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Deadman's Hostel: Schlecht bis ins Mark
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Deadman's Hostel: Schlecht bis ins Mark
eBook352 Seiten4 Stunden

Deadman's Hostel: Schlecht bis ins Mark

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Über dieses E-Book

"Tot oder lebendig?", lautet die erste Frage, als Sheryl erschöpft durch die Tür ins Deadman's Hostel stolpert. Eine andere Wahl hat sie nicht, als sich gut mit dem Vermieter der verlassen wirkenden Herberge zu stellen. Ganz gleich, wie merkwürdig Ace ihr auf den ersten Blick erscheinen mag, er ist ihre einzige Rettung. Doch zu welchen Bedingungen?
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum29. Mai 2021
ISBN9783753189505
Deadman's Hostel: Schlecht bis ins Mark
Autor

Daimon Legion

Geboren und aufgewachsen in Wurzen/Sachsen, verschlug es die Legion als (mehr oder weniger freie) Künstlerin nach Leipzig. Gegen alle Widerstände ist sie am Schaffen (schreiben, fotografieren, gestalten, zeichnen, malen und nähen). Ihr Interesse gilt Mythen, Legenden, Sagen und Märchen aller Art. Sie mag Feen, Kobolde, Monster, Geister, Lichtwesen und Dämonen, sowie Tiere mit Fell, Federn und Schuppen.

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    Buchvorschau

    Deadman's Hostel - Daimon Legion

    0

    Die Hitze flirrte am weiten Horizont. Vom wolkenlosen Blau des Himmels brannte eine weißgelbe Sonne herab. Sandteufel fegten über die schwarze Asphaltstraße und warme Luft füllte Sheryls Lungen, als sie einem tiefen Atemzug nahm. Die Anstrengung perlte von ihrer Stirn, doch eine Pause konnte sie sich nicht leisten.

    Weiter. Weiter …

    Wie lange war sie schon unterwegs?

    Zu lange, wenn sie ihre Füße fragte.

    Gestern Abend hatte sie ihr letztes Geld genutzt, um die heruntergekommene Absteige zu bezahlen, die sich „Paradise" nannte. Der Service bestand aus einer mit Stockflecken verzierten Matratze auf einem rostigen Gittergestell – in einem stickigen Zimmer, so groß wie ein Kleiderschrank. Die Fensterscheiben waren blind und es wimmelte von summenden Insekten, dass sie kaum ein Auge zu bekam. Mal ganz abgesehen von der Angst, die widerlichen Viecher könnten ihr irgendwie in die Ohren krabbeln.

    Kaum, dass der Tag angebrochen war, versuchte sie eine Mitfahrgelegenheit zu erwischen.

    Ein Trucker nahm sie freundlich auf; er fuhr Richtung Mexiko. Doch bereits nach ein paar Meilen griff er nach ihrem Oberschenkel. Auf ihre Abweisung reagierte er nicht, also schlug sie ihm die Nase blutig. Das Ende vom Lied: Er warf sie mitten im Nirgendwo raus. Und seitdem stapfte das Mädchen durch die Wüste Arizonas. Ohne einen Bissen im Bauch. Der klägliche Inhalt ihrer Wasserflasche im ramponierten Rucksack kochte innerhalb weniger Minuten.

    „So ein verdammter Miiiiist!", brüllte sie laut durch die einsame Stille. Ein Kaninchen huschte vor dem Geschrei davon.

    Wütend trat Sheryl gegen einen Stein, der über den heißen Teer polterte, und fluchte bei jedem Schritt: „Mist, Mist, Mist, Mist, Mist, Mist, Mist, Mist, Mist, Mist, Mist, Mist!"

    Ja, im Film sieht alles so leicht aus.

    Dort stolperte der heimatlose Held von einem Abenteuer ins nächste und das Schicksal meinte es bei Gefahrensituationen in letzter Sekunde immer gut mit ihm. Auf seinem Weg zur Selbstfindung traf er lauter coole Typen, verbrachte seine Zeit am Lagerfeuer mit schönen Gitarrenklängen und fand mitunter sogar die große Liebe. Dabei schwebte über allem der romantische Geist der Freiheit.

