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Destino - Die Träumerin
Destino - Die Träumerin
Destino - Die Träumerin
eBook722 Seiten10 Stunden

Destino - Die Träumerin

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Über dieses E-Book

"Mama?", fragte Lejla.
"Ja?", antwortete diese leise.
"Wann komme ich wieder nach Hause?"
Dana lächelte traurig und Jamara hatte den Verdacht, dass eine Träne in ihrem Augenwinkel schimmerte.

Jamaras Schwester Lejla ist schwer krank, aber viel Zeit für sie bleibt nicht. Dank einer Gabe führt Jamara ein zweites Leben. In dem sie sich geschworen hat, den tyrannischen Herrscher bei einem blutigen Turnier zu stürzen. Nur will dies der Rat der Lirem mit seinen an Magie grenzenden Fähigkeiten verhindern. Auf ihr Ziel fixiert vernachlässigt Jamara Freunde und Familie in dieser Welt und ahnt nicht, was sich hinter ihrer Schwester verbirgt und was sie ihr zu verdanken hat.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum7. Juli 2020
ISBN9783960742654
Destino - Die Träumerin

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    Buchvorschau

    Destino - Die Träumerin - Inga Stecher

    Impressum:

    Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

    © 2020 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

    Mühlstraße 10, 88085 Langenargen

    Telefon: 08382/9090344

    Alle Rechte vorbehalten.

    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

    Titelbild: Gaurav Sehdev / Mammothworld

    ISBN: 978-3-86196-547-3 – Taschenbuch

    ISBN: 978-3-96074-265-4 – eBook (2020)

    Lektorat: Redaktions- und Literaturbüro MTM

    *

    Inhalt

    Prolog

    Teil 1

    Parade vor den Fenstern

    Eine neue Schwachstelle

    Nur er allein

    Nicht von hier

    Nibroc

    Geruch von Schrecken

    Amilona

    Die Vergessene

    Er war fort

    Eine lange Zeit

    Hinter dem Pavillon

    Sorge um ihn

    Kind aus den Flammen

    Lass dich überraschen

    Hinter dem Tor

    Schmuckloses Siegel

    Reiter

    Die Gilde

    Flammenmeer

    Schlüssel und Schloss

    Ein Wiedersehen

    Brados

    In den Fäden

    Loch des Verlusts

    An der Zeit

    Durch blauen Nebel

    In unendlicher Freiheit

    Der einzige Grund

    Stille Begleiter

    Jäger der Gejagten

    Sein Wort

    Der Weiße Ritter

    Teil 2

    Hineingesogen

    Die Wilderin

    Das Mädchen aus 201

    Komm zu mir

    Den Schein verloren

    Yasuke

    Der Flammende

    Waffen bieten Freiheit

    Staubgestalten

    Zu spät

    Engel daheim

    Nicht mehr einsam sein

    Am Tresen

    Der Schlund der Hölle

    Unter Wasser

    Goldene Fäden

    Lejlas Freundin

    Blut im Sand

    Auf ein Wort

    Pfeil in Pfeil

    Ydos Sohn

    Wohin des Weges

    Tanz um Leben und Tod

    Pläne schmieden

    Alles eine Lüge

    Der Puppenspieler

    Auf einer Lichtung

    Namen an den Wänden

    Verrat, Betrug und Gefahr

    Einer nach dem anderen

    Was vor ihr liegt

    Teil 3

    Vom anderen Ende

    Lauernde Wölfe

    Bei Sonnenuntergang

    In beider Namen

    Die Haltung des Schwertes

    Den Träumen nach

    Zelte am Horizont

    Der ausgeflogene Geier

    Mehr als das

    Ein Rückfall

    Ihnen voraus

    Unter dem Kuppeldach

    Der Bogenschütze

    Schrecklich schön

    Drei Pfeile und ein Dolch

    Wie Ameisen aus Hügeln

    Des Königs Tochter

    Das Haus verwaist

    Ihr Funke Stern

    Was gut ist

    Blätter im Wind

    Still und regungslos

    Menschenmeer

    Arm und Reich

    Epilog

    Die Gabe der Träumer

    Die Autorin

    Nachwort

    o

    Prolog

    Sie fühlte das saftige grüne Gras unter ihren nackten Füßen. Es schien bei jedem Schritt zu federn. Sie roch den warmen Duft des bald beginnenden Sommers – vermischt mit Meersalz – und hörte das Zwitschern der Vögel. Von der kleinen Ansammlung auf Stelzen gebauter Hütten wehten gedämpfte Gespräche zu ihr herüber. Es war später Nachmittag und Jamara hatte nur drei Tage gebraucht, um ihr Ziel zu erreichen: die Siedlung der Weisen. Hier, in der entlegensten Gegend des Landes, lebten die berühmtesten Philosophen, der Aufgabe verschrieben, den Bürgern mit Rat zu helfen. Auf dem Weg durch das Gebirge, das unumgänglich zu durchqueren war, war sie auf ein paar Boten getroffen, die in dieser Gegend Nachrichten in Form von kleinen Schriftrollen transportierten. Sie warteten in den Ausläufern und verstreut in den Bergen. Hauptsächlich wurden sie von Kranken und Alten gesandt, die diese Reise nicht mehr auf sich nehmen konnten.

    In den zahlreichen Höhlen des Gebirges hatte Jamara auf ihrem Marsch Unterschlupf gefunden. Die rauen Felswände und der kalte Wind hatten ihre Unterkünfte zu einem nicht besonders gemütlichen Ort gestaltet. Umso froher war sie nun drüber, nur mit ihrem kläglichen Proviant auf dem großen Platz der Siedlung zu stehen. Aus Berichten wusste sie, dass es selten vorkam, dass sich Kinder an diesen Ort wagten, doch sie hatte einen guten Grund dafür.

    Jetzt blickte sie sehnsüchtig zu den Hütten hinauf und sah sich bereits in Gedanken eine der Treppen hinaufsteigen, gefertigt aus dem besten Holz, das die Berge zu bieten hatten, glatt geschliffen und mit Harz lackiert. Oben würde sie die Tür öffnen und sich neben einem Feuer in ein weiches Bett fallen lassen, ganz als wäre es ihre eigene Hütte.

    Sie war so unsagbar müde.

    Unsicher sah sich Jamara um. In welcher der Hütten mochte wohl Dasvid wohnen? Er war bis vor ein paar Jahren der Sprecher ihres Dorfes und für sie wie ein Familienmitglied gewesen. Sie und andere Kinder hatten mit ihm lange Nächte am Lagerfeuer verbracht und seinen fantastischen Geschichten über magische Wesen wie Elfen, Kobolde und Drachen gelauscht. Damals waren diese Geschichten für sie wunderbar gewesen und sie hatte viele Nachmittage mit der Suche nach diesen Wesen verbracht. Doch nach einigen Monaten hatte sie enttäuscht feststellen müssen, dass es diese Wesen gar nicht gab und alles nur eine wunderschöne Geschichte war. In den letzten Jahren aber hatte sie etwas ebenso Fantastisches in sich entdeckt. Sie hatte eine Gabe gefunden. Und es gab ein Problem damit.

    „Jamara? Bist du das?", fragte eine bekannte Stimme hinter ihr.

    Sie schreckte aus ihren Gedanken hoch und sah sich um. Zu ihrer Rechten stand eine gebrechliche und doch kräftig wirkende Gestalt. „Dasvid?", fragte sie.

    Der Alte nickte langsam. „Es ist viel Zeit seit unserem letzten Treffen vergangen. Wie lange ist es jetzt her? Vier Jahre?"

    Sie zuckte mit den Achseln. „Gut möglich."

    „Was führt dich alleine in diese Gegend? Ist Ydo bei dir?"

    „Ich bin alleine hier. Nein, ihr Ziehvater war daheim geblieben. Er wusste nicht einmal, warum sie Dasvid gerade besuchte. „Ich brauche deinen Rat. Können wir vielleicht an einen stillen Ort gehen, an dem man uns nicht hört?

