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Kalaipa - Die Jack Schilt Saga
Kalaipa - Die Jack Schilt Saga
Kalaipa - Die Jack Schilt Saga
eBook569 Seiten7 Stunden

Kalaipa - Die Jack Schilt Saga

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Über dieses E-Book

"Um Zeit als Dimension zu begreifen, musst du außerhalb eines Körpers existieren können", wiederholte der Sentry. "Ich sagte bereits, dir steht eine unberührte Welt offen, eine Welt voller ungeahnter Möglichkeiten. Lass dir diese einzigartige Chance nicht entgehen!"

Nichts ist unberechenbarer als eine Expedition durch Raum und Zeit. Diese Erfahrung muss auch Jack Schilt machen, der seiner Heimat Gondwana den Rücken kehrt und sich auf eine mehrjährige Reise durch das Weltall begibt. Nicht alles läuft jedoch nach Plan. Aus mysteriösen Gründen kommt sein Raumgleiter vom Kurs ab und zerschellt auf Kalaipa. Jack überlebt schwer verletzt und findet sich in einer rätselhaften Welt wieder, die zwar vage an zuhause erinnert, aber dennoch komplett anders tickt.

Bald verdichten sich die Hinweise, nicht grundlos auf Kalaipa gestrandet zu sein… doch was wird von ihm erwartet? Und welches dunkle Geheimnis verbirgt sich in den tiefen Minenschächten? Existiert dort tatsächlich der sagenhafte Zugang in eine Parallelwelt, an der nicht nur die Toorags so interessiert sind?

Infiziert mit einem heimtückischen Virus steht Jack vor einer schwerwiegenden Entscheidung, welche unweigerlich die Frage aufwirft, ab wann der Preis für das eigene Überleben zu hoch wird…
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum2. Juni 2020
ISBN9783752900828
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    Buchvorschau

    Kalaipa - Die Jack Schilt Saga - Michael Thiele

    1

    Orbit

    Wir flogen… wir flogen wirklich!

      Natürlich, das war ja genau das gewesen, was wir beabsichtigt hatten. Dennoch, ein kleiner uneinsichtiger Teil in mir erwies sich als überaus hartnäckig. Das konnte nicht gutgehen, mit diesem atemberaubendem Tempo, einer Geschwindigkeit, die mir das Blut in die Füße zerrte, wo es, wie es sich anfühlte, auch für immer bleiben wollte, gen Himmel zu rasen. Auf meiner Brust baute sich mit jeder Sekunde mehr und mehr Druck auf, als legte sich tonnenschweres Gewicht darauf, mit dem Ziel, Rippen und Rückgrat zu einer Einheit zu verschmelzen. Für atemberaubende Momente setzten alle Sinne aus, trübten grellweiße Schlieren die optische Wahrnehmung. Schon wünschte ich mir, das Bewusstsein zu verlieren, um diesem äußerst unangenehmen Zustand zu entfliehen… und dann war der Druck mit einem Schlag vorbei.

      „Willkommen in der Weite des Universums, hörte ich Gowindis Stimme aus dem Kommunikator dröhnen. „Wir haben soeben die Thermosphäre Gondwanas verlassen. Wie fühlt es sich für dich an? Ebenso befreiend wie für mich?

    Thermosphäre?

    Ich wagte einen Seitenblick auf den kleinen Toorag, wobei mich im selben Moment unwiderstehliche Übelkeit packte. Angst mich zu übergeben musste ich nicht haben. Der Magen war leer, dennoch hatte ich das Gefühl, er stülpte sich soeben um, drauf und dran, auf Biegen und Brechen irgendetwas ans Tageslicht zu befördern.

      „Okay, ich sehe schon, du bist augenblicklich schwer mit dir selbst beschäftigt." Lag da Schadenfreude in seiner Stimme? Würde zu ihm passen. Egal, ich wollte nur noch eins: dass es aufhörte. Einfach nur aufhörte.

      „Gowindi…, stöhnte ich. „Mach, dass es aufhört…

      „Keine Panik, Freund Jack, das wird es. Ganz von selbst. Immerhin sind wir mit annähernd fünf Meilen pro Sekunde gestartet. Für einen Menschen hältst du dich ganz tapfer."

      „Wie lange…?" jammerte ich.

      „Nicht mehr lange. Wir bleiben noch einige Zeit auf einer Parkorbitalbahn, damit du dich umgewöhnst."

      „Oh nein, bitte nicht! flehte ich. „Können wir nicht gleich in die kryptische Kapsel? Ich war überzeugt, keine Sekunde länger aushalten zu können, befürchtete in der Tat, den eigenen Magen oder am Ende noch einiges mehr hoch zu würgen.

      „Aber das haben wir doch besprochen! Nein, dein Körper muss sich erst an die neuen Verhältnisse anpassen, bevor wir die nächste Phase angehen können. Schon vergessen?"

      „Wie lange…?" klagte ich erneut.

      „Bis du dich wieder wohlfühlst. Du musst entspannen, darfst dich nicht wehren, bleib ganz locker!"

      Wogegen, verdammt nochmal, glaubte er, würde ich mich soeben wehren? Mein Verdauungsorgan auszukotzen? Darauf durfte er getrost wetten! Entspannen? Beinahe hätte ich gelacht. Nie wieder würde ich entspannen,

    davon war ich absolut überzeugt. Ergeben schloss ich die Augen und begann verzweifelt zu schlucken, um den rebellierenden Magen an Ort und Stelle zu halten.

      „Gut so. Mach die Augen zu! Denk einfach an nichts. Es wird besser, das verspreche ich dir."

      Ich nickte schwach, glaubte dem verlogenen Toorag kein einziges Wort.

    Stunden schienen vergangen zu sein, bis sich Linderung einstellte. Anfangs

    hatte ich Schwierigkeiten, nur die Augen offenzuhalten, doch kehrte allmählich neue Stärke in meinen gebeutelten Körper zurück. Alle Organe waren offensichtlich an ihre angestammten Plätze zurückgekehrt, ein wohltuendes Gefühl der Leichtigkeit übernahm zögerlich. Das machte Mut. War ich etwa wirklich dabei, mich an die neuen Umstände zu gewöhnen?

      „Ja, das wird langsam was." Gowindi sah mir prüfend in die Augen.

      Ich lächelte schwach. „Wie viele Tage sind wir schon im Orbit?"

      Toorags können nicht grinsen, doch hätte ich schwören mögen, in diesem Moment ein besonders breites auf seinen krötenähnlichen Zügen zu sehen.