    Ihr eigener Road-Movie verlief ganz anders.

    Die endlose Straße gab ihren einstmals weißen Turnschuhen den Rest. Bald würde sie auf nackten Sohlen weiterlaufen müssen. Der Magen knurrte wegen des steigenden Hungers und ihre grünen Augen brannten vor Trockenheit. Mit Sicherheit war sie nicht weit von einem Sonnenstich entfernt – bei den Temperaturen schützte sie auch die abgenutzte Baseballkappe nicht mehr ausreichend. Noch dazu hatte diese verfluchte Gluthitze ihr weizenblondes Haar in ein krauses Bündel brüchigen Strohs verwandelt. Ihr ärmelloses Shirt war nass vom Schweiß und die kurzen Jeanshosen standen vor Dreck. Sheryls sonst so blasse Haut war nun rot und sie fühlte sich wie ein Steak im eigenen Saft gebraten.

    Zu allem Unglück gab es in der gnadenlosen Weite der Natur kein Zeichen von Erlösung.

    Die wenigen Fahrzeuge, die nach ihrem Rauswurf durch diese verlassene Pampa fuhren, ignorierten eiskalt ihren erhobenen Daumen und in letzter Zeit hatte sie überhaupt kein menschliches Leben mehr wahrgenommen. Kein Auto, kein noch so winziges Haus, nicht mal eine stillgelegte Tankstation. Kein psychotischer, stumpfsinniger, verwahrloster Massenmörder, den man ja laut Hollywood öfters in solchen Situationen antraf, verirrte sich in diese entlegene Gegend! Es gab rein gar nichts.

    Nur Sand, Steine, Buschwerk, Kakteen und Taranteln. Skorpione. Klapperschlangen.

    Wenn die Sonne sie nicht umbrachte, dann das Gift eines Tieres.

    Und das soll es gewesen sein?

    „Na ja, sprach sie resigniert zu sich selbst, „irgendwo immer noch besser als zu Hause, oder?

    So hatte sie jedenfalls etwas mehr von den USA gesehen als nur die überzogen spießbürgerliche Vorstadt, in der sie aufgewachsen war. Zum Beispiel Los Angeles! Davor sah sie Oakland und war tagelang durch San Francisco gewandert. Später dann trampte sie nach San Diego und Phoenix … Sheryl war die letzten Wochen ganz schön herumgereist.

    Es war sehr viel passiert.

    Leider.

    Wie es jetzt wohl in der Schule ihren Freundinnen erging? Während sie durch die Wüste taumelte, saßen die anderen Mädchen im Klassenzimmer fest und die Lehrer quälten sie mit altenglischer Literatur, öden Geschichtsdaten und Politik. Dabei dachten Jenna, Kate, Ivy und Conny an alles Mögliche – nur nicht an den Unterricht.

    … Wie spät ist es?

    Sie wusste es nicht. War die Schule für heute schon aus und alle trafen sich im angrenzenden Park?

    Sehnsüchtig seufzte Sheryl tief.

    Schulschluss im Park. Eis essen, über Klamotten, Musik und diese neue Serie aus Britannien reden, welche die Teenager wegen des coolen (und süßen) Hauptdarstellers in kurzer Zeit begeistert hatte. Lachen. Lehrer hochnehmen. Hausaufgaben diskutieren. Verliebt sein.

    Jungs.

    Sich mit Jungs verabreden.

    Sie dachte an Nick Johnson aus dem Mathekurs. Er sah so gut aus. Außerdem war er cool, witzig und klug. Alle Mädchen waren in ihn verknallt, auch sie. Und er hatte vor Kurzem erst mit ihr geredet! Sheryl mochte seine schwarzen Kräusellocken, seine kakaobraune Haut, sein Lächeln.

    Wenn alles richtig gelaufen wäre …

    In ihrer Fantasie sah sie sich selbst mit Nick auf dem Abschlussball tanzen. Als Ballkönig und Königin. Ihre Mitschüler würden ausrasten und jubeln. Ob sie ihn geheiratet hätte? Klar! Warum auch nicht? Er war schließlich ein guter Fang!

    Gemeinsam hätten sie irgendwann einen guten Job bekommen, ein schönes großes Haus gekauft, zehn Kinder in die Welt gesetzt und …

    … und es hätte noch so viel passieren können.

    Es hätte anders sein können als jetzt.

    Sheryl wäre erwachsen geworden. Alt geworden.

    Umgeben von Freunden und Familie hätte sie ein gewöhnliches, sorgenfreies langes Leben haben können. Sie würde eine Mutter und Großmutter sein, die eines Tages mit über achtzig einschlief und friedlich starb.

    Eine wehmütige Träne tropfte auf die verbrannte Erde und verflüchtigte sich zischend zu einer kleinen Dampfwolke.

    Für sie kam dieses Ideal nicht infrage – auch nicht, wenn sie geblieben wäre.

    Der Tod klopfte an ihre Tür, immer und überall.

    Sie konnte vor diesem nur wegrennen und sich niemals nach ihrem alten Leben umdrehen. Es gab kein Zurück mehr. Bloß noch ein Vorwärts, in der Hoffnung auf ein Wunder.

    Der Highway hörte schließlich auch nicht einfach so auf.

    Und vielleicht …

    1

    Der letzte Schluck Wasser lag weit hinter ihr. Ebenso die nutzlose Flasche, die sie frustriert weggeworfen hatte. Wahrscheinlich schmolz die Sonne bereits das Plastik am Boden fest.

    Keuchend blickte Sheryl zurück gen Westen, wo die Sonne orangerot brannte. Es wurde bald Nacht. Die Wüste kühlte ab. Eine lang ersehnte Erfrischung konnte ebenso tödlich sein wie die sengende Hitze.

    Sterbe ich am Tag oder in der Nacht?

    Warum stellte sie sich diese Frage?

    Ihr sollte jetzt eigentlich alles egal sein.

    Der Kopf schmerzte. Ihre Glieder waren bleischwer. Stoff und Haut klebten klatschnass zusammen.

    Sie war müde. Am liebsten wollte sie sich hinlegen und einschlafen. Der Asphalt erschien ihr so weich wie ein Federbett. Bestimmt würde sie nie mehr aufwachen.

    Na ja, und wenn schon?, dachte sie und zuckte schlapp die Schultern. Ist doch eh …

    Matt fiel das Mädchen auf die Knie.

    Winzige Steinchen stachen in ihre Haut.

    „Ich weiß, Dad. Tut mir leid. Aber ich kann nicht mehr."

    Schuldgefühle quälten sie. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Hatte sie wahrhaftig geglaubt, ihrem Schicksal irgendwie davonlaufen zu können? Sie war doch nur ein dummes, kleines, hilfloses Ding …

    Traurig sah Sheryl auf in den grenzenlosen Himmel, der in der Dämmerung in vielen Rottönen brannte. Roch den klaren Duft der Wüste. Hörte die Grillen zirpen, den Kojoten heulen. Tiere der Wüste, denen ihr Körper Nahrung sein würde. Nichts wird in der Natur verschwendet. Sie hörte das Rauschen des Windes. Und mit ihm kam das Geräusch von -

    Sofort war die junge Frau wieder auf den Beinen und hörte mit gespannten Nerven genauer hin.

    Täuschte sie sich? Halluzinationen wären normal in ihrem Zustand.

    Ist das wirklich …

    Nach allen Richtungen lauschte Sheryl und – nein, sie hatte sich nicht geirrt: Sie hörte Musik!

    Und sie sah etwas! Vielleicht nur eine halbe Meile entfernt!

    Wieso war es ihr nicht schon eher aufgefallen? Sie schob es auf den Sonnenstich.

    Abseits der Straße stand ein Haus – ein riesiger Gebäudekomplex sogar! Mehrstöckig und wie ein liegendes U aufgebaut. In einigen der über hundert Fenster brannte Licht – es war demnach bewohnt. Obwohl Sheryl am Ende ihrer Kräfte war, fasste sie neuen Mut und stolperte halb im Trab auf das schemenhafte Gemäuer zu.

    Sie verfiel in hohes Gelächter, weil dieser rettende Bau wirklich keine irreführende Luftspiegelung war. Die Aussicht auf Essen, Trinken, eine Dusche und ein weiches Bett ließ sie übermütig werden. Ihr Lachen wurde immer lauter, geradezu hysterisch, je näher sie der Zuflucht kam.

    Mein Film ist noch nicht vorbei! Kann sein, dass er sogar den Oscar gewinnt!

    Ein hart gefahrener Sandpfad führte offiziell vom Highway fort und hinein in den Hof des recht klobig erscheinenden Hauses, welches aus schmucklosen Betonplatten zusammengesetzt war. Trotz der Schlichtheit schien das Gebäude in einem soliden Zustand zu sein, relativ sauber und gepflegt.

    Es war ein Hostel, wie Sheryl es beim Eintreffen auf einem gut sichtbaren, im Boden verankerten Kunststoffschild lesen konnte. Es zeigte einen grinsenden Totenschädel, auf dessen riesigen bleichen Zähnen deutlich der Name stand:

    DEADMAN´S HOSTEL

    Deadman’s?, wunderte sich das Mädchen. Wird das nicht normalerweise anders geschrieben?

    Entweder hatte der Schreiber keine Ahnung, oder es war ein skurriler Eigenname. Wer hieß schon Totmann mit Nachnamen? Weil jedoch in diesem Land so manches möglich war, zuckte sie die Schultern und machte sich keine Gedanken diesbezüglich mehr.

    Ein Richtungspfeil wies ihr den sicheren Weg zum Empfang.

    Gut, dieser Wink wäre nicht nötig gewesen.

    Die Rezeption hatte ihren Sitz im rechten, unteren Ausläufer des Us. Von außen sah sie nur schief hängende, graue Plastikrollos in den Fenstern, hinter denen ein trübes Licht brannte.

    Aus der offenen Tür erreichten sie die Akkorde der Gitarrenmusik, welche in dieser nächtlichen Ruhe laut dröhnend wie ein Düsenjet klangen. Eigentlich war das Gejaule weniger schlimm.

    Sheryl wischte sich den Schweiß von der Stirn und folgte auf unsicheren Füßen den verzerrt gemischten Klängen aus Rock und Country. Ganz vorsichtig klopfte sie an den freien Holzrahmen und rief ins Rauminnere: „Hallo?"

    „Tot oder lebendig?", hörte sie eine sehr gelangweilte, fast monotone Stimme hinter dem ihr gegenüberliegenden Tresen antworten.

    Auf die unerwartete Gegenfrage, die sie bestimmt falsch verstanden hatte, reagierte das Mädchen verdutzt mit: „Wie bitte?"

    „Tot oder lebendig?", fragte der Mann erneut. Sein Ton wurde zwar lauter, aktiver, aber auch rauer.

    Achtsam trat Sheryl in das anspruchslos gestaltete Büro und ging zögerlichen Schrittes näher auf die Geschäftstheke zu. Seitlich an der kahlen, mit nichtssagender Tapete verzierten Wand stand ein kleines, abgenutztes schwarzes Ledersofa, das sie zu gern benutzt hätte, um sich darauf niederzulegen. Schmerzlich sentimental dachte das Mädchen an den fehlenden Schlaf, dass es völlig vergaß, irgendwas zu erwidern.

    „Verdammt!", fluchte der Mann derb und sein Kopf erhob sich etwas über die Holzkante, um einen zornigen Blick auf den Gast zu werfen, der da leise durch den Raum schlich.

    „Biste tot oder lebendig?!"

    „Ich, stammelte Sheryl verschreckt, „ich lebe natürlich!

    „Sicher?", fragte der Fremde skeptisch.

    „Ja!", blieb sie entschlossen bei ihrer Aussage und trat nun direkt vor ihn.

    Launisch atmete der Hausverwalter oder gar Vermieter aus und stand gemächlich von seinem Bürodrehstuhl auf. Große, grobe Hände stützten sich auf der erhöhten Theke ab. Er beugte sich drohend, gleich einem angriffsbereiten Puma, zu ihr vor.

    Das erste Merkmal, was Sheryl an ihm auffiel, waren seine Augen. Graubraune Murmeln im rot geäderten Weiß. In ihnen lag weder Güte noch die geschäftliche Neutralität einem Kunden gegenüber. Sie waren hart. Kalt und glanzlos. Der Mann hatte Augen aus Stein. Und darunter derart tiefviolette Schatten, als hätte er zig Nächte lang keine Ruhe gefunden. Sein Gesicht wirkte ausgezehrt durch die deutlich abgezeichneten Wangenknochen, dass es sich kaum von dem Totenkopf-Schild draußen unterschied. Hellbraune Barthaare zierten wild den scharf gezogenen Kiefer und umrandeten einen mürrisch zusammengepressten Mund.

    An zweiter Stelle bemerkte sie die vielen bunten Tätowierungen, die sich offensichtlich von der Kehle abwärts über jeden Zoll seiner bleichen Haut zogen. Sie sah einen täuschend echt wirkenden Skorpion auf seiner Hauptschlagader links am Hals pulsieren; einen widerlich grinsenden Zombie-Joker und ein Anzug tragendes Gentleman-Skelett in Gesellschaft von Maden, Spielkarten und Netzen auf den muskulösen Oberarmen prangern; dunkle Nachtfalter im Todeskampf mit Spinnen; einen schwarzen, orange gefleckten Frosch mit finsteren Augen und Pistolenkugeln …

    Um Himmels willen.

    Er stank. Nach herben Männerduft, Alkohol und Zigarettenqualm. Das Unterhemd, welches er trug, musste vor Äonen mal weiß gewesen sein, und die verwaschene Jeans zeigte Spuren von ranzigem Kettenfett und Maschinenöl.

    Unwillkürlich wich Sheryl vor ihm zurück. Nicht bloß wegen dem beißenden Geruch und seinem abweisenden Verhalten, sondern auch, weil er über einen Kopf größer war als sie. Er erweckte den Eindruck, gerade erst aus einer langjährigen Haft entlassen worden zu sein. Irgendwie zweifelte das Mädchen nicht daran, dass dies durchaus der Fall sein konnte.

    „Am Leben, eh?, raunte er mit einem Knurren und blies ihr dabei den erstickenden Rauch der Zigarette ins Gesicht, die er sich frisch zwischen die trockenen Lippen geklemmt hatte. „Und was zum Geier willste hier?

    „Äh …", suchte sie nach Worten und blickte dabei auf seine unruhig trommelnden Finger. Selbst die Handrücken waren bis hoch zu den Nägeln zerstochen mit stacheldrahtähnlichen Kerben, ekligen Krabbeltieren und … Sie erkannte jeweils vier Buchstaben auf den knochigen Gliedern, bevor das Trommeln noch schneller wurde.

    „Schätzchen, hast hier nichts verloren!, fuhr er sie kalt an. „Verschwinde!

    „D-das kann ich nicht!", fand sie endlich die Sprache wieder, da ihr klar wurde, was er von ihr verlangte. Und wohin das führen würde.

    „Sicher kannste", maulte er und wies auf die Tür.

    „Nein, das ist unmöglich! Ich habe es gerade so hergeschafft! Ich wäre fast gestorben!"

    Er schnaufte verächtlich und meinte: „Früher oder später passiert das allen Menschen."

    Wegen seiner herzlosen Worte stiegen Sheryl brennend Tränen in die Augen und sie flehte verzweifelt: „Bitte! Bitte lassen Sie mich hier übernachten! Nur eine Nacht, ich bitte Sie! Auf dem Sofa! Und morgen bin ich weg, ich verspreche es! Ich mache Ihnen keine Umstände, wirklich! Ich möchte nur etwas Wasser und ein paar Stunden schlafen!"

    Sie sah, dass er abschätzig reagieren wollte und setzte noch ein ehrliches „Bitte!" hinzu.

    Der Hausherr des Hostels zog tief an seiner Zigarette und zerdrückte die Kippe in einem bereits vollen Aschenbecher. Den Dampf stieß er schweigend durch die Nase aus. Mit einem Geräusch zwischen Seufzen und Knurren, ließ er sich wieder auf seinen Stuhl sinken und fuhr sich mit der rechten Hand durch seinen zottigen Irokesenschnitt. Der Ansatz war braun, doch die Haare schmutzig-blond gefärbt. Sauberes Wasser berührte sie wohl eher selten.

    „Bitte!", sagte Sheryl abermals.

    Er griff nach einer Schachtel und zündete sich einen neuen Glimmstängel an. Immer wieder daran ziehend, sprach er boshaft: „Was biste für ’n Anfänger … Haste endlich gemerkt, dass das Leben hart ist und selten fair? Hätteste dir besser dreimal überlegen sollen, bevor du dein schickes Kleinstadtleben bei Mom und Daddy aufgibst … Wovor rennste weg? Vor den Problem’ in der Schule? Oder hat dich der Wichser, in den du verknallt warst, abserviert?

    Schätzchen, kleiner Tipp am Rande: Wenn du vorhast, abzuhauen, dann schnapp dir alle Knete, die du greifen kannst – egal woher – und begib dich auf gar kein’ gottverdammten Fall in irgend so ’n Scheiß-Gebiet wie ’ne verfickte Wüste!"

    Seine Schelte nahm sie geknickt hin.

    Schnaufend griff er mit der freien Hand nach einem Glas und trank daraus eine goldgelbe Flüssigkeit.

    Bourbon, wie Sheryl dem Etikett der dazugehörigen Flasche entnehmen konnte, die auf dem Schreibtisch hinter der Theke stand. Dort sah sie auch Stifte, Dokumente und Schreibhefte – zu oder offen – schwach lesbar liegen. In einem Regal hinter dem riesenhaften Vermieter standen dagegen vielfarbige Aktenordner, welche weggeschlossen werden konnten, sodass niemand Gelegenheit bekam, neugierig in den vertraulichen Daten zu schnüffeln.

    „Ich sag’s noch mal, brummte der Mann leise: „Verzieh dich! Geh wieder zurück in dein hübsches kleines Ponyleben, iss Kuchen und spiel mit Puppen. Die Welt frisst dich sonst mit Haut und Haaren.

    „Ich spiele schon lange nicht mehr mit Puppen!", antwortete Sheryl gequält und kaute auf ihrer Lippe herum, ehe sie mit aufkommender Wut den Satz weiterführte: „Und Kuchen gibt es zu Hause auch nicht!

    Mein Vater ist vor zwei Jahren gestorben. Er war Polizist und wurde im Dienst erschossen. Es hat meiner Mutter das Herz gebrochen! Und dann hat sie diesen Kerl kennengelernt! Er hat ihr Drogen gegeben, bis sie abhängig wurde und sich mehr und mehr verschulden musste! Mich hat er geschlagen! Meine Mutter liegt jetzt im Krankenhaus wegen einer verdammten Überdosis! Und der Mistkerl hat gesagt, dass ich jetzt das Geld verdienen soll! Er wollte mich verkaufen und vergewaltigen!" Tränen liefen ihr über die Wangen. „Ich kann nicht nach Hause zurück! Und ich will auch nicht zurück! Ich musste dort weg, verstehen Sie das? Egal, wohin, Hauptsache weg! Ich bin kein kleines Kind mehr! Ich weiß, dass die Zukunft auf der Straße aussichtslos ist und mir nichts geschenkt wird!

    Sie haben doch keine Vorstellung, wie hart das Leben wirklich sein kann!"

    Er lachte freudlos auf und trank noch einen Schluck Bourbon. Sie glaubte nicht, dass er ihren Kummer ernst nahm.

    „Was weißte denn?", spottete er grimmig. „Du bist die, keine Ahnung hat, Krümel!

    Hast bisher ziemlich Glück gehabt, wie? Andernfalls hätteste dir das Bitten und Betteln gespart und wärst gleich zur Sache gekomm’. Solltest verdammt froh sein, dass du so lang verschont wurdest – sonst hätteste den Schaden längst weg."

    Sheryl war nicht sicher, ob sie ihn richtig verstand. Sein Slang war grauenvoll. Wahrscheinlich war er sehr betrunken.

    „Wie alt biste?", fragte er sie knapp und drückte seine Kippe in einem zweiten Aschenbecher in der Nähe aus. Dieser war auch übervoll. Unverkennbar rauchte er viel. Seine Zähne waren ganz gelb.

    Sie rechnete mit der Frage und versuchte, ihren Rücken durchzudrücken. „Neunzehn."

    „Erzähl kein’ Scheiß!", ließ er sich nicht täuschen.

    „Achtzehn."

    Schweigend schüttelte er den Kopf und griff nach der Zigarettenschachtel.

    „Okay, siebzehn."

    „Nope."

    „… sechzehn …"

    „Wir komm’ der Sache näher", feixte er und entzündete die Lunte.

    Genervt von seiner Hartnäckigkeit, atmete Sheryl aus und gestand: „Ist ja gut! Ich bin fünfzehn! Das ist aber nicht weit von sechzehn entfernt!"

    „Klar", griente er und stieß aufs Neue den blauen Rauch durch die Nase aus. Gemütlich lehnte er sich zurück und hob die langen Beine auf die Tischplatte. Durch die Stofflöcher im Kniebereich der Jeanshose sah sie ungenau weitere Tattoos. Seine Turnschuhe schienen in einem noch erbärmlicheren Zustand als die ihren zu sein. Nur waren sie von vornherein schwarz.

    „Haste schon deine Tage?"

    Diese intime Frage von einem Fremden ließ das Mädchen knallrot werden.

    „Denk mal, das heißt ja", nahm er lässig ihre Reaktion entgegen und zog tief den Rauch in seine Lunge, ehe er sich erklärte: „Schätzchen, ich verrat dir jetzt mal, was bei den Erwachsenen Sache ist.

    In erster Linie dreht sich alles ums Geld. Wer welches hat, ist wer – wer keins hat, ist ’n Niemand. Du gehörst im Augenblick zur letzten Kategorie.

    Wer kein Geld hat, muss was andres bieten. Irgend’ne Dienstleistung oder Materialgüter. Aber ich bezweifle, dass du irgendwas kannst oder besitzt, was mir von Nutzen wär. Doch haste insofern Glück, dass du … im Groben und Ganzen ’ne Frau bist. Gut, Arsch und Titten sind bei dir noch nicht die Welle, aber hab schon weniger gesehen.

    Als Frau kannste ’nem Mann immer ’ne Sache bieten.

    Verstehste das?"

    Das Blut wich aus ihren Wangen und Sheryl wurde käsebleich. Er meint doch nicht etwa …

    „Hab ’nen Vorschlag für dich, Kleine … ob du annimmst, überlass ich dir.

    Willst also unbedingt ’n Zimmer, ’n Ort zum Ausruhen, ’n neues Zuhause – was weiß ich.

    Möglich, dass ich dir was vermieten könnte, so unter der Hand. Inoffiziell, so lang wie du bleiben willst. Normalerweise hätteste hier nichts verloren, aber ich kann mal nett mit dem Besitzer reden, der hat vielleicht nichts dagegen. Der Mann legte eine Pause ein, um etwas zu trinken, dann fuhr er fort: „Ist kein schlechter Platz hier. Kannst kriegen, was du willst und ich frag dich sicher nicht nach dei’m Ausweis. Komm mir bloß nicht bei mei’m Job in die Quere und mach hier nichts kaputt, dann läuft alles ganz entspannt.

    „Ich … dürfte bleiben?" Mit Not konnte Sheryl sich zurückhalten, nicht vor Freude in Tränen auszubrechen. Jedoch fürchtete sie zeitgleich die Bedingungen seiner überraschenden Großzügigkeit.

    „Bezahlen musste den Service trotzdem irgendwie", kam er gleich darauf zu sprechen, „schließlich will ich nicht leer ausgehen. Und wie ich vorhin sagte, kannste als halbe Frau ganze Arbeit leisten.

    Für die Zeit, die du unter diesem Dach hier verbringst, gehörste mir. Klar?"

    Ihr Magen verkrampfte sich. Ein Klumpen Eis rollte durch ihre Eingeweide. Und das Herz schien auch stillzustehen.

    Dieser Mann … dieser verschwitzte, stinkende Mann wollte …

    Entsetzen breitete sich in ihr aus.

    „Was schauste so schockiert?!, blaffte er das Mädchen an. „Bist alt genug für Sex! Ihr Teenies könnt’s doch gar nicht erwarten, endlich loszulegen, also hab dich nicht so pissig. Die Sache mit der Unschuld ist eh ’ne Einbildung der Kirche und den Jugendschutz hat die moderne Gesellschaft erfunden. Zu andern Zeiten wärste längst geschwängert worden.

    „W-wir sind doch nicht im Mittelalter Europas!", keuchte sie, über diese haltlose Behauptung empört.

    „In manchen Ländern kannste das auch heute noch haben. Mit zehn oder zwölf kommste untern Hammer und wirst gevögelt, sobald du tropfst", belehrte er sie gereizt und gab einen kurzen, kräftigen Hieb auf die Stuhllehne.

    „Scheiße!", fluchte er. „Der Deal ist gut! Überleg mal! Bett und Verpflegung fürs Ficken, besser kannste’s in deiner Situation nicht treffen – oder doch?

    Wenn ja, dann verzieh dich von hier, da ist die Tür!

    Kipp von mir aus draußen um! Vielleicht nimmt dich auch jemand mit, vögelt dich feste durch und dreht dir danach den Hals um – wenn du Glück hast! Ansonsten mach dich drauf gefasst, die nächste Zeit in der Gosse zu verbringen und von jedem verdammten Wichser bestiegen zu werden, bis du an irgendeiner hässlichen Krankheit krepierst! Oder geh zurück und lass’s dir von dem Scheiß-Dealer besorgen, damit du wie deine Alte verreckst! Egal, wie du dich entscheidest, ’n Schwanz zwischen den Bein’ wird dir nicht erspart bleiben!"

    Sheryl presste die Lippen aufeinander.

    Sie hatte Angst. Angst, weil der Mann recht hatte.

    „Logisch betrachtet, Schätzchen", sprach er ruhiger weiter und goss sich das leere Glas voll, „bin ich deine bessere Wahl. Wir haben beim Deal schließlich beide was von. Du sogar noch mehr als ich …

    Aber ist ja dein Leben."

    Sie und … er?

    Noch immer wurde ihr schlecht bei dem bloßen Gedanken daran, dass er ihre Haut berühren wollte. Sein ungepflegter Körper würde sich auch mit noch so viel Seife nicht mehr von ihr abwaschen lassen. Er würde sie in Besitz nehmen, damit sie überleben konnte.

    Selbst wenn sie nur bis morgen früh bleiben würde … wo sollte sie danach hingehen?

    Er hatte recht.

    Er hatte leider recht.

    Furchtsam kniff Sheryl die Augen zusammen und flehte, dass es doch einen anderen Weg geben könnte, als diesem Mann zu gehören. Doch ihr fiel nichts ein.

    Sie dachte an Nick. Und wie schön ein solcher Moment mit ihm gewesen wäre. Reich an Liebe und Küssen.

    „Na, wie sieht’s aus?, holte der Fremde sie aus den Gedanken zurück. „Sind wir im Geschäft?

    Sie umschlang sich fest mit den Armen und blickte ihn an.

    Wenn er gewaschen wäre …

    Frisch rasiert noch …

    Mit aller Kraft versuchte sie, sein abgetragenes Äußeres aufzuwerten. So betrachtet war er eigentlich auch … na ja, etwas hübsch. Zumindest schlank und sehnig. Das war besser als ein gieriger Lustmolch mit Halbglatze und Bierbauch. Wenn selbst ein dreckiger, unbearbeiteter Stein mit Wasser und Schleifpapier glänzen konnte, war dieser Typ vielleicht eine Art Rohdiamant. Jedenfalls hoffte sie das.

    Während sie so nachdachte, rauchte er eine neue Zigarette und trommelte mit den Fingern auf seinem Oberschenkel herum. Er war ungeduldig.

    „Wie … wie alt bist du?", fragte Sheryl nervös.

    „Nicht so alt, wie du denkst", knurrte er leise. „Obwohl … für ’nen halb garen Teenie wie dich bin ich bestimmt schon aufm Weg

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