    Dasvid runzelte die Stirn, als wollte er fragen, warum gerade sie, die immer zielstrebig und alleine ihren Weg ging, seinen Rat brauchte. Dann aber nickte er. „Komm mit in meine Hütte. Sie ist gleich dort oben. Er zeigte auf einen kleinen Hügel, auf dem drei bescheidene Hütten standen. Mit schnellen Schritten ging er ihr voraus und führte sie zwischen den kleinen Menschengruppen hindurch zu einer steinernen, weiß leuchtenden Treppe, die in den Hügel eingelassen war. „Ich weiß, warum du hier bist, Jamara.

    Überrascht sah sie auf und hob eine Augenbraue. Hatte er sie nicht gerade noch fragend angesehen? „Und warum?", fragte sie, aber er schüttelte den Kopf.

    „Nicht hier."

    Sie blickte sich um, doch niemand schien sich für sie zu interessieren. „Was ...", setzte sie an, doch Dasvid hob eine Hand und bedeutete ihr, still zu sein.

    „Komm weiter." Er machte größere Schritte und glitt die Treppe in einer erstaunlichen Geschwindigkeit hinauf, sodass Jamara Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten. Schon bald atmete sie schwer und war froh, als sie den Treppenabsatz erreichte. Sie stützte ihre Hände auf die Knie, um einen Moment lang durchzuatmen. Als sie aufblickte, sah sie Dasvid ungeduldig an einer der Treppen stehen, die zu den Hütten hinaufführen. Jamara verdrehte die Augen. Was war bloß los mit ihm? Warum war er so in Eile? Sie hatte Zeit. Sie war nicht dort, um Hallo zu sagen, ihm ihre Fragen zu stellen, eine Antwort zu bekommen und dann sofort wieder zu gehen, als gäbe es in dieser Welt keine Zeit mehr für derartige Dinge. Oder als wäre jeder Stein, jeder andere hier, ein Spion des Königs, der nur darauf wartete, interessante Informationen zu erhalten, damit er sie an den König weiterleiten konnte. In falschen Hoffnungen ... Sie stutzte. Woher mochte Dasvid den Grund für ihren Besuch wissen? Sie ging auf ihn zu und er stieg weiter die Treppe hinauf.

    Oben auf dem Absatz angekommen öffnete er leise die Tür und trat zur Seite, um sie hineinzulassen. Sie betraten einen kleinen, recht gemütlich wirkenden Raum, in dessen Mitte in einer rußgeschwärzten Schale ein Feuer flackerte. Über diesem war ein Gestell angebracht, an dem ein Kochtopf befestigt war. Auf den ersten Blick schien alles sehr spartanisch eingerichtet zu sein.

    Die Tür knarrte, als Dasvid sie zuzog. Eine kalte Brise schlich sich durch den sich schließenden Spalt und streifte Jamaras Nacken. Sie fröstelte. Das Mädchen ließ seinen Blick umherschweifen: In einer Ecke stand eine hölzerne Bank, mit Stoff überzogen und wahrscheinlich mit Schafswolle gepolstert. Davor stand ein kleiner, runder Tisch, kunstvoll mit Schnitzereien verziert. An der gegenüberliegenden Wand stand ein mit Glasscheiben versehener Schrank, in dem Jamara kleine Fläschchen mit flüssigen Inhalten in allen nur erdenklichen Farben und einige Kisten erkennen konnte. Kleine Schachteln, die mit feinen, schwungvollen Wörtern und Zeichen beschriftet waren, standen daneben. Der Tür gegenüber war ein schlichter, samtener Vorhang in einem ausgeblichenen Rotton angebracht. Gedämpfte Stimmen drangen an ihr Ohr und Schritte ertönten. Der Vorhang wurde ein Stück beiseitegeschoben und ein kleines, etwas rundliches Gesicht erschien im Spalt. Dann wurde der Vorhang ganz geöffnet und sie musterte die groß gewachsene Gestalt eines Jungen. Er hatte feine Züge, dunkle Haut, trug ein schlichtes Leinenhemd und eine Leinenhose mit Lederband. Seine Füße waren nackt und schmutzig. Hinter ihm erspähte sie zwei Betten. Auf dem einen davon saß ein weiterer Junge. Doch er lehnte sich zurück, sodass er hinter dem Rücken des ersten Jungen verschwand.

    „Javier. Könntest du uns alleine lassen? Wir haben etwas Wichtiges zu bereden."

    „Natürlich, Meister Dasvid. Jamara." Er lächelte sie an, dann drehte er sich um, verschwand wieder durch die Öffnung und zog den Vorhang hinter sich zu.

    „Setz dich", sagte Dasvid und deutete auf die Bank.

    Sie ging langsam hinüber und ließ sich auf den gepolsterten Sitz fallen. Sie seufzte genüsslich. Es fühlte sich, als säße sie auf einer Wolke. So bequem hatte sie es schon lange nicht mehr gehabt. „Wer war das?", fragte sie.

    „Javier? Er ist mein Lehrling. Jeder Weise kann einen Lehrling bei sich aufnehmen. Und ich habe ihn gewählt. Er lächelte. „Sehr fleißiger Bursche.

    „Woher kommt er?, fragte sie weiter. „Seine dunkle Haut ist nicht normal für diese Gegend. Aus welchem Land stammt er?

    Stille folgte und erst dachte sie, sie würde keine Antwort erhalten und wollte eine neue Frage stellen, aber dann antwortete er doch. „Ich habe ihn vom Sklavenmarkt in Dalagar. Er sollte an einen skrupellosen Lehnsherren verkauft werden. Er war der Einzige von fünfzehn, den ich vor dem Schicksal retten konnte. Javier machte den intelligentesten Eindruck auf mich. Dasvid atmete tief durch und sie sah ihm an, dass er die Versteigerung in der Sklavenstadt erneut vor seinem geistigen Auge sah. „Aber jetzt zu deinem Anliegen.

    Sie sah ihn mit ernster Miene an. „Was kannst du mir über die Träumer sagen?"

    Er lächelte sie an. „Wieso denkst du, ich könnte dir darüber etwas sagen?"

    „Ich kenne dich. Auch wenn es kaum jemanden im ganzen Land gibt, der weiß, dass so etwas überhaupt existiert ... Über solche Dinge weißt du doch immer mehr als alle anderen zusammen. Sie sah ihn erwartungsvoll an. „Außerdem hättest du die Frage nicht gestellt, wenn du nichts darüber wüsstest, fügte sie schnell hinzu.

    Dasvid sah zufrieden aus. „Ich wollte nur sichergehen, dass es dir ernst ist. Also gut. Träumer sind eine seltene Rasse, die überall auf der Welt verstreut ist. Sie sehen aus wie normale Menschen, doch sie haben Zugang zu der sogenannten Zweiten Welt, in der sie das Wahre der Menschen erkennen und ein zweites Leben führen können."

    „Die Zweite Welt, ist das diese Welt?", unterbrach sie ihn.

    „Du bist eine, nicht wahr?"

    Sie nickte.

    „Ja, Jamara. Das hier ist die Zweite Welt. Du bist eine gebürtige Träumerin. Diese Welt hat schon immer in dir gelebt. Du hast es bestimmt nur nicht geahnt, als du noch klein warst, sondern hast es erst herausgefunden, als du älter wurdest. Nicht wahr?" Er lächelte verschmitzt. „Du hast aber schon immer in ihr gelebt und dein Leben hier unbewusst erlebt. Wahrscheinlich in Träumen. Ein Grund, warum ihr Träumer heißt."

    „Ich erinnere mich an die Zeit, als ich klein war. Wir saßen immer mit dir am Lagerfeuer und du hast uns Märchen erzählt."

    „Das mag sein, ja. Aber was ist mit der Zeit davor? Kannst du dich daran erinnern?"

    „Nein."

    Er nickte. „Weißt du, wie du damals in das Dorf gekommen bist?"

    „Natürlich weiß ich das."

    „Man hat es dir erzählt, aber kannst du dich wirklich daran erinnern?"

    „Ich denke ja."

    „Und was ist mit der Zeit davor?"

    Sie schüttelte traurig den Kopf. „Nein." Ihre Stimme war kaum ein Flüstern. Wie sehr sie sich wünschte, sich an jene Zeit erinnern zu können! Es war schwer, keine Erinnerung mehr an die Personen zu haben, die man seine Eltern genannt hatte. Ihr Leben in Vion hatte sie immer als real angesehen und alles, was darin geschah, als einen Teil von sich bezeichnet. So waren auch ihre Eltern in dieser Welt ihre echten Eltern gewesen. Genauso wie ihre anderen Eltern es noch immer waren. Sie hatten sie aufgezogen. Zumindest mussten sie es bis zu dem Überfall auf ihr Dorf getan haben, bei dem sie umgekommen waren.