      „Tage? Fröhlich warf er einen Blick auf die in allen Farben blinkenden Messinstrumente. Unwichtige Einzelheiten, die mir erst jetzt auffielen. Oh ja, ich war wirklich auf dem Weg der Besserung! „Wir haben soeben die erste  Umkreisung beendet, sind also noch nicht einmal zwei Stunden im Orbit. Wünschst du eine exakte Zeitangabe? Sein wie immer emotionsloses Gesicht flackerte im laubfroschgrünen Widerschein zuckender Konsolendioden.

      „Verschone mich!" Zum ersten Mal richtete ich meinen in sich zusammengesunkenen Körper auf und reckte den Hals, um einen Blick nach draußen zu erhaschen.

      „Sehr gut, du zeigst bereits Interesse für deine Umgebung, kommentierte Gowindi. „Warte, ich mache es dir ein wenig leichter. Was auch immer er tat, innerhalb von wenigen Sekunden löste sich ein Teil der Außenhaut des Raumgleiters in Nichts auf, hatte ich plötzlich nach allen Seiten unbehinderte Sicht hinaus in die grenzenlose Weite des Universums. Es verschlug mir den Atem.

      „Was hast du getan?" Der panische Unterton in meiner Stimme ließ Gowindi aufhorchen.

      „Keine Bange, ich habe einzig und allein die Thermalabdeckung hochgefahren, damit du besser sehen kannst. Imposant, oder?"

      Ich nickte stumm, völlig ergriffen von den unbeschreiblichen Eindrücken. Tatsächlich befand ich mich nicht mehr auf Gondwana, auf meinem Heimatplaneten, welchen ich bis dato noch nie verlassen hatte. Unter uns breitete er sich aus, ein immens riesiges, türkisfarbenes Gebilde, über und über von fantastisch geformten Wolkenbändern durchzogen. „Ist das tatsächlich Gondwana?"

      Gowindi nickte. „Ja, natürlich. Du solltest mal blinzeln, damit deine Augen

    nicht austrocknen."

      Ich bekam die Lider in der Tat nicht mehr geschlossen, konnte mich einfach nicht sattsehen an der gigantischen Sphäre, deren Ränder sich so scharf und deutlich von der allumfassenden Schwärze des Raums abzeichneten. Was hatte die Natur veranlasst, so etwas grenzenlos Unbegreifliches zu erschaffen? Eine durch das All rasende Kugel, in deren Innern auf welch mysteriöse Weise auch immer Leben entstanden war! Und nicht nur hier. Lebensinseln wie diese existierten, soweit ich wusste, zu Tausenden überall in der Galaxis, deren wahre Größe jenseits aller Vorstellungskraft lag.

      „Dein Mund steht offen", bemerkte Gowindi nüchtern.

      Ich sah ihn überwältigt an. „Hast du je etwas Schöneres gesehen? Sieh doch nur!"

      Das künstliche Glucksen in seiner Stimme sollte wohl Sympathie bekunden. „Man gewöhnt sich daran. Schade, dass du niemals Rantao aus dem Orbit sehen wirst. DAS muss ein Anblick sein! Gondwana ist ein Winzling im Vergleich zu Rantao. Der stolze Unterton beim bloßen Erwähnen des eigenen Heimatplaneten ließ sich schwer überhören, auch wenn Gowindi noch nie dort gewesen war. Seine Rasse stammte zwar von Rantao, er selbst allerdings hatte das Licht der Welt auf Gondwana erblickt. „Rantao hat die Größe eines Braunen Zwergs, ist damit also massereicher als Tauri, der größte Planet des Xyn-Systems.

      „Ja, ein deutlich zu groß geratener Schneeball, konterte ich. „Warte nur, bis du dort bist, dann wirst du dich nach der Beschaulichkeit Gondwanas zurücksehnen.

      „Ah, da scheint es jemandem besser zu gehen, wenn er schon wieder lästern kann."

      „Kam das als Scherz rüber? Tut mir leid, so war das nicht beabsichtigt. Jetzt guck‘ nicht so beleidigt! Sag lieber, wie es weitergehen wird!" Natürlich war Gowindi nicht eingeschnappt. Ich glaube, man kann einen Toorag überhaupt nicht kränken, so wie man einem Stein keine Schmerzen zufügen kann. Insofern beneidete ich die Toorags um diese spezielle Art der Unverletzlichkeit.

      „Wir verbleiben noch eine gute Weile im Parkorbit, bis unsere Körperfunktionen die erforderlichen Parameter aufweisen und gehen danach

    allmählich auf eine Fluchtbahn, von der aus ich den Kurs nach Sahul programmieren werde. Dann legen wir uns für die nächsten zwei Jahre

    schlafen, Freund Jack."

      Es sollte also Realität werden. Zwei Jahre schlafen! Nun ja, kein ordinärer Schlaf, wohlgemerkt! Wenig Ahnung hatte ich, was es bedeutete, in einer kryonischen Hülse mittels eines Cocktails aus chemischen Substanzen, der sogenannten kryonischen Wolke, bis ins Knochenmark eingefroren zu werden. Meine Vorstellungen von mehrjährigem Schlaf waren eher romantischer Natur. Diesen Zahn sollte ich bald gezogen bekommen.

      „Dann wird es jetzt wirklich wahr", flüsterte ich in Gedanken versunken, immer noch ergriffen vom Anblick des zum Greifen nahe und doch so unerreichbar weit entfernten Heimatplaneten.

      „Hast du daran gezweifelt?"

      „Bis eben schon, gab ich unumwunden zu. „Ich kann es mir noch gar nicht richtig vorstellen. Zwei Jahre Zwangsschlaf. Wie wird sich das anfühlen?

      „Auch nicht anders als normaler Schlaf. Nur tiefer. Ob du eine Nacht tief und fest durchschläfst oder ein Jahr, spielt keine Rolle. Du wirst einschlafen und wieder aufwachen. Nur eben nicht am nächsten Morgen sondern gute sechshundert Morgen später."

      „Unvorstellbar!" Bekam ich Schiss vor der eigenen Courage?

      „Findest du? Das Tollste daran kommt erst noch: du legst dich hin, schlummerst weg und wachst zwei Jahre später wieder auf, ohne einen Tag gealtert zu sein. Genial, oder?"

      „Wenn alles klappt, ja", erwiderte ich skeptisch.

      „Was soll denn nicht klappen?"

      „Du hast Nerven! Der Gleiter wird zwei Jahre ohne jeden Piloten mit irrsinniger Geschwindigkeit durch den Raum rasen. Zwei Jahre lang! Ich kann mir hundert Dinge vorstellen, die in diesem Zeitraum passieren könnten, ach was, tausend!"

