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Drei freundliche Tage und ein Todesfall: Harz-Krimi
Drei freundliche Tage und ein Todesfall: Harz-Krimi
Drei freundliche Tage und ein Todesfall: Harz-Krimi
eBook372 Seiten4 Stunden

Drei freundliche Tage und ein Todesfall: Harz-Krimi

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Über dieses E-Book

Es ist eigentlich unmöglich, und doch entdeckt der Journalist Holger Diekmann in Osterode die junge Frau, in die er sich vor über zwanzig Jahren während der Drei freundlichen Tage verliebt hat! Leider wurde sie nach dem letzten Konzert der Rockband "Paper Plane" von einem Bandmitglied abgeschleppt. Und nun sitzt sie auf dem Marktplatz vor der Eisdiele und ist keinen Tag gealtert! Tatsächlich ist es aber ihre Tochter, die im Harz auftaucht, gerade als die alten Herren von "Paper Plane" ihr Comeback feiern wollen. Sie sucht ihren Vater, den Bassisten der Band! Doch deren neuen Auftritt erleben Vater und Tochter nicht … Ein Fall für Kommissar Behrends, der einerseits in die Welt des Rock'n'Rolls entführt, anderseits in die Abgründe der Zwangsprostitution blicken lässt.
SpracheDeutsch
HerausgeberProlibris Verlag
Erscheinungsdatum16. Apr. 2018
ISBN9783954751761
Drei freundliche Tage und ein Todesfall: Harz-Krimi

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    Buchvorschau

    Drei freundliche Tage und ein Todesfall - Roland Lange

    Danksagung

    Roland Lange

    Drei freundliche Tage und ein Todesfall

    Harz-Krimi

    Handlung und Figuren sind frei erfunden. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt.

    Alle Rechte vorbehalten,

    auch die des auszugsweisen Nachdrucks

    und der fotomechanischen Wiedergabe

    sowie der Einspeicherung und Verarbeitung

    in elektronischen Systemen.

    © Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2018

    Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29

    Titelfoto:

    © DWP – Fotolia

    E-Book: Prolibris Verlag

    ISBN E-Book: 978-3-95475-176-1

    Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.

    ISBN: 978-3-95475-168-6

    www.prolibris-verlag.de

    Prolog

    Wo mochte das Weltall wohl zu Ende sein? War irgendwann Schluss oder dehnte es sich endlos aus?

    Immer, wenn sie, wie jetzt, in den wolkenlosen, sternenübersäten Nachthimmel blickte, dachte sie darüber nach – über den Kosmos und die Unendlichkeit. Und über die Grenzen ihres eigenen Denkens. Sie hatte so viele Fragen. Aber sie suchte nicht nach Antworten. Es genügte ihr, sich in dem Meer aus funkelnden Lichtpunkten am Firmament zu verlieren.

    Schon einige Minuten saß sie hier im feuchten Gras und starrte nach oben. Die Zigarette zwischen ihren Fingern war fast bis auf den Filter heruntergebrannt. Sie nahm einen letzten Zug, dann drückte sie die Kippe neben sich auf dem Boden aus. Sie fröstelte und zog die Jacke enger an ihren Körper. Die Kälte der Mainacht machte die frühsommerlichen Temperaturen der vorangegangenen Stunden vergessen.

    Herrgott, was waren das für zwei Tage gewesen! Der Zwischenstopp in der kleinen Stadt am Harzrand auf ihrem Trip nach Süden. Erst der Freitag und dieser Kerl, der zwar ganz nett, aber überhaupt nicht ihr Fall gewesen war. Wie eine Klette hatte er an ihr gehangen und nur mit Mühe hatte sie ihn sich vom Hals geschafft. Am Abend darauf das Stadtfest und die beiden süßen Jungs aus der Band, von denen sie und Simone sich hatten abschleppen lassen. Die prickelnde Stimmung, die Erwartung dessen, was unausweichlich kommen musste. Dann die Ernüchterung, als sie erkannte, was für ein Versager der Typ war, den sie abbekommen hatte. Und später wieder raus aus dem gemütlichen Nest und zurück auf die Straße. Sie hatten sich bereits auf eine weitere Nacht unter freiem Himmel eingestellt, da kam doch noch die Rettung. Der Techniker der Band hatte sie aufgegabelt und wieder ins Haus gelassen. Er hatte ihnen eine Schlafmöglichkeit in einem Raum angeboten, der vollgestopft war mit Elektrogeräten, Kabelkisten, Boxen, Regalen, Kanistern mit undefinierbaren Flüssigkeiten. Aber auch mit zwei Matratzen und ein paar löchrigen Decken.

    Simone hatte sich hingelegt und war sofort eingeschlafen. Sie selbst hatte eine Weile wachgelegen und war dann durch das Fenster nach draußen geklettert, um eine zu rauchen. Sie war ein Stück am Rand des verwilderten Parks entlanggestreift und hatte sich schließlich ins Gras gesetzt, ans Ufer des kleinen Teiches, mit freiem Blick auf den Himmel und die Weiden und Felder, die sich irgendwo, weit hinten, in der Nacht verloren.

    Sie war noch ganz in ihrer Erinnerung versunken, als ein leises Knistern sie aufschrecken ließ. Zuerst vermutete sie ein kleines nachtaktives Tier, eine Maus vielleicht oder ein Frettchen, das durch das trockene Laub in ihrem Rücken huschte. Aber das Geräusch kam gar nicht aus ihrer unmittelbaren Nähe. Es kam aus der Richtung, in der sich das Haus befand. Dahin blickte sie und sah einen Widerschein. Ein schnelles Aufflackern nur, dann war es wieder dunkel. Gleich darauf wiederholte sich das Ganze und danach noch mal und noch mal, in immer kürzeren Abständen. Das Licht wurde heller und größer, das Knistern lauter.

    Nun endlich begriff sie. Feuer! In dem Haus, in dem Simone lag und schlief, brannte es! Sie sprang auf und hetzte zurück, kam ins Straucheln, schrammte sich an einem Ast den Arm, taumelte weiter. Brandgeruch breitete sich aus, trieb sie zur Eile. Dann sah sie es genau. Es war das Fenster, aus dem sie gestiegen war und aus dem jetzt der Feuerschein drang.

    »Simone!«

    Sie hatte das Haus fast erreicht, als sie ein Stück abseits drei Personen bemerkte, die in zwei Autos einstiegen. Sie stoppte abrupt ab, schrie um Hilfe. Doch sie reagierten nicht. Sie konnten sie nicht hören oder wollten es nicht. Die Wagen wurden gestartet, fuhren davon. Warum blieben sie nicht, halfen nicht? Das waren die Männer gewesen, mit denen sie den Abend verbracht hatten – oder? Natürlich, sie mussten es gewesen sein! Auch wenn sie nur schemenhaft zu sehen gewesen waren. Aber die beiden Autos, die hatte sie wiedererkannt!

    »Simone!«

    Warum konnte sie ihre Freundin nirgends entdecken? Das Feuer hatte sie bestimmt geweckt. Die Haustür, nur mit einer Klinke ausgestattet, war abgeschlossen worden, aber Simone hätte wie sie ja auch durch das Fenster klettern können. Warum lief sie hier nirgendwo herum? Warum antwortete sie nicht?

    Sie näherte sich dem Fenster. Es war heiß. Zu heiß! Trotzdem machte sie noch ein, zwei Schritte, versuchte, im Inneren etwas zu erkennen. Flammen leckten an den Kisten, ein hohes Regal aus Metall war umgefallen, hatte sich verkeilt und hing schräg im Raum. Beißender Qualm ließ ihre Augen tränen. Sie blinzelte, meinte, hinter dem Gestell einen menschlichen Körper liegen zu sehen.

    »Simone!«

    Ihr Schrei verhallte ungehört. Sie machte noch einen Schritt auf das Fenster zu, hob die Arme schützend vor ihr Gesicht. Plötzlich ein Knall. Reflexartig sprang sie zurück. Der Flammenschwall erreichte sie trotzdem, versengte ihr Haare und Haut. Ihre Jacke fing Feuer. Sie stolperte, fiel hin, wälzte sich am Boden. Die Flammen erloschen. Sie rappelte sich auf, begann zu laufen, ignorierte die Schmerzen. Weg! Nur weg!

    Im Nachbarhaus, das ein gutes Stück entfernt stand, ging das Licht an. Sie registrierte es aus den Augenwinkeln. Keinen Augenblick dachte sie daran, dort Hilfe zu holen. Es war zu spät, Simone tot, tot, tot, hämmerte es bei jedem Schritt in ihrem Kopf. Sie überwand den nahen Bach und hetzte weiter. Über die Wiesen und die Felder. Irgendwohin. Nur weg!

    Sie wusste nicht, wie lange sie gelaufen war und wie viele Feldwege sie gequert hatte, als sie in einen Entwässerungsgraben stürzte, sich noch ein kleines Stück über den sumpfigen Untergrund schleppte und dann entkräftet an der Grabenböschung liegenblieb.

    In der Ferne heulten Sirenen. Irgendjemand hatte endlich die Feuerwehr alarmiert.

    1

    24 Jahre später. Ostersamstag.

    Es schneite. Bedrohliches Donnergrollen begleitete den Flockenwirbel vor dem Fenster. Wäre Carina abergläubisch gewesen, hätte sie das Wetterphänomen vielleicht als böses Omen gewertet und wäre im Bett geblieben. Hätte Magenprobleme oder eine andere Erkrankung vorgetäuscht, um einem vermeintlich unheilvollen Schicksal zu entgehen.

    So aber galt ihr erster Gedanke nach dem Aufwachen nicht der überraschenden Rückkehr des Winters, sondern ihrem bevorstehenden Auftritt. Sofort spürte sie wieder das wohlige Kribbeln in der Magengegend. Seit Tagen fieberte sie dem Konzert entgegen, das sie heute auf dem Festival in der Heide gemeinsam mit Rico spielen würde.

    Einige Minuten blieb sie noch liegen, gähnte herzhaft und rekelte sich. Im Geist hörte sie den Applaus, der ihr und ihrem Partner entgegenbranden