    Feuer.

    Dasvid nickte und sah sie an. Als sie nicht antwortete, fuhr er an der Stelle fort, an der sie ihn unterbrochen hatte. „Es gibt zwar nicht mehr viele Träumer, aber was man weiß, ist, dass nicht alle gleich sind. Man unterscheidet euch in drei verschiedenen Arten: einmal die Gebürtigen, diejenigen, die von Geburt an die Gabe der Zweiten Welt haben und auch bewusst in ihr leben. So wie du. Dann gibt es die Dreizehner. Sie gewinnen diese Gabe ab dem dreizehnten Lebensjahr. Es wird wohl niemanden geben, der dir die Frage nach dem Warum wirklich beantworten kann. Mit der Zeit hat man sich viele Gründe ausgedacht, warum Menschen die Gabe gerade in diesem Alter verliehen bekommen – und einer scheint abwegiger als der andere. Mir sind auch noch keine verlässlichen Berichte zu Ohren gekommen. Und Aufzeichnungen, denen man zunächst trauen mag, erscheinen auf den zweiten Blick doch fehlerhaft. Er räusperte sich. „Wie auch immer. Manchmal gelangen Menschen auch unbeabsichtigt an die Gabe. Eigentlich werden die Träumer nämlich erwählt. Aber gleich mehr dazu. Manchmal bringt ihr dieser Welt Glück, manchmal werdet ihr ihr in gewisser Art und Weise zum Verhängnis. Aber diese Zufälle tauchen nur sehr selten auf, wenn ich einigen Aufzeichnungen trauen darf. Die meisten der Dreizehner verlieren diese Gabe wieder sehr früh, da sie in den Händen des Träumers oder der Träumerin missbraucht wird. Aber sie sind nicht die Einzigen, für die die Gabe nur begrenzt ist. Viele Träumer verlieren ihre Gabe. Ganz plötzlich. Langsam. Mal so, mal so und niemand kann sagen, weshalb. Ganz selten kommt es auch vor, dass der Rat der Lirem, der Ältestenrat, der dieses Land regiert und über die Gabe wacht, sie jemandem entzieht. Manchmal sind seine Entscheidungen nicht nachvollziehbar. Aber man vertraut ihm, wie du sicherlich gemerkt hast. Die Mitglieder des Rates haben ihre Gründe, und wenn sie meinen, dass es das Beste ist, stellt sich ihnen niemand in den Weg.

    „Ich dachte, König Sakull regiert Vion."

    „Offiziell ja, aber er ist nicht der alleinige Herrscher. Er regiert mithilfe des Rates. Und das ist wohl auch besser so. Aus seiner Sicht sollen sie ihn wohl unterstützen, doch in Wahrheit versuchen sie, die Bürger vor seinem Zorn zu beschützen. Sie lenken das Geschehen hier in Vion aus dem Verborgenen. Schließlich kann man in diesen Zeiten nie vorsichtig genug sein. Überall stehen Spione und überwachen in Sakulls Auftrag fast ganz Vion. Aber das ist ja allseits bekannt. Trotzdem musst du wissen, selbst die Lirem sind nicht in der Lage, ganz über ihn und Vion zu herrschen, und Sakull ist machtgierig. Außer in diesem Teil des Landes leben alle in Angst, jeden Moment eine Leiche auf ihren Feldern und Wegen zu finden. Wir wissen nicht, warum er uns verschont. Aber wir sollten den Frieden hier genießen und schätzen."

    Jamara nickte zum Zeichen ihres Verständnisses und Dasvid fuhr fort: „Und als Letztes existiert die Art, die uns allen Wissenden am meisten Freude bereitet: die Milen. Es sind Erwachsene, die diese Gabe zugeteilt bekommen haben. Entweder vom Rat oder indem sie einen Schlüssel zu einer erwählten Erinnerung finden, die ihnen die Gabe verleiht. Hast du schon einmal einen Milen gesehen? Sie denken, es muss immer alles auf der Welt berechnet werden können. Doch so ist es nicht. Er schmunzelte. „Und ihr Starrsinn ist in den meisten Fällen recht amüsant, wenn sie nicht gerade das Pech haben, sich in einer der Städte wiederzufinden.

    „Kann man diese Gabe auch wiedererlangen? Ich meine, wenn man sie verliert oder der Rat sie einem Träumer aberkennt, wäre es möglich, so eine Erinnerung zu erhalten oder einen anderen Weg zu finden, um in die Zweite Welt zu gelangen?"

    „Einen anderen Weg gibt es nicht. Und die Erinnerungen können einem nicht von irgendwem gegeben werden oder du findest sie einfach auf einer Straße, sondern sie sind bereits von Anbeginn der Zeit für jemanden bestimmt. Palee, der Urvater der Träumer, hat sie überall in der Welt in unbestimmte Zeiten für beliebige Menschen verteilt. Das ist auch der Grund für die unbeabsichtigten Träumer. Der Rat hat darauf keinen Einfluss. Nur Palee hatte es und es kam bereits in der Geschichte vor, dass er eine falsche Wahl getroffen hat und das fatale Folgen hatte. Wieso interessiert dich das?" Er sah sie misstrauisch an.

    Jamara wendete den Blick ab und seufzte niedergeschlagen. „Die Lirem wollen mir die Gabe nehmen. Ich habe heute Morgen einen Brief gefunden.

    Teil 1

    Parade vor den Fenstern

    Jamara blinzelte in die Sonne. Vögel flogen in kleinen Schwärmen über den Himmel, traten mal hier, mal da aus der Formation aus und ließen sich flügelschlagend in den Kronen der mit kommenden Blättern überzogenen Bäume herabsinken. Die Schwärme wurden immer kleiner und schließlich flogen nur noch drei Tiere dem Horizont entgegen. Sehnsüchtig blickte sie ihnen nach. Wie gerne wäre sie auch so frei, könnte fliegen, wohin sie wollte, und die schöne weite Welt von oben sehen. Sie blickte zu den Wolken auf und versuchte darin Gestalten zu erkennen, doch es waren nur ein paar feine Fäden zu sehen, ansonsten war der Himmel strahlend blau.

    Sie hörte gedämpfte Schritte neben sich und drehte den Kopf. Von der Hecke aus näherte sich ihre vierjährige Schwester Lejla. Mit ihren kleinen, wegen dem unebenen Untergrund leicht ungeschickten und holprig wirkenden Schritten, sah sie recht amüsant aus. Jamara glitt ein Lächeln über die Lippen. Sie setzte sich auf, um ihre Schwester in die Arme zu schließen, die mehrere Tage bei ihren Großeltern verbrachte hatte. Mit einem breiten Grinsen schlang Lejla ihre kleinen Arme um sie und warf sie vor Freude fast um. Dann schob sie sich wieder von ihr weg, zeigte ihr begeistert einen kleinen, mit Süßigkeiten gefüllten Beutel und holte eine Tafel Schokolade daraus hervor. „Das ist von Oma. Für dich, sagte sie mit ihrer hellen Stimme. „Sie hat gesagt, sie findet es blöd, dass du nicht mitgekommen bist. Ihre Mundwinkel fielen nach unten. „Und ich auch. Aber ich hab mit Mausi gespielt."

    Jetzt grinste sie wieder und gab Jamara die Schokolade. Begeistert erzählte sie von Mausi, dem Hund ihrer Großeltern, ihrem neuen Freund. Wie sie mit ihm die Nachmittage im Garten verbracht und mit ihm ihre Kekse geteilt hatte. Wie weich und kuschelig er doch war. Dann wechselte sie wie so oft abrupt das Thema: „Komm! Lejla ergriff Jamaras Hand und zog sie Richtung Haus. „Mama hat einen Kuchen gemacht.