      „Ach ja? Welche?"

      Ich sah Gowindi wie einen Schwachsinnigen an. „Wie viele Asteroiden werden wir in dieser Zeit passieren? Wie viele Meteoriten werden unsere Flugbahn kreuzen?"

      „Zehntausend, wenn nicht mehr", kam sogleich die völlig gelassene Antwort.

      „Na siehst du! Die Gefahr, mit einem davon zu kollidieren, ist doch immens! Vielleicht rammen wir den ersten schon zehn Minuten, nachdem wir

    eingepennt sind."

      „Möglich ist alles, erwiderte Gowindi. „Ausschließen kann man nichts, da hast du ganz recht. Allerdings können wir uns felsenfest auf die Bordsysteme verlassen. Die kriegen uns durch jeden Meteoritenschwarm durch, keine Sorge. Und wenn nicht, bekommen wir sowieso nichts davon mit. Sollten wir mit 0,5 c gegen einen interstellaren Körper prallen, träumen wir einfach weiter bis in alle Ewigkeit.

      „Sehr beruhigend, murmelte ich. „Was, bitteschön, ist 0,5 c?

      „Ich dachte, ich käme dir mit humanspezifischer Terminologie entgegen. Mein Fehler. Du bist einfach zu ungebildet, um mich zu verstehen. Mein drohender Blick amüsierte den Toorag nur noch mehr. „Kein Grund, auf mich einschlagen zu wollen, Freund Jack! 0,5 c bedeutet nichts anderes als halbe Lichtgeschwindigkeit. Sahul liegt gut ein Lichtjahr von Gondwana entfernt. Wenn wir mit 0,5 c reisen, erreichen wir den Planeten in zwei Jahren. Deswegen müssen wir auch zwei Jahre schlafen. Logisch?

      „Umwerfend logisch." Ich gab es auf. Natürlich konnte mir Gowindi keine Garantie geben, lebend am Ziel anzukommen. Hatte er nicht schon einmal gesagt, die einzige Garantie im Leben wäre der Tod? Insofern gingen wir also kein Risiko ein. Der Tod erwartete uns irgendwann und irgendwo allemal. Reduzierte man das Leben lediglich auf seine Erfüllung und ließ den Zeitraum zwischen Anfang und Ende außer Betracht, existierte plötzlich keine Angst mehr. Dennoch erschien es mir etwas zu banal, den Sinn meiner Existenz nur in seinem Ende zu sehen. Das mochte vielleicht Philosophen in Ekstase versetzen, mir rang es augenblicklich nur müdes Lächeln ab. Nein, ich hatte noch einiges vor. Deswegen traten wir ja auch die Reise nach Sahul an.

      „Nun, da du dich offenbar ganz gut akklimatisiert hast, können wir allmählich die nächste Phase einleiten." Gowindi wurde sehr geschäftig und begann an allen möglichen Tasten und Hebeln herumzuspielen. Eine Lichtorgie in sämtlichen Spektralfarben explodierte auf der Bedienkonsole, untermalt mit akustischen Signalen, die nach Singvögeln auf einem dramatischen Drogentrip klangen.

      „Das bedeutet?" erkundigte ich mich.

      „Wir steigen jetzt gemächlich höher, bis wir eine geeignete Fluchtbahn erreichen. Von dort aus programmiere ich unsere Weiterreise. Danach wird

    geschlafen."

      „Und dann?" Er hatte es mir zwar schon mehrmals erklärt, doch einmal mehr konnte nicht schaden. Gowindi gab auch geduldig Auskunft.

      „Wenn wir tief und fest im Kälteschlaf liegen, übernehmen die Bordsysteme die Kontrolle. Dann geht es richtig los. Der Gleiter wird binnen kurzem auf 0,5 c beschleunigen."

      „Können wir nicht noch etwas länger wachbleiben? Würde mich interessieren, wie es sich anfühlt, mit dieser irrsinnigen Geschwindigkeit durchs All zu rasen."

      Gowindi bedachte mich mit geringschätzigem Blick. „Du bist schon beim Flug in den Orbit um ein Haar weggetreten. Was meinst du, was dich erwartet, wenn der Gleiter voll beschleunigt und du dich nicht in solidem Tiefschlaf befindest?"

      Ich sah ihn direkt an. „Ist es das, was ich denke?"

      „Schlimmer. Und jetzt lehn dich zurück und lass mich machen, sonst hängen wir hier noch länger untätig herum."

      Wenig sprach dagegen, noch länger untätig „herumzuhängen". Viele weitere Stunden hätte ich ohne zu murren damit zugebracht, Gondwana aus dem All zu betrachten. Vielleicht sogar Tage. So ließ ich Gowindi hantieren und konzentrierte mich auf den Ausblick, solange er mir noch vergönnt war. In der Tat entfernten wir uns zügig von Gondwana, stiegen höher und höher, ohne uns jedoch aus dem Orbit des Planeten zu lösen. Gowindi gab völlig vertieft in seiner wenig nachvollziehbaren Tätigkeit lange Zeit keinen Ton von sich. Im Innern des Gleiters herrschte abgesehen vom Widerklang huschender Tooragfinger über klappernder Tastatur, elektronischer Fieplaute und hin und wieder wellenförmig auf- und absteigender Summtöne wohlige Stille. Als die Augen plötzlich zufielen und ich sie nur mit Mühe aufbekam, zerriss meine aufgeregte Stimme endlich die heilige Ruhe.

      „Was geht hier ab? Eben war ich noch keine Spur müde und nun fallen mir die Augen zu!"

      „Nur die Ruhe, ein kleines Sedativ, um dich einzustimmen", gab Gowindi zur Antwort.

      „Konntest du mich nicht darauf vorbereiten?" rief ich vorwurfsvoll. „Wie hast

    du es mir überhaupt verabreicht?"

      „Über die Oxygenversorgung natürlich. Was dachtest du denn? Ich will verhindern, dass du in Panik gerätst, wenn dich nachher die kryonische Kapsel

    umschließt."

      Ich wollte protestieren, doch gelang es mir nicht einmal mehr, den Mund zu öffnen. Angenehme Gelassenheit kam über mich. Mochte kommen was wollte, es war mir mächtig egal, solange ich nicht den Blickkontakt zu meinem geliebten Gondwana verlor. Doch auch das wurde mir relativ schnell schnuppe. Irgendwann bemerkte ich, mich in der Horizontalen zu befinden und nur noch blind nach oben zu gaffen. Irgendwie musste sich mein Sitz in eine Liege verwandelt haben. Nur wie? Diesen Gedanken weiterzuverfolgen, erschien noch mühseliger.

