherigen Laufbahn als Bote eingehen. Abwärts, und die Sache, an der er monatelang gearbeitet hatte, würde scheitern.

    Kavik war gezwungen, auszuharren und die wenige Zeit zu verschwenden, die seinem Körper bei dieser Kälte noch blieb. Er musste die Runden der Wachen beobachten und ein Zeitfenster ermitteln, indem er sich bewegen konnte. Bald begannen seine Zähne zu klappern. Wenn das nächste Paar geht. Nicht dieses. Das nächste.

    Sobald sie ihm den Rücken zugewandt hatten, arbeitete er sich weiter nach oben. Seiner Schätzung nach würde er nun doppelt so schnell klettern müssen, wie ihm lieb war.

    Etwas Kaltes lief ihm den Nacken herab. Schweiß wäre schlimm genug gewesen, doch diese Flüssigkeit kam vom Eis über ihm. Das Wasser war so kalt, dass er schreien wollte. Er hatte keine Wahl, als es zu ertragen. Die Wachen mussten sich inzwischen auf dem Rückweg befinden und er hatte erst ein Drittel des Wegs geschafft.

    Er beeilte sich und wurde nur noch nasser. Als wäre das nicht schlimm genug, kam nun auch noch das Leuchten einer Laterne um die Biegung: Jemand, mit dem er nicht gerechnet hatte, ein Diener, der ein Getränk oder einen Snack holen kam.

    Der Gedanke, dass sie ihn aus einem derart dummen Grund schnappen könnten, war beinahe unerträglich. Kavik krabbelte hastig aufwärts und schlug alle Bedenken in den Wind, obwohl er sich geschworen hatte, gerade dies nicht zu tun. Als der Lampenträger ihn passierte, hatte er sich ins Eis zwischen

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