    Lachend stand Jamara auf und die Schwestern gingen Hand in Hand durch den Garten, vorbei an den Beeten, in denen die ersten Blumen blühten. An der Terrassentür angekommen zogen sie sich ihre Schuhe aus und stellten sie neben die Parade, die sich vor dem Fenstern reihte, ehe sie die Tür aufzogen und den warmen Raum betraten. Der süße Duft von frischem Apfelkuchen wehte Jamara entgegen und ihr Magen grummelte. Es war Stunden her, seit sie das letzte Mal etwas gegessen hatte.

    Sanft wurden sie von ihrer Mutter durch eine der drei Türen in die geräumige Küche geschoben, wo sie bereits den Esstisch mit Kuchen und warmem Kakao gedeckt hatte. Begeistert stürzte Lejla auf den Tisch zu, setzte sich eifrig auf ihren Stuhl und ergriff die Gabel, die neben ihrem Teller lag. Jamara sah ihren ungeduldigen Blick auf ihnen ruhen und setzte sich ebenfalls. Dana schnitt noch den Kuchen, dann setzten sie sich und aßen schweigend.

    Es ging bereits seit Tagen so. Genauer gesagt, seitdem ihr Vater weiter weg hatte reisen müssen. Wieder einmal. Immer wenn er fort war, kehrten Stille und Verschwiegenheit in das Haus ein. Ihre Mutter gab zwar ihr Bestes, dass die Stimmung wieder zurückkehrte, doch lange wollte es ihr nie gelingen.

    „Wann kommt er wieder?", fragte Jamara in die Stille, die nur von der leisen Musik des Radios gestört wurde.

    „Wenn alles planmäßig verläuft, begann Dana, „wird er in fünf Tagen wieder abreisen und am Donnerstag zurück sein. Sie lächelte gequält. „Sofern es keine Zwischenfälle gibt."

    Jamara nickte. Sie kannte mittlerweile diverse dieser Zwischenfälle. Oft haperte es weniger daran, dass Probleme bei Flug und Bahn auftauchten, sondern vielmehr wurde entschieden, Eren müsse noch eine Kleinigkeit erledigen.

    Sie verfielen wieder in Schweigen und die Existenz Vions wurde langsam, aber nachdrücklich in Jamara wach. Sie versuchte es zurückzuhalten, doch der Druck, der hinter dem Ruf lag, ließ nicht nach. Was wohl passiert sein mochte? Schnell murmelte sie eine Entschuldigung, stand vom Tisch auf und ging durch das Wohnzimmer, in den Flur und die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Dort legte sie sich auf ihr Bett und ließ Vion wie eine Welle über sich zusammenbrechen.

    Eine neue Schwachstelle

    „Jamara!"

    Sie drehte sich benommen um. Orientierungslos ließ sie ihren Blick durch die nahe Umgebung schweifen, sah den regen Betrieb auf der langen Straße, die sich quer durch das kleine Dorf zog, die Scheune in der Nähe und den über allen Häuserdächern aufragenden schäbigen Wachturm. Schließlich schirmte sie mit der Hand ihre Augen ab und blickte gen Sonne, wo die schwarz erscheinende Gestalt des fassungslosen Ydo auf sie zu rannte. „Wo bleibst du so lange? Das Training fängt gleich an! Los jetzt!"

    Sie murmelte eine knappe Entschuldigung, dann folgte sie ihm nur wenig erfreut hinter die Scheune auf einen eingezäunten Sandplatz. An einer kleinen Holzhütte gegenüber des Waldes drückte er ihr ein stumpfes Übungsschwert und einen ledernen, abgenutzten Brustpanzer mit an Bändern befestigten Knieschonern in die Hand. „Zieh dir das schnell über dein Hemd und dann ab mit dir!", grummelte er und ging an ihr vorbei, scheuchte die am Zaun wartenden Jungen auf den Platz und sah ihr von dort aus ungeduldig zu.

    Jamara verdrehte die Augen, tat aber wie geheißen und kam wenig später hinzu. In der Mitte des Platzes angekommen trat Ydo mit einem kleinen Messer an sie heran und schnitt ihre langen Haare auf Kinnlänge ab. „Du weißt, dass wir den Schein wahren müssen, du wärst ein Junge!, tadelte er sie, trat zufrieden nickend von ihr weg und sagte: „Die anderen hier sind die Einzigen, die es wissen dürfen. Sei froh, dass ich dich damals aufgenommen habe!

    Ja, er war im Innersten ein gütiger Mensch, auch wenn es äußerlich völlig absurd scheinen mochte. Jamaras Eltern, zumindest in dieser Welt, waren vor Jahren bei einem Überfall auf ihr Dorf verstorben. Sie und ein paar andere Kinder waren die einzigen Überlebenden. Entkommen waren sie nur durch einen geheimen Tunnel unterhalb des kleinen Wachturms am Rand einer Wiese, umgeben von einem lang gezogenen Wald. Die Angreifer hatten alles niedergebrannt, was ihnen in den Weg kam. Jamara war geflüchtet. Alleine. Die Gruppen der anderen Kinder waren zu auffällig und auch ihnen wurde das Leben genommen, wie es allen anderen Dorfbewohnern zugestoßen war. Sie hatte aus der Ferne alles mit angesehen und die Bilder und der Geruch von Tod und verbranntem Fleisch schwirrten noch immer in ihrem Gedächtnis herum, verfolgten sie in ihren Träumen. Sie hätte sich nicht umdrehen sollen. Nicht dort. Nicht zu der Zeit. Doch die Schreie, das Flehen und Wimmern hatten sie innehalten lassen und sie hatte sich umgedreht und dem Grauen ins Gesicht geblickt. Dann war sie weitergerannt. Fort, nur mit dem Gedanken, dieses Schicksal nicht selbst erleiden zu müssen. Nicht am eigenen Körper. Weder in dieser Welt, noch in irgendeiner anderen. Die Angst und das Entsetzen hatten sie schneller laufen lassen, als sie es heute konnte. Sie hatte sich gefühlt wie vom Wind getragen. Gedankenlos war sie hinaus aus der Menge, durch die Felder in die Hände Ydos gerannt, der sie aufgezogen hatte wie sein leibliches Kind. Wie die Tochter, die er nie hatte. Er hatte sie sich wehren und kämpfen gelehrt. Gezeigt, wie sie überleben und einfache Wunden heilen konnte. Doch er hatte sie behandelt wie einen Sohn. Ihr die Haare kurz geschnitten und sie auf dem Feld und auf dem Übungsplatz arbeiten lassen. Trotzdem, sie war zufrieden mit ihrem dortigen Leben. Sie war glücklich, in ihrem Alter noch unverheiratet zu sein und erheitert darüber, die Ausdrücke in den Gesichtern der Männer zu sehen, wenn sie sie bedrängten, falls sie doch einmal als Mädchen auf dem Markt unterwegs war. Diesen aufdringlichen, überheblichen und angetrunkenen Männern und Jungen den kleinen, schmucklosen Dolch ans Fleisch drücken und sie das Leuchten der Entschlossenheit in ihren Augen sehen zu lassen, war für sie immer wieder eine Erheiterung. Die meisten waren in solchen Situationen erst schockiert, dann versuchten sie erfolglos, ihr die Waffe abzunehmen. Wenn in ihre Augen ein begieriges Leuchten trat, konnte Jamara sie nur bemitleiden und in Gedanken den Kopf schütteln. Sie waren töricht. Und das zu ihrer Freude.

    „Jamara!"

    Sie zuckte zusammen. Tagträume und Erinnerungen taten es ihr immer wieder an. Wann immer sich die Gelegenheit bot, schwelgte sie in ihnen.

    „Willst du noch den ganzen Tag lang in der Gegend herumstehen und Löcher in die Luft starren?, wetterte Ydo. „Los! Geh zu Sujensh hinüber. Wir sollten beginnen, bevor es dunkel wird.

    Jamara sah sich suchend um und erblickte Sujensh ganz am Ende der im Abstand von einigen Metern stehenden Paare. Sie selbst stand in der Mitte der Versammlung und erntete einige hämisch grinsende Blicke. Sie wandte sich ab und ging hoch erhobenen Hauptes auf ihren Trainingspartner zu. Im Vorbeigehen hörte Jamara einzelne Gesprächsfetzen, dass sie es nicht verdient hätte, in dieser Runde zu sein. Noch dazu, da sie ein Mädchen war. Aber sie ignorierte die Stimmen und hielt den Blick fest auf ihr Ziel gerichtet.

    „Gut. Ydo hob wieder seine Stimme. „Heute werden wir uns auf das Auswahlturnier vorbereiten müssen. Er machte eine Pause, schritt die Reihen ab und sah dabei jedem ins Gesicht. „Das Turnier bietet jedem hier die Chance seines Lebens. Es ist das, worauf wir so lange hingearbeitet haben. Es ist die Chance, ein Felomritter zu werden. Einer der nicht adligen Ritter dieses Landes."

    Ein weiter vorne stehender Junge spottete: „Welcher Adel? Wo bleiben diese Ritter?" Das Wort Ritter betonte er, als handelte es sich dabei um eine Sagenfigur. Eine Sage, wie man sie sich des Nachts am Lagerfeuer erzählte. „Wann kommen sie, um unser Land zu verteidigen?! Nie."

    „Halte dich zurück! Das ist keine Situation, in der man unseren König verspotten sollte. Du solltest dich glücklich schätzen, wenn du dafür nicht bestraft wirst. Ihr solltet euch alle glücklich schätzen, dass ihr eine solche Gelegenheit erhaltet. Es ist die Chance für euch, bekannt zu werden, ein relativ gutes Leben führen zu können und eure Zukunft zu stabilisieren. Er ging wieder zurück. „Jeder von euch Älteren wird antreten. Außer ... Er suchte ihren Blick. „Jamara. Mädchen sind ausgeschlossen."

    Sie schnaubte verächtlich. „Genauso wie es verboten ist, ein Mädchen auszubilden, ihr zu zeigen, was Krieg bedeutet und wie man mit einem Schwert richtig umgeht?!"

    „Das steht hier nicht zur Debatte. Du trittst nicht an. Ich will nichts zu diesem Thema von dir hören. Ydo war gereizt. Allen Anwesenden war das bewusst und so blieben sie still. War es aus Ehrfurcht? Wohl eher nicht. Sie machten sich gerne lustig über ihn. Es gab immer etwas, womit sie ihn aufziehen konnten. Ydo seufzte und fuhr mit seiner Rede fort. „Ihr anderen werdet euch in den Disziplinen Bogenschießen und Schwertkampf üben. Wer der Beste aus dieser Gruppe ist, das wird ein Söldner, den unser ehrwürdiger König entsandt hat, entscheiden. Gelächter erklang bei der Bezeichnung eines ehrwürdigen Königs. „Still!", wies Ydo sie zurecht. Seine Miene verzog sich für einen kleinen Moment zu einer schmerzverzerrten Grimasse, sein Brustkorb hob sich stark, als würde er durchatmen. Besorgnis spiegelte sich in den Gesichtern einiger Jungen wider, allerdings nur für einen flüchtigen Moment. Keiner machte sich ernsthafte Sorgen um den Lehrmeister. Er war ein begnadigter Krieger, der so gut wie keinen Schmerz kannte.

    Ydo fuhr fort: „König Sakull wird einen seiner besten Söldner hierherschicken, der einen von euch Qualifizierten auswählt. Dieser Auserwählte wird gegen die anderen Besten aus allen Kampfschulen in ganz Vion antreten. Ihr anderen, Jüngeren, werdet in einem späteren Jahr teilnehmen können. Ritter kann dieses Land nicht genug haben. Jetzt lächelte selbst er. Zwar gezwungen, aber seine Mundwinkel standen definitiv oben. „Aus allen Teilnehmern werden die zwanzig Besten auserwählt. Diese haben die Gelegenheit, eine Ausbildung zum Felomritter zu absolvieren.

    Er ging zu Jamara hinüber und sah ihr fest in die Augen. „Ich erwarte, dass du nicht teilnimmst, mahnte er sie mit einem harten Unterton. „Weder bei der Qualifizierung noch beim Turnier selbst. Wenn du es trotzdem tun solltest, wirst du nicht weiter bei mir leben dürfen und ich werde dir das Leben zu Hölle machen. Hast du mich verstanden? Seine Miene blieb wie versteinert. Nichts deutet darauf hin, was er dachte oder ob er etwas anderes meinte. Seine Stimme klang nicht nach dem Ydo, den sie kannte. Vielleicht war er einfach besorgt um sie. Er konnte sich sicherlich nur zu gut ausmalen, was man mit einem kämpfenden Mädchen tun würde, und wollte sie beschützen.

    Sie nickte.

    Nach einer kurzen Pause, als Ydo bereits einige Schritte von Jamara weggetreten war und erneut die Reihe abschreiten wollte, ergriff sie jedoch erneut das Wort und er wandte sich ihr wieder zu. „Ich habe keine Lust, hier untätig zuzusehen, wie das Land unterdrückt wird und jede Woche Menschen sterben. Immer habe ich Angst, es könnte jemand darunter sein, den ich gekannt habe. Ich will kämpfen, Ydo. Ich will das Land verändern. Ich will diese Tyrannei beenden und frei sein." Sie blickte ihn ernst und doch erwartungsvoll an. Sie war sich bewusst, dass sie etwas Verbotenes ausgesprochen hatte. Aber was sollte es sie stören. Es war so vieles verboten. Nahezu alles.

    Ydo seufzte. „Es war klar, dass du das eines Tages sagen würdest. Du bist widerspenstig, eigenwillig und anstrengend. Nicht zu vergessen: Du hast eine eigene Meinung, die du nicht so einfach ändern wirst, wenn du nicht willst. Du bist hartnäckig. Hartnäckiger, als dir gut tut. Diese Worte erfüllten sie mit einer eigenartigen Mischung aus Stolz und Trauer. Ydo seufzte. „Es geht nicht. Wie oft muss ich dir das sagen? Schon als kleines Kind wolltest du nichts davon wissen. Seine Stirn bildete besorgte Falten. „Man kann Sakull nicht stürzen. Man muss warten. Warten, dass er eines natürlichen Todes stirbt oder bei einem Unfall ums Leben kommt. Und du weißt, dass es verboten ist, darüber auch nur nachzudenken." Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Eine Feststellung, die eigentlich keine Widerworte duldete. Sie war sich dessen im Klaren. Er hatte es ihr schließlich oft genug gesagt. Aber sie wollte! Und sie ließ es sich nicht ausreden. Er sollte sich nicht wundern, dass sie weiterredete!

    „Aber ... Können wir nicht einen Widerstand organisieren? Können wir uns nicht mit ein paar anderen Dörfern verbünden und versuchen, Sakull zu stürzen? Wir alle sind gute Kämpfer. Im Nahkampf sowie im Umgang mit dem Bogen. Er hat keine Armee. Nur Söldner, die er nicht aus dem Land lässt. Wir könnten versuchen, sie zu überreden uns beizutreten, und versuchen, ihn gemeinsam zu stürzen. Warum sollten sie es auch nicht wagen? Sie könnten aus dem Land kommen, eine Aussicht auf ein besseres Leben haben und ..."

    „Nein!, unterbrach Ydo entschieden. „Auf gar keinen Fall. Dass du so etwas denkst! Dass du es wagst, solche Pläne zu schmieden und sie auch noch auszusprechen! Er schüttelte missfallend den Kopf. „Hast du schon einmal daran gedacht, dass dieses Land viele Verräter beherbergt, die Sakull über alles unterrichten, was ihnen in die Finger gerät? Wenn man nur einen von ihnen als Verbündeten wählen würde, falls man so etwas machen würde, wären alle tot. Würde man riskieren können, ein halbes Land zu töten? Nein. Kommt nicht infrage!"

    „Wir könnten doch Sakulls Spione bestechen. Wir bestechen einfach jeden, der uns verdächtig vorkommt."

    „Nein, hör auf! Hör sofort auf! Verliere kein Wort mehr darüber! Irgendwann ist Schluss. Und das war bereits vor Monaten. Wenn du noch ein einziges Wort darüber verlierst, einen Gedanken daran verschwendest, dann werde ich Maßnahmen ergreifen, die dir nicht gefallen werden! Hast du mich verstanden?"

    „Du Schwarzseher!, spie ihm Jamara entgegen. „Willst du denn nicht, dass wir erlöst werden? Willst du nicht wissen, wie sich Freiheit anfühlt? Nach so langer Zeit – willst du nicht endlich mal wieder über die Wiesen gehen, über dein Leben bestimmen können, ohne jeden Moment befürchten zu müssen, dass du bestraft wirst? Tränen der Verzweiflung stiegen ihr in die Augen. Sie hoffte so oft, dass Ydo wenigstens Verständnis zeigen würde. Er musste sich ihr nicht anschließen. Er musste sie nicht unterstützen. Oder helfen, ihre Gedanken zu entwickeln. Aber ein wenig Verständnis in seinen Worten hätte ihr so gutgetan.

    „Jamara! Hör auf. Das ist meine letzte Mahnung!"

    Sie sah ihm an, dass er kurz davor war, seine Drohung wahr zu machen. Und so schwieg sie. Aber sie würde nicht von den Gedanken ablassen. Und eines Tages, da würde sie ihren Plan umsetzen!

    „Los jetzt, sagte Ydo halbherzig in die Runde. „Alle wieder an die Arbeit. Und du wirst nie wieder ein Wort darüber verlieren. Dass das klar ist. Eine kalte Härte lag in seiner Stimme.

    Jamara hatte zu lange mit ihm diskutiert. Sie hätte es nicht tun sollen. Er hatte Angst und sie hatte sie in ihm geweckt. Die Angst um sie und um sich selbst. Angst vor dem, was ihn erwarten würde, wenn jemand herausfinden sollte, was sie dachte, worüber sie geredet hatten. Es war eine neue Schwachstelle. Er war bestechlich geworden. Würde man ihm sein Leben nehmen, würde er Jamara, die für ihn wie sein leibliches Kind war, nicht mehr versorgen können. Dabei war sie alles, was er noch liebte. Alles, wofür er kämpfen würde. Mehr als für sein eigenes Leben.

    Sie nickte und gab sich seufzend geschlagen. Dann würde sie es alleine tun. Er dürfte nichts davon erfahren, denn sie wollte nicht, dass er sich sorgte.

    Nur er allein

    „Gebt euch mehr Mühe! Ydo schritt auf dem Übungsplatz auf und ab. „Rachjo, achte auf deine Standfestigkeit.

    Um ihn herum kämpften die Jungen und Jamara wieder in den gewohnten Reihen.

    „Reamon, lass dich nicht zurückdrängen. Rücke vor!"

    Es war ein milder Tag, aber das Wetter war perfekt für das Schwertkampftraining.

    „Nicht nur verteidigen, Agreon. Greife an! Selbst die beste Verteidigung bricht einmal zusammen. Und das wird deine sein, wenn du so weitermachst."

    Sie übten seit Wochen fast ausschließlich den Umgang mit dem Schwert und er hatte nicht vor, das zu ändern. Auch wenn auf dem Turnier ebenso mit dem Bogen gekämpft werden sollte – traute er dem, was er gehört hatte. Seiner Meinung nach waren Klingen das Wichtigste in einem Kampf. Bogen waren für Distanzen geeignet. Andere Nahkampfwaffen waren komplizierter zu handhaben. Und in seinen Augen waren seine Schüler eben doch nur Kinder, mochten sie für andere Menschen auch schon bald als erwachsen gelten. Umso mehr mussten sie die Kampftechniken fast im Schlaf ausführen können. Die Grundhaltungen waren nach all den Jahren Voraussetzung und er billigte es nicht, wenn diese nicht beherrscht wurden.

    „Nalli, habe ich dich nicht bereits gestern darauf hingewiesen, dass dein Schwert eine Verlängerung deines Armes ist? Dich kann man kaum ansehen, so ungeschickt gehst du mit der Waffe um. Du musst dein Handgelenk ... Nein, hör auf! Komm her."

    Nalli trat mit einer Miene, die Enttäuschung und Wut widerspiegelte, aus der Reihe der Duellanten. Ydo ging zu ihm hinüber, ergriff seinen Arm und führte das Schwert langsam. Er zeichnete mit der Spitze der Klinge verschiedene Formen und Muster in die Luft, bis es parallel zum Boden seitlich neben Nalli lag. „Jetzt stell dich auf dein linkes Bein, hebe das rechte an und lass dich etwas nach vorne fallen, während du dein Schwert nach vorne schwingst. Du schwingst nicht aus dem Arm, sondern aus dem ganzen Körper."

    Nalli tat wie geheißen.

    „Gut. Jetzt stell dich wieder hin, dreh deinen Oberkörper nach rechts. Nein! Deinen Oberkörper. Die Hüfte und dein Kopf bleiben auf deinen Gegner gerichtet", sagte Ydo genervt.

    Bei dieser Verrenkung stiegen Nalli die Schweißperlen ins Gesicht.Alle sahen dem willkommenen Schauspiel zu und brachen in Gelächter aus. Nalli stieg die Röte ins Gesicht, aber er ignorierte es und hielt weiterhin die Position.

    „Gut, lobte Ydo unbeirrt. „Jetzt dreh dich wieder in deine normale Haltung. Aber mit Schwung und lass dein Schwert zustoßen.

    „Nalli!, rief Iloon, ein stämmiger Junge in Nallis Alter. „Fall bloß nicht hin. Das Schwert ist nicht so leicht wie du. Er grinste breit, doch niemand tat es ihm gleich und er kassierte prompt einen scharfen, mahnenden Blick von Ydo.

    Für Ydo war der heutige Tag ein mühseliger. Niemand war ganz bei der Sache und es wurde gelacht, obwohl es nicht im Geringsten angemessen war. Sie sollten sich konzentrieren. Jedes Training war wichtig.Lag es vielleicht an dem anstehenden Turnier? Aber das passte nicht zu seinen Schülern. Eher müssten sie sich beim Training ins Zeug legen, um dann auf dem Platz kläglich zu versagen. Sie würden eher dort absichtlich verlieren, als hier die Narren zu spielen. Sie mussten denken, dass sie chancenlos waren. Und selbst wenn nicht: Wer von ihnen wollte schon unter Sakulls Herrschaft ein Felomritter werden? Niemand. Vielleicht hatte Jamara recht gehabt, als sie gesagt hatte, sie und er sollten mit anderen einen Widerstand gründen.

    Nein! Nein, es war ein zu großes Risiko. Es konnte so vieles Schreckliche geschehen.

    Aber was, wenn ...

    Mittlerweile waren drei Tage vergangen seit der Ankündigung des Turniers. Sie hatten nur noch wenige Tage Zeit, um sich vorzubereiten, und Jamaras Vorschlag hatte ihm nächtelanges Grübeln beschert. Eigentlich wollte er nicht darüber nachdenken, aber irgendetwas in ihm hatte sich geregt und ihn nicht ruhen lassen. In seinen Träumen sah er sich auf einem weiten Platz sitzen, weit und breit nichts zu sehen außer zwei Gestalten. Sie waren verzerrt und aus schwarzem Staub. Einzelne Fragmente formten sich zu Gesichtern, wenn sie begannen zu sprechen, und verflossen wieder, wenn sie eine Pause einlegten. Sie hatten dunkle Schatten um die kleinen, flachen, ovalen Dellen, die anscheinend die Augen darstellen sollten. Obwohl man meinen müsste, ihre Augen konnten nicht dunkler sein, als es die Gestalten selbst waren, erschien es Ydo dennoch so. Sie hatten einen deutlichen, wohlgeformten Mund, ähnlich dem einer Frau, und die Stimmen, die aus ihnen drangen, klangen wie die eines kleinen Kindes und jagten ihm immer wieder aufs Neue einen Schauer über den Rücken. Sie klangen so unschuldig und ahnungslos. So zerbrechlich. Einmal hatte er versucht, sie zu berühren, doch sie waren ihm wie Wasser durch die Finger geglitten und ihre Fragmente waren, wie von einem Windstoß gepackt, aufgewirbelt und in die Ferne geflogen. Er war ihnen nachgelaufen.

    Der Traum hatte so echt gewirkt wie kein anderer, den er jemals zuvor gehabt hatte. Er hatte die Staubgestalten und seine Umgebung klar gesehen, er hatte sie unter seinen Fingern gefühlt, den Duft der klaren Luft gerochen und wusste, dass die Stimmen echt gewesen sein mussten.

    Er hatte dort nicht alleine sein und nicht aufwachen wollen, in der grausamen Wirklichkeit. Doch die Gestalten waren fort gewesen. So sehr er auch gesucht hatte, nirgends hatte Ydo von ihnen auch nur ein einzelnes Fragment gefunden. Er konnte nur hoffen, dass sie ihm in den nächsten Nächten wieder erschienen, denn ihre Anwesenheit gab ihm ein Gefühl der Geborgenheit und Sorglosigkeit. Und sie gaben ihm ein wenig mehr Ahnung von allem, was passierte. Sie hatten mit ihm über Jamara und seine Diskussion gesprochen. Woher auch immer sie davon wissen mochten, denn sie erschienen ihm real, nicht wie ein Traum, der aus der eigenen Fantasie entstand. Sie hatten ihm gesagt, er solle sie reden lassen und ihr lauschen. Er würde schon sehen, was es brachte. Sie würden es ihm zeigen. Möglicherweise. Er vertraute ihnen, wusste aber trotzdem zugleich, dass er Jamaras Zunge hätte früher zügeln müssen, wenn auch er sich ein Land wünschte, wie es hier nicht war. Und er wusste auch, dass er sich ebenfalls nicht daran hindern konnte, sich darüber Gedanken zu machen. Obwohl er die Gefahren kannte. Ein falsches Wort zu einer falschen Person und er wäre tot. Ein Wort zu einem verborgenen Spion und er wäre verraten. Wer würde Jamara dann noch auf ihrem Weg helfen? Wenn sie auch ein starkes Herz hatte, es würde ihr nicht helfen, wenn ihre Gedanken und Wünsche zu Sakull durchdrangen. Oder noch nicht einmal das. Jeder seiner Diener konnte ungestraft in seinem Namen handeln und richten. Sie könnte lediglich einen ehrenvollen Tod sterben. Aber er würde ihr nicht viel nutzen. Nur, dass sie einmal in einer besseren Welt wiedergeboren werden würde. Möglicherweise. Aber das konnte sie ebenso gut auf einer anderen Art und Weise erreichen.

    Sie sollte mehr über die Gefahren nachdenken.

    Ydo erinnerte sich an seine Träume zurück, an die der letzten Nacht. An den weiten Platz und die Staubgestalten, die auf ihn fast geisterähnlich gewirkt hatten. Sie hatten mit ihm geredet und viele Aspekte geäußert, was ihn nur noch mehr verwirrt und unschlüssiger hatte werden lassen. Also hatte er sich ganz fest vorgestellt, sie würden verstummen. Er hatte sich den Raum ohne sie vorgestellt. Nur er alleine.

    Als er die Augen geöffnet hatte, um festzustellen, ob sein Wunsch sich erfüllt hatte, hatte er sich zu seinem Erstaunen über einer grünen Wiese auf einem Baum sitzend wiedergefunden. Unten am Stamm hatte er wenig später ein Schwert entdeckt. Er war den Stamm hinuntergeklettert, um es aufzuheben, und hatte eine hinter der Baumkrone verborgene Strohpuppe erblickt, die einen teuren, silbernen Brustpanzer trug. Ydo hatte erleichtert durchgeatmet.

    Der Schwertkampf half ihm immer, die Gegenwart zu vergessen, besser nachdenken zu können und einfach er selbst zu sein. Doch was war er? Ein Krieger? Ein Griesgram? Ein besorgter Vormund oder etwas ganz anderes? Er wusste es nicht.

    „Ydo", sagte eine Stimme in seinen Gedanken.

    „Geh weg", sagte er.

    „Ydo!", sagte die Stimme, jetzt mit einem harten Unterton. „Ydo! Mach deine Augen auf.

    „Lass mich in Ruhe." Seine Augen waren offen. Aber er sah nichts. Niemanden. Woher kam die Stimme?

    Etwas traf ihn hart ins Gesicht und es fühlte sich an, als würde er die Augen schmerzvoll aufreißen, ob weiter oder als wenn sie geschlossen gewesen wären, konnte er nicht sagen. Es flimmerte vor seinen Augen und er blinzelte. „Was ..., begann Ydo, doch weiter kam er nicht, denn er sah in die neugierigen Gesichter seiner Schüler, die ihn alle mit einer eigenartigen Miene musterten. Er sah sich um. Das Gesicht ganz vorne war, wie sollte es anders sein: „Jamara.

    Sie lächelte ihn amüsiert an. „Willkommen zurück."

    „Was ist passiert?, fragte er verwirrt und setzte sich auf. „Was mache ich hier auf dem Boden?

    Sie zuckte die Achseln. „Du hattest wohl genug von uns und hast dich einfach hier in den Sand fallen lassen. Erst dachten wir, es wäre ein Scherz von dir und haben weitergemacht, doch als du nicht wieder aufgestanden bist und seltsame Selbstgespräche geführt hast, haben wir uns entschieden, mal nach dir zu sehen. Hier sind wir also."

    „Seltsame Gespräche? Worüber?"

    „Darüber, dass du Angst hast. Angst vor etwas Ähnlichem wie ... Staubgestalten? ... Die dir irgendwelche Sachen erzählen und darüber, dass sie dir trotzdem ein Gefühl von ... Sie macht eine Pause, dann fuhr sie fort. „... Erlösung geben, Ydo.

    „Und von einem Baum, auf dem du gesessen hast", fügte Rachjo hinzu. Bei der Erinnerung verzog sich sein Mund zu einem breiten Grinsen und auch die anderen begannen zu lachen.

    Ydo war besorgt. Was hatte er nur getan? Was war mit ihm geschehen?

    „Du hast so getan, als hättest du ein Schwert oder Ähnliches in der Hand. Glaube ich. Du hast dich im Sand gewälzt und mit deinen Händen herumgefuchtelt und teilweise geschrien."

    „Ich hatte Angst um dich. Was ist mit dir los?", fragte Jamara besorgt.

    „Ich weiß es nicht, gestand er und blickte an sich hinab. Es stimmte. Überall, wo er seine Kleidung betrachtete, hatten sich Sandkörner festgesetzt und gaben seinem Hemd und der Hose einen noch schäbigeren Eindruck. Er stöhnte schockiert. Dann gewann er wieder die Fassung. „Los. Wir machen weiter. Ihr seid immer noch nicht so gut, wie ihr sein müsstet. Wir haben nur noch eine Woche Zeit. Wenn wir Glück haben, ein paar Tage länger. Also los!

    „Aber ..., setzte Jamara an, stimmte dann jedoch leise zu: „Eine Woche.

    Nalli ergriff das Wort. „Die Zeit muss reichen. Du gehst dich jetzt ausruhen. Wir räumen hier auf und gehen dann auch nach Hause. Guck zum Horizont. Es ist fast dunkel. Das letzte Rot ist bald nicht mehr zu sehen." Es stimmte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass alles nur noch in ein schwaches, graues Licht getaucht war. Er nickte, um sein Einverständnis zu zeigen.

    Was war nur geschehen? Verständnislos schüttelte er den Kopf. Dann stand er auf und machte sich auf den Weg zu seinem kleinen Haus. Er drehte sich noch ein letztes Mal seufzend um und sah zu seiner Zufriedenheit, dass alle in ein reges Treiben verfallen waren und alles ordentlich in den Schuppen räumten. Dann traf ihn auch schon etwas Hartes am Kopf und sein Schädel begann zu brummen. Die Welt um Ydo herum wurde schwarz wie die Nacht.

    Nicht von hier

    „Was hat er, Hanabi?" Jamara stand in der Ecke des kleinen, schmucklosen Raumes in Hanabis Haus.

    „Ich weiß es nicht, Kind, antwortete der Heiler. „Aber er hat starke Prellungen und offene Wunden und dadurch viel Blut verloren. Es war nicht einfach, die Blutungen zu stoppen, doch mittlerweile ist er auf einem guten Weg der Besserung. Hättet ihr ihn nicht entdeckt, wäre er wahrscheinlich über Nacht gestorben.

    Jamara schluckte. Wer hätte sie und die anderen unterrichtet, wenn Ydo gestorben wäre? Und noch viel wichtiger: Bei wem hätte sie wohnen können? Wer hätte für sie gesorgt? Hätte sie heiraten müssen? Sie schüttelte die Gedanken ab. Es war nicht wichtig. Er lebte. Er würde es überleben. Bestimmt. Warum machte sie sich also Gedanken darüber? Weil sie wusste, dass sie ohne Ydo hilflos wäre? Weil sie genau wusste, dass sie zwar kämpfen, aber nicht überleben konnte?

    Verärgert schnaubte sie.

    Sie tat es erneut. Sie dachte erneut darüber nach. Sie sollte es lassen. Wirklich lassen. Es würde alles gut werden.

    Sie schloss die Augen, konzentrierte sich auf ihre Atmung, um sich zu beruhigen und öffnete sie wieder. Der Blick Hanabis ruhte auf ihr. Etwas Merkwürdiges war an die Stelle seiner sonst ausdruckslosen, von feinen Falten überzogenen Miene gerückt. War es Misstrauen? Verwirrung? Unglauben? Aber warum?

    Jamara musterte ihn fragend. Nein, es war eine Mischung aus alledem. Aber sie konnte es nicht nachvollziehen. „Was ist?", fragte sie. Wem mochte er misstrauen? Ging es Ydo etwa schlechter, als er es sagte? Was war nur los?

    Hanabi blieb stumm und beobachtete sie eingehend. Jamara wollte ihn gerade erneut fragen, da öffnete er langsam seinen Mund und sagte: „Du." Er wandte sich wieder seinem Patienten zu.

    Was? Sie?

    „Du bist nicht das, was du vorgibst zu sein, fuhr er nach einer gefühlten Ewigkeit fort. „Du bist nicht von hier. Du ...

    Was meinte er? Was sollte es bedeuten, dass sie nicht das war, was sie vorgab zu sein? Was gab sie vor zu sein?

    Es war ein verrückter Tag. Erst Ydo, der auf der Straße gelegen hatte, zugerichtet wie nach einem Schlagwechsel, und nun das. Natürlich, sie war nicht von hier. Nicht nur. Dennoch gehörte sie in diese Welt, ebenso sehr wie in die andere, in der sie lebte. Sie gehörte hierher, wie jeder andere auch. Woher sollte er ihr kleines Geheimnis kennen? Das konnte Hanabi schließlich nicht wissen. Die Gabe, dass es überhaupt etwas Derartiges gab, sollte ihm völlig fremd sein. Außerdem lebte sie seit Ewigkeiten in Vion. Sie kannte die Welt besser als manch anderer und sie liebte sie, trotz all ihrer schwerwiegenden Fehler. Möglicherweise gerade deswegen. Und sie hatte Hoffnung in diese Welt. Dass sie eines Tages wieder eine wunderschöne, friedliche Idylle sein würde, die sie mittlerweile nur noch in Geschichten war. Sie lächelte friedlich. Der Gedanke daran erfüllte sie mit innerer Ruhe und Zufriedenheit.

    Ydo zuckte zusammen und sofort galt Jamaras Aufmerksamkeit wieder ihm. War er wach? War sein Zustand besser, als es aussah? Konnte sie mit ihm reden? Wusste er, was passiert war? Tausend Fragen schossen ihr durch den Kopf und verflogen sogleich wieder, als sich seine kleine Regung in Krämpfe wandelte.

    „Schnell, halte seine Beine fest! Hanabi stand bereits am Kopfende des Bettes, das mitten im Zimmer stand. Jamara stürzte auf Ydos Beine zu und stemmte sich mit aller Kraft darauf, um sie nach unten zu drücken. Er war stark. Viel stärker, als sie vermutet hatte. „Halte ihn weiter fest, Mädchen!, befahl ihr der Heiler. „Oder willst du, dass er sich selbst verletzt?!"

    Was dachte er von ihr? Natürlich wollte sie das nicht! Es konnte keine Person geben, die so etwas wollte.

    Langsam ließen die Krämpfe ihres Vormundes nach und Jamara atmete erleichtert auf, als sie schließlich ganz endeten. Erschöpft ließ sie sich auf den Boden nieder. Sie atmete schwer und beobachtete, wie Hanabi eine Hand auf Ydos Stirn legte und den Kopf schüttelte. „Ich glaube, ich brauche dich jetzt nicht mehr und es wäre besser, wenn du gehst." Sie nickte erschöpft. Dass ein paar Sekunden so lang und kräftezehrend sein konnten, hätte sie nicht gedacht. Träge blinzelte sie und erhob sich dann widerwillig. Lieber hätte sie sich hingelegt und wäre eingeschlafen. Selbst die platt gestampfte Erde unter ihren Füßen erschien ihr wie eine willkommene Ruhestätte.

    Sie schlurfte zur Tür hinüber, öffnete sie und drehte sich noch einmal um. „Sei nicht traurig. Er wird schon wieder", hörte sie noch, dann schloss sie die Tür hinter sich und ging durch den schmalen Flur hinunter, der sich zu ihrer Rechten zu einem kleinen Wohnraum mit Küche öffnete, durch die Haustür und hinein in das dunkle Rotorange der bereits aufgehenden Sonne. Sie hatte die ganze Nacht bei Ydo verbracht, seit sie ihn mit Rachjo, Ryill und Maluc nach dem Aufräumen des Trainingsplatzes gefunden und in die kleine Hütte getragen hatte. Sie würde wohl noch den ganzen Tag dieses Bild vor Augen haben. Ydo erneut am Boden. Es konnte kein gutes Zeichen sein. Irgendetwas musste mit ihm nicht stimmen. Und falls er es nicht wie in seinem Wahn am Nachmittag selbst gewesen war: Warum hätte ihn jemand zusammenschlagen sollen? Ein Spion vielleicht? Sie wollte es nicht hoffen. Er hatte dort drinnen elend ausgesehen. Aber sie musste auf Hanabi vertrauen. Er würde schon alles wieder richten.

    Eine entlegene Gasse bot sich ihr als Ruhestätte an. Türen, überall Türen, an die sie hätte klopfen können. Keine von ihnen die eigene. Sie wollte nicht nach Hause. Sie wollte durch keine Tür mehr gehen, egal welche es war. Alle fünf Meter eine neue Tür, ein anderes Haus, in das man sie eingelassen hätte, hätte sie nur gewollt. Aber sie tat es nicht. Jede Tür, durch die sie gegangen wäre, jede Tür Vions hätte ihr Ydos Bild in Gedanken gerufen. Und sie war zu besorgt, als dass sie sich noch weiter sorgen konnte.

    Jamara begann, sich von den Strömungen der Welten in ihr Zimmer treiben zu lassen. Sie sah dünne, leuchtende Fäden auf sich zu gleiten. Als sie nach ihnen griff, spürte sie, wie langsam und mit einem prickelnden Gefühl ein Teil der Energie der Strömungen in sie überging, während sie sie sanft in die andere Welt trugen. Sei seufzte genüsslich. Wie schön es wäre, Ewigkeiten in den Strömungen zu treiben.

    Nibroc

    Lord Nibroc stand, verborgen im Schatten einer Säule, am großen Durchgang zu König Sakulls Speisesaal. Dieser ließ sich schwer auf einen Stuhl sinken. Der Lord hörte ihn seufzen, als würde er sagen, dass seine Arbeit eine harte sei. Doch was tat der König schon? Sein Alltag bestand einzig und allein darin zu faulenzen, seine Untergebenen hinzurichten, gelangweilt den Berichten seiner Spione zu lauschen, die er mit dem Leben ihrer Familien bestach, eine Fleischkeule nach der andern in seinen Mund zu befördern und seinen Hofstaat zu tyrannisieren.

    So auch Lord Nibroc. Doch dieser schätzte sich glücklich, dass er dem Herrscher lediglich als Genugtuung diente und nicht als wirkliches Opfer seiner tyrannischen Taten.

    Der König musste hungrig sein, denn er strich über seinen Bauch und nahm sich eine Keule, aus der er ein gewaltiges Stück herausbiss. Noch mit gefülltem Mund brüllte er durch den Saal, sodass der Lord es noch am Ende des Ganges hören konnte: „Nibroc!" Fleischstücke flogen durch die Luft und landeten auf dem glänzenden Boden.

    Sakull widerte Nibroc an, doch er seufzte und lief eilig in den Raum. Was sollte er auch anderes tun? Heute sollte er es sein, der Opfer von Sakulls großen Launen wurde. Dabei reichten ihm die kleinen bereits zur Genüge und ließen ihn einige Tage an seinen

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