      „Braver Junge, Freund Jack. Gowindi erhob sich. Mit überraschend geübten Handgriffen schälte er mich, der ich reglos dalag, aus dem schneeweißen Schutzanzug. „Keine Angst, ich gehe dir nicht an die Wäsche, auch wenn ich dir jetzt an die Wäsche gehe. Wieder dieses alberne Glucksen, das mich wohl belustigen sollte. Erst als ich splitterfasernackt vor ihm lag – was mich überraschend wenig berührte – ließ er von mir ab und nickte zufrieden. „Unter normalen Umständen hättest du es mir wohl etwas schwerer gemacht, hab ich recht? Du guckst wie ein gesättigter Säugling, weißt du das? So, jetzt bring ich dich ins Bettchen."

      Ich bekam alles mit, fühlte mich aber zu keiner Reaktion fähig. Auch als sich die Liege mechanisch ächzend wieder in einen Sitz verwandelte, die von oben herabschwebende Glashülse surrend meinen Körper vom Kopf abwärts bis hinunter zu den Füßen umschloss und mit einem saugenden Geräusch zum Stillstand kam, konnte ich nicht einmal mit den Zehen wackeln. Wollten wir im Sitzen schlafen? Und wieso völlig nackt?

      „Ja, wir werden im Sitzen schlafen, Jack. Nackt deswegen, weil jede Art Stoff auf deinem Leib den Defrostprozess nachteilig beeinflusst. Außerdem möchtest du sicherlich nach dem Aufwachen in etwas Warmes, Trockenes schlüpfen. Seit wann konnte meine Krötenfresse Gedanken lesen? „Tja, Freund Jack, das war’s dann für die nächste Zeit. Wir sprechen uns in zwei Jahren wieder. Träum was Schönes!

      Meine trägen Augen folgten Gowindis weiteren Aktivitäten nur mühevoll, doch wollte ich unbedingt wissen, wie es weiterging, bevor alle Sinne für die

    nächsten zwanzig Monate Urlaub machten. Es sollte nun auch nicht mehr lange dauern. Der kleine Toorag machte sich noch kurze Zeit an der Konsole zu schaffen, legte anschließend ebenfalls den Raumanzug ab und ließ sich von

    seiner eigenen Glaskapsel umfassen. Es sah albern aus, wie er so dasaß, noch einmal herübersah und winkte. Einen Lidschlag später hörte ich aggressives Zischen über mir, als fielen Dutzende aufgebrachter Vipern auf meinen Kopf herab. Bevor ich auch nur daran denken konnte, nach oben zu blicken, setzte jegliche Wahrnehmung aus.

      Die Lichter waren ausgegangen.

      Nicht einen Augenblick war mir kalt geworden.

      Leb wohl, Gondwana!

    2

    Kontakt

    Ich war immer alleine gewesen. Seit ich denken konnte, war ich alleine gewesen. Zwar hatte ich sowohl Mutter als auch Vater und es fehlte mir im Grunde an nichts – dennoch fühlte ich mich stets verlassen. Von Anfang an.

      Schwer zu sagen, was jemandem fehlt, wenn man es an nichts festmachen kann und doch trotzdem tief in sich diesen beißenden Mangel spürt. Anfangs war es nicht greifbar, nur ein unterbewusst nagendes, defizitäres Gefühl. Ich litt weder Hunger noch Durst, erhielt (wie ich annahm) ausreichend Nestwärme von meiner Mutter Jezzie und (wie ich ebenfalls annahm) genügend Zuwendung seitens meines Vaters. Es gab sogar noch eine Tante namens Ylvie, die Zwillingsschwester des Vaters, und einige weitere Siedler in unserem winzigen Dorf, die für mich da waren.

      Eigentlich alles in bester Ordnung.

      Doch irgendetwas fehlte.

      Irgendetwas war nicht normal, was auch immer dieses Wort bedeuten mochte.

      Eines Tages fand ich es heraus.

      Ich war das einzige Kind in der Welt, in der ich lebte.

    Auf Evu existierten zwei Siedlungen, die gegensätzlicher nicht hätten sein können. Eine wurde von Menschen bewohnt, die andere von Toorags. Toorags, so hatte ich von klein auf gelernt, stammten von Rantao, einem weit entfernten Eisplaneten. Wenig Ahnung hatte ich davon, wo genau dieses Rantao lag und warum sich Vertreter jener sonderbar aussehenden Spezies auf unserer Insel befanden. Es interessierte anfangs auch nicht besonders. Mein frühes Weltbild durfte man getrost als anthropozentrisch bezeichnen. Erst nach und nach sah ich mich gezwungen, meinen Standpunkt zu überdenken. Die Anwesenheit einer anderen Spezies – einer außerirdischen noch dazu – ließ sich nicht ewig ignorieren. Zumal mir, wenn auch erst später, eine verwirrend unangenehme Tatsache zuteilwurde: auch der Mensch stammte nicht von Gondwana. Wir waren also ebenfalls Fremdlinge, Außerirdische. Dieser gemeinsame Nenner brachte mir die Toorags zum ersten Mal näher.

      Zu nahe, wie ich noch erfahren sollte.

      Niemand außer mir hatte einen Toorag zum Freund, insofern stellte ich eine Besonderheit dar. Mich überhaupt mit einem abzugeben, deklassierte meine Person in den Augen meiner Mitmenschen. Viele gab es ohnehin nicht, was im Großen und Ganzen das Dilemma umschreiben dürfte, in welchem ich damals steckte. Auf Evu, der kleinen Insel am südwestlichen Rand des verbotenen Großkontinents Gondwanaland, lebten nur wenige Menschen. Da es abgesehen von mir keine weiteren Kinder gab, spürte ich lediglich die Ablehnung der Erwachsenen. Keine Ahnung, wie vernichtend ihr Urteil ausgefallen wäre, hätte es noch andere Kinder gegeben. Gowindi wäre dann aller Wahrscheinlichkeit nie zu einem Freund geworden. Ich durfte in dieser Richtung allerdings nicht wählerisch sein, das Sortiment war relativ überschaubar. Es gab keine Gleichaltrigen, mit denen ich hätte spielen oder Abenteuer erleben können. So etwas wie Haustiere, an die man das Herz vielleicht hätte verlieren mögen, gab es ebenso wenig. In meiner Situation fragte man also nicht lange: man nahm, was sich bot. Zum besten Freund wählte ich daher etwas nicht unbedingt Alltägliches: einen Außerirdischen. So jedenfalls bezeichneten ihn die wenigen Menschen, die außer mir auf Gondwana ihr Dasein fristeten. Das heißt, wenn sie guter Laune waren.

      Mein kleinwüchsiger Kamerad war nicht gerne gesehen. Bestenfalls begegnete

    man ihm mit Gleichgültigkeit, was mir auf die Dauer am besten gefiel. So ließ man uns wenigstens in Ruhe. Zuweilen jedoch reagierte meine Umwelt mit Ablehnung, dann fielen schon mal Begriffe wie „Rattengeburt, „Biochemischer Abfall, „Amöbenfratze oder, was mir am ehesten noch zusagte, „Krötenfresse. Vielleicht, weil letzteres am treffendsten war: mein Freund Gowindi erinnerte in der Tat an eine viel zu groß geratene Unke. Jedenfalls was sein Gesicht betraf. Irgendwann gewöhnt man sich an alles, auch an die Fratze eines Außerirdischen. Toorags sind, menschliche Maßstäbe angelegt, sicherlich keine liebreizenden Wesen. Doch wie gesagt, wenn erst genügend Zeit verstrichen ist, findet man sogar so etwas wie Attraktivität in den Zügen eines Aliens. 

      Toorags sah man im Allgemeinen nur selten, ihre abgeschirmte Siedlung lag am südwestlichen Ende Evus, so weit wie nur irgend möglich weg von unserer. Menschen siedelten ausschließlich im Norden der Insel, am subtropischen Golfstrom, dort, wo das tiefblaue, angenehm temperierte Wasser der Tethys jahrein jahraus für behagliches Klima sorgt. Klar, dass die Toorags tief im Süden Evus lebten, jenseits der gemäßigten Zone, in den bereits subpolaren Breiten. Ihre allseits bekannte Vorliebe für Kälte, eine für mich fremdartige Eigenschaft, trug nicht wesentlich dazu bei, sie kennenlernen oder gar verstehen zu wollen. Hin und wieder sah man sie dann doch, wenn sie in der Nähe unseres Dorfes „patrouillierten, wie Vater es immer nannte. Dieses Verb brannte sich in mein Gedächtnis als Synonym für „heimlich dahinschleichen oder „im Geheimen agieren" ein, auch wenn sie sich keinesfalls so benahmen.

      Ihre zeitweilige Anwesenheit beschäftigte meine Mitmenschen relativ wenig. Mich dafür umso mehr. In meinen Augen waren sie so exotisch wie Moas, eine seltene, auf Evu vorkommende Laufvogelart, die ich noch weniger zu Gesicht bekam. Erst spät bekam ich mit, wozu die Toorags auf Evu stationiert worden waren: zum Schutz der Menschen. Von diesem Moment an interessierte ich mich brennend für sie. Der Wunsch, mit ihnen in Kontakt zu treten, so unangebracht er auch sein durfte, ließ mich fortan nicht mehr los.

      So lernte ich eines Tages Gowindi kennen, dessen unverhohlene, in den Augen seiner Sippe wahrscheinlich ebenso abartige, Begeisterung für homo sapiens dazu führte, dass wir einander begegnen mussten.

      Normalerweise gingen sich Menschen und Toorags aus dem Weg. Zufällige Begegnungen fanden ein schnelles Ende, man vermied einander so gut es ging.

    Gowindi stellte eine Ausnahme dar. Zuweilen hatte ich mir einen Spaß daraus gemacht, schnurgerade auf einen Toorag zuzumarschieren, wenn ich denn einmal einen sah. Üblicherweise zogen sie sich eilends zurück, als jagte ich ihnen Angst ein.

      Nicht so Gowindi. Er blieb wie angewurzelt stehen und wartete ab. Noch niemals zuvor war ich einem Toorag so nahe gekommen und bekam zum ersten Mal aus nächster Nähe mit, wie sie eigentlich aussahen.

      Der erste genauere Eindruck sagte mir wenig zu. Ihre pechschwarzen, lidlosen Augen stießen mich ab, sie wirkten leblos, tot. Die knöchernen, grünlich schimmernden Wülste, welche sie wie ein Wall umgaben, trugen auch nicht sonderlich dazu bei, Vertrauen zu fassen. Zudem flatterte in unheimlicher Regelmäßigkeit ein grauer Schatten über die tief in den Höhlen sitzenden Augäpfel, eine Nickhaut, ähnlich wie bei Moas. Allein ihre menschenähnliche Gestalt half dabei, nicht wieder den Rückwärtsgang einzulegen. Auch die Tatsache, dass sie Kleidung trugen (wenn man die schlichte dunkle Kutte so bezeichnen mochte), hatte etwas zart Vertrauenserweckendes an sich.

      Beherzt wagte ich den ersten Schritt. Einfach umkehren konnte und wollte ich nicht. „Hallo, krächzte ich also, räusperte mich und legte sogleich mit festerer Stimme nach: „Wie heißt du?

      Keine Reaktion. Lediglich eine flache Hautpartie, welche von der nicht vorhandenen Nase bis hinunter zur Lippe reichte, bewegte sich sacht  im – wie ich annahm – Takt der nicht hörbaren Atemzüge.

      „Kannst du nicht sprechen?" fragte ich kühner. Nein, konnte er nicht. Wusste ich zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht. Er schien mich jedoch zu verstehen, denn als er kaum merklich den Kopf schüttelte, war klar, was er mitteilen wollte.

      Das Objekt meines Forschungstriebs, der halbwüchsige Toorag, reichte mir bis zum Hals, ich war also einen ganzen Kopf größer. So konnte ich die tiefen, kreisförmigen Einkerbungen, welche sich auf der Oberseite seines haarlosen Schädels wanden, besonders gut erkennen. Als wäre er irgendwann mit einer riesigen Stanze in Kontakt gekommen. Gruselig. Ich ließ mir allerdings nicht anmerken, wie ausgesprochen hässlich er mir vorkam.

      „Du sprichst also nicht, stellte ich daher einigermaßen frustriert fest. „Aber du kapierst, was ich sage, ja?

      Da hob er einen spindeldürren Zeigefinger und hielt ihn mir knapp unter die

    Nase. Ich erschrak entsprechend, zuckte jedoch nur kurz zurück. Einen winzigen Moment legte sich der Finger auf meine Lippen, begleitet von erneutem Kopfschütteln. Die unerwartete Berührung ließ mich erschauern, doch mutete sie zu keiner Zeit unangenehm an.

      „Du sprichst also nicht mit dem Mund? bemerkte ich folgerichtig. Jetzt nickte das Wesen. Okay, es verstand mich in der Tat. Mein Herz schlug schneller. Die Tatsache, mit einem waschechten Toorag in Kontakt getreten zu sein, der zudem auch noch mitbekam, was ich von ihm wollte, erfüllte mich mit heller Aufregung. „Womit dann?

      Flugs tippte sich der Toorag mit dem Zeigefinger gegen die Stirn.

      „Du sprichst mit deinem Kopf?" Es klang idiotisch.

      Da ging er in die Knie und begann mit Hilfe seiner mageren Finger (nur vier pro Hand, wie ich aufmerksam registrierte) etwas in den Sand zu zeichnen. Buchstaben! Er konnte schreiben! Und das in meiner Sprache! Mein Respekt wuchs.

      „Morgen…", las ich.

      Der Toorag nickte heftig. Zum ersten Mal sah ich ihn den Kopf ordentlich bewegen. Eindeutig kopierte er menschliche Gesten, um sich verständlich zu machen. Mein Gesicht verzog sich anerkennend zu einem breiten Grinsen, welches er interessiert beäugte. Versuchte er etwa erneut, mich zu imitieren? Es gelang jedenfalls nicht.

      „Was ist morgen? fragte ich ihn. „Willst du mich morgen wieder hier treffen?

      Sein neuerliches Nicken fiel schon menschlicher aus, wenn auch weiterhin gekünstelt. Dann hob er die Rechte und hielt mir vier gespreizte, knochige Finger entgegen. Eine Geste des Abschieds? Im Gegenzug reichte ich ihm die Hand, welche er jedoch nicht ergriff, sondern alarmiert begutachtete.

      „Nimm sie, bitte! forderte ich ihn auf. „Nur keine Hemmungen!

      Keine Reaktion. Bevor er seine Klaue zurückziehen konnte, griff ich entschlossen zu und drückte sie sachte wie einen äußerst zerbrechlichen Gegenstand. Wie knochentrocken und kalt sich seine Pfote anfühlte! Ein Ruck ging durch den grasgrünen Körper des Toorags. Wahrscheinlich war es auch für ihn der erste direkte Kontakt mit einem Außerirdischen. Zu meiner Erleichterung ergriff er nicht die Flucht – oder schlimmer – schlug mich auf der Stelle zusammen.

      „So sagen wir auf Wiedersehen, legte ich nach. „Verstehst du?

      Für einen Moment schien er sogar den leichten Druck erwidern zu wollen, zog aber dann doch die knorrige Kralle zurück und lief eilig davon. Von hinten wirkte der hagere Körper noch fragiler.

      Ich verharrte eine ganze Weile, bevor ich nach Hause zurückkehrte. Nicht ein Wort von dem, was ich erlebt hatte, kam über meine Lippen. Mir war klar, auf wenig Gegenliebe zu stoßen, würde ich das Erlebnis teilen wollen. So sollte es vorerst ein Geheimnis bleiben.

      Anderntags kehrte ich zum vereinbarten Treffpunkt zurück, überzeugt davon, den Toorag niemals wieder zu sehen. Schon die ganze Nacht hatte ich so gut wie kein Auge zugemacht, war von einem schlafraubenden Extrem ins nächste gestürzt. Vorfreude hatte sich schleichend in Misstrauen verwandelt. Hegte das fremde Wesen am Ende einen düsteren Plan? Wollte es mir vielleicht Böses? Die Skala meiner Befürchtungen wäre der ideale Nährboden für düstere Alpträume gewesen, doch da ich ohnehin wenig Schlaf fand, blieb keine Zeit zum Träumen. Bei Sonnenaufgang betrachtete ich das Vorhaben wieder deutlich zuversichtlicher und fand für die albernen nächtlichen Ängste nur noch müdes Kopfschütteln.

      Entgegen aller Erwartungen sah ich den kleinen Toorag schon von weitem. Er war also doch gekommen – und erneut allein. Mein Herz klopfte mächtig vor Aufregung.

      Als wir uns gegenüberstanden, überreichte mir der Toorag ohne jede wie auch immer geartete Begrüßung ein Geschenk. Überwältigt nahm ich es in Augenschein. Ein dünnes, mehrfach ineinander verschlungenes Lederband mit Magnetverschluss. Wenig Ahnung hatte ich, was damit zu tun war und untersuchte es von allen Seiten wie das kostbare Gehäuse einer angeschwemmten Seeschnecke.

      „Vielen Dank! sagte ich endlich. Insgeheim ärgerte ich mich, nicht an Ähnliches gedacht zu haben, was die eindeutig besseren Manieren des Außerirdischen bewies. „Was ist das, mein Freund?

      Der Toorag nahm es mir vorsichtig wieder aus den Händen und wedelte damit vor meiner Nase herum. Endlich verstand ich, was er wollte: mir das Band um den Hals legen. Intuitiv schreckte ich davor zurück, ließ ihn aber machen. Mit einem leisen Klickgeräusch schnappte der Magnet zu. Das Band lag locker um

    den Hals, der kühle, bläulich schimmernde Verschluss ruhte einen Fingerbreit über meinem Brustbein. Noch immer nicht ganz überzeugt, blickte ich nach unten. Die wilden Befürchtungen der Nacht kehrten zurück. Was hatte es damit auf sich? Wieso um alles in der Welt beschenkte mich der…

      Und dann fuhr ich wie zu Tode erschrocken zusammen!

      Der vermeintliche Verschluss flackerte in dem Moment kobaltblau auf, als eine Stimme aus ihm drang. Hell und blechern. „Das ist ein Kommunikator. Freund."

      Entsetzt starrte ich auf das Teufelsding, drauf und dran, es abzureißen, bis ich endlich begriff. Aus großen Augen starrte ich den Toorag an, der völlig ungerührt vor mir stand.

      „Du kannst ja doch sprechen!"

      „Wir verfügen über unterschiedliche Kommunikationswege. Freund, kam die Antwort, nicht mehr ganz so scheppernd wie eben noch. „Meine Spezies interagiert ausschließlich visuell, deine dagegen akustisch-auditiv. Du kannst meine visuellen Signale nicht empfangen, ich deine akustischen jedoch sehr wohl. Freund.

      Verblüfft glotzte ich den Toorag – wahrscheinlich immer noch ziemlich dümmlich – an, bevor ich mich endlich wieder unter Kontrolle hatte und die soeben übertragenen Informationen auszuwerten in der Lage sah.

      „Wieso kann ich deine visuellen Signale nicht verstehen?"

      Die Antwort kam umgehend. „Du besitzt dafür keine Rezeptoren. Freund. Der Kommunikator verwandelt meine visuellen Reize in akustische Schwingungen, die deinen Hörsinn stimulieren."

      Okay. Wie auch immer.

      „Wie ist dein Name?" fragte ich.

      „Ich verstehe, was du meinst. Freund. Aber wir haben keine Namen."

      „Keine Namen?"

      „Nein. Freund."

      „Sag nicht immer Freund zu mir! Ich heiße Jack."

      „Bist du nicht mein Freund? Freund Jack?"

      Ich musste lächeln. „Natürlich bin ich dein Freund."

      „Das macht mich stolz. Freund. Freund Jack."

      „Und mich auch. Wahnsinnig stolz." Und das meinte ich durchaus ernst. Für

    jemanden, der noch nie von sich behaupten konnte, einen Freund gehabt zu haben, allemal. „Du hast also keinen Namen. Wie nennen dich denn deine Artgenossen, deine Leute?"

      „Meine Leute… wir haben alle keine Namen, Freund Jack."

      „Nur Jack! Sag einfach nur Jack! Dann deutete ich auf ihn. „Wenn du keinen Namen hast, werde ich dir einen geben müssen. Du brauchst einen Namen, glaube mir!

      „Ich brauche einen Namen", wiederholte der Toorag nachdenklich. Es klang nicht völlig überzeugt.

      „Ja, brauchst du. Wie soll ich dich nur nennen? Warte, mir fällt schon was ein."

      Der Toorag legte den Kopf einen Tick zur Seite. Seine schwarzen Augen funkelten im Sonnenlicht. Womöglich versuchte er weiterhin unbewusst, auf visuelle Weise mit mir zu ‚interagieren‘.

      „Du willst mich nennen, Freund Jack?" kam es dann zögerlich aus dem Kommunikator.

      Ich grinste. Grammatikalisch nicht korrekt, aber egal. „Ja, ich will dich ‚nennen‘. Hast du Eltern? Geschwister?"

      Der Toorag nickte. Es wirkte bedeutend glaubhafter als noch am gestrigen Tag. Er hatte wohl heimlich geübt.

      „Gut. Wie nennt dich deine Mutter? Du musst doch irgendeinen Kosenamen haben? Jeder Mensch hat einen Kosenamen!" Nur dass ich keinen Menschen vor mir hatte, was mir in diesem Moment allerdings komplett entging.

      „Kosenamen…" Ziemlich verloren kam das Wort aus dem Kommunikator gekrochen. Ich verwirrte den Armen völlig.

      „Okay, kürzen wir das ab. Du weißt jetzt meinen Namen. Ich heiße Jack."

      „Jack. Freund." Und er deutete auf mich.

      „Ja, genau. Ich bin Jack, dein Freund. Und du bist auch mein Freund. Du bist Toorag, mein Freund. Nur möchte ich dich nicht einfach Toorag nennen, so heißt deine ganze Sippschaft in unserer Sprache. Ich möchte dich individuell benennen, verstehst du? So wie es nur einen einzigen Jack unter den Menschen hier gibt."

      „Nur einen einzigen Jack. Freund Jack."

      „Richtig. Nur einen." Erst jetzt ging mir richtig auf, welch unmögliche Sache ich von ihm verlangte. Es war so, als wollte ich einem Blinden Farben erklären

    (dieser denkwürdige Vergleich sollte mich Jahre später auf ganz andere Weise wieder einholen). Wenn Toorags nur über die Augen kommunizierten, existierte so etwas wie Sprache für sie logischerweise nicht. Sein Geschenk, der Kommunikator, verwandelte demnach Bilder in akustische Signale, die ich aufzunehmen in der Lage war. Und es funktionierte ganz offensichtlich auch umgekehrt. Meine gesprochenen Worte transformierte er in Bilder, eben jene visuellen Signale, die ein Toorag verstehen konnte. Wie fantastisch war das denn?

      „Mir wird schon noch ein passender Name für dich einfallen." Ich beschloss, es nicht überstürzen zu wollen. Wieso auch? Plötzlich kam ich mir albern vor, dieser Nebensächlichkeit so viel Bedeutung beigemessen zu haben. Da machte mir ein Außerirdischer das Geschenk der Kommunikation und ich fand nichts Wichtigeres darauf zu erwidern, als ihm einen Namen verpassen zu wollen. Idiotisch!

      „Hier, probiere mal! Unvermittelt fischte mein neuer Freund ein kleines, smaragdgrün schimmerndes Gefäß aus seiner Kutte und nahm den Deckel ab. Neugierig beobachtete ich ihn. Behältnisse dieser Art (vor allem aus jenem merkwürdig glatten Material) waren mir unbekannt. Naturgemäß interessierte mich die runde Büchse voll und ganz. „Nimm ruhig!

      Vorsichtig nahm ich das Teil entgegen, als könnte ich es mit bloßer Berührung kaputtmachen und beäugte es von allen Seiten. Es fühlte sich kühl an und lag gut in der Hand.

      „Was ist das?" fragte ich.

      „Wir nennen es Otomak, erklärte der Toorag freundlich. „Ihr Menschen würdet so etwas Naschwerk nennen. Schmeckt köstlich.

      Es dauerte einen Moment bis ich begriff. Er meinte nicht das Gefäß, sondern dessen Inhalt.

    „Aus welchem Material ist es gemacht?"

      Nun war es an ihm, einen Augenblick zu stutzen. „Aus amorphem Metall." Er sah mich prüfend an, wollte wohl feststellen, ob ich verstand, was er soeben von sich gegeben hatte. Am Ende befürchtete er sogar, ich würde mir das komplette Ding in den Mund stopfen und nicht eines von den vielen daumennagelgroßen Würfelchen, die es enthielt.

      „Aha." Metall sagte mir etwas, den anderen Begriff hatte ich allerdings noch nicht gehört.

      „Probiere schon! ermunterte er mich erneut. „Sag mir, ob es dir schmeckt.

      Mit spitzen Fingern nahm ich einen von den schneeweißen Würfeln heraus und musterte ihn ausgiebig. Wollte mich der Toorag womöglich vergiften? Machte eigentlich keinen Sinn, jemandem erst einen Kommunikator auszuhändigen, um ihn dann umzubringen. Dennoch, wohl war mir bei der Sache nicht.

      „Ich will auch eins! Er hatte mein Zögern offensichtlich bemerkt und wollte mir versichern, keine bösen Absichten zu hegen. Schon verschwand ein „Otomak in seinem grasgrünen Schlund. Gleich darauf folgte wohliges Grunzen.

      Ich tat es ihm also gleich, wenn auch entsprechend zurückhaltender. Schon beim Kontakt mit der Zunge entfachte das Würfelchen ein Reaktionsfeuer auf meinen Geschmacksknospen. Und  nicht nur dort. Die komplette Mundhöhle wurde mit einem Mal in einen zuckersüßen Traum getaucht, der bis tief ins Gehirn strömte. Mit weit aufgerissenen Augen stand ich da und genoss dieses überragende Aroma in vollen Zügen. Nicht einmal eine überreife Tichina könnte auch nur annähernd eine derart intensive und doch delikate Süße liefern. Von diesem Moment an war ich hoffnungslos süchtig nach Otomak.

      „Gut?" fragte der Toorag.

      „Ausgezeichnet. Was ist das?"

      „Otomak", kam die unschuldige Antwort.

      „Ja, ist klar, aber aus was besteht es?"

      „Ihr Menschen wollt immer alles genau wissen, nicht wahr? ‚Aus welchem Material ist dies gemacht‘, ‚aus was besteht jenes‘, äffte mich der Toorag vergnügt nach. „Keine Bange, du darfst es behalten. Iss aber nicht zu viele davon, hörst du? Nicht dass dir schlecht wird und deine Mutter sich bei mir beklagen kommt.

      Ich grinste ihn an. Hätte der kleine Toorag gekonnt, würde er zurückgegrinst haben, darauf wettete ich. Verdammt schönes Gefühl, einen Freund gefunden zu haben. 

      In den folgenden Wochen trafen wir uns regelmäßig und lernten einander mehr und mehr kennen. Der Toorag hatte immer Zeit, egal welchen Tag oder welche Stunde ich vorschlug. Konnte ich einmal nicht, weil es Haushaltspflichten zu erledigen gab, Vater mich zur Jagd mitnahm oder meine

    Mutter mich unterrichtete (was glücklicherweise selten vorkam), schien es für den Toorag kein Problem darzustellen. Er richtete sich komplett nach mir. Der Kommunikator stellte dabei ein wichtiges Bindeglied dar. Er funktionierte auch in Abwesenheit meines neuen Freundes. Wollte ich mit ihm sprechen, musste ich nur in den blauen Magneten quatschen und bekam meistens sofort Antwort. Anfangs überwältigte mich diese neue, aufregende Art der Kommunikation, doch empfand ich sie schon sehr bald als etwas völlig Normales. Leider schien es nur in eine Richtung zu funktionieren. Nicht ein einziges Mal trat der Toorag von sich aus mit mir in Kontakt. Vielleicht auch ganz gut so.

      „Hast du keine Verpflichtungen bei dir zuhause?" fragte ich ihn eines Tages. Der Gedanke, er durfte den ganzen lieben langen Tag tun, was ihm beliebte, stimmte mich neidisch.

      „Nein, tönte es aus dem Kommunikator. „Ich bin noch nicht alt genug.

      Interessant. Dieses Thema hatten wir bisher noch gar nicht angeschnitten. Da er kleiner als ich war, nahm ich bisher an, er wäre auch der Jüngere. Wie sehr ich danebengelegen hatte, sollte sich jetzt herausstellen.

      „Ach so? Wie alt bist du denn? Und bevor er mir irgendeine fremdartige Zeiteinheit auftischen konnte, fügte ich noch schnell hinzu: „In Jahren, wenn ich bitten darf.

      „Siebenunddreißig Gondwanajahre, zwei Gondwanamonate und achtunddreißig Gondwanatage", kam die präzise Antwort wie aus der Pistole geschossen.

      Ich glaubte mich verhört zu haben. „Ist nicht wahr!"

      „Oh doch, Freund Jack. Hin und wieder vergaß er, mich nicht ständig ‚Freund‘ zu nennen, allerdings sah ich großzügig darüber hinweg. Mit jedem neuen Tag, den ich mit dem Toorag verbrachte, erweiterte sich mein Horizont. Was konnte besser dabei helfen, die Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, als der freundliche Kontakt zu Außerirdischen? Demnach lebten sie deutlich länger wie Menschen, was ihre überaus zeitraubende Kinderstube erklärte. Vor dem vierzigsten Lebensjahr galten sie zumindest nicht als „erwachsen, was immer dieser Begriff auch genau aussagen mochte.

      „In drei Jahren bist du dann also groß", scherzte ich.

      „Oh nein, ich werde nicht mehr größer. Ich bin bereits seit drei Jahren

    gowindi."

      Zum ersten Mal bediente der Kommunikator ein Wort, welches keinen Sinn ergab.

      „Wie bitte? Was bist du seit drei Jahren?"

      „Gowindi", wiederholte der Toorags standhaft.

      „Was soll das bedeuten? Mein Gesicht formte das berühmte einzige Fragezeichen. „Ein solches Wort gibt es in meiner Sprache nicht.

      In der Tat existierte kein gleichbedeutendes Wort, das er mir hätte erklären können, wie sich schnell herausstellen sollte. Wir waren auf ein Novum gestoßen. Es gab also visuelle Signale, die sich zwar akustisch übersetzen ließen, aber dennoch null Sinn ergaben. Wie außergewöhnlich! So etwas hatte früher oder später passieren müssen. Die Erklärung erfolgte auch sogleich: auf dem Weg zum Erwachsenendasein durchschritten Toorags demnach drei Vorstufen: Kindheit, Adoleszenz und „Gowindi", nichts anderes als ein zusätzlicher Zeitraum, in welchem der Heranwachsende den ultimativen geistigen Reifegrad erlangte. Der letzte Schliff sozusagen.

      „Ich habe zwar wenig Ahnung, wovon du da sabbelst, aber immerhin hast du jetzt deinen Namen weg!" rief ich triumphierend.

      „Ich ‚sabbele‘ und habe meinen Namen ‚weg‘!?" Bei derartigem Slang stieß augenscheinlich auch die ausgefeilte Tooragtechnik an ihre Grenzen. Unwillkürlich musste ich grinsen. Von nun an nannte ich den kleinen Toorag bei allen möglichen Gelegenheiten bei seinem neuen Namen: Gowindi. Mochte es für ihn noch so wenig Sinn ergeben.

        Um diese Zeit veränderte sich mein noch junges Leben grundlegend. Mit dem plötzlichen Tod meiner Mutter fing es an. Maligne Neoplasie, wie Vater es nannte. Ihr Zustand verschlechterte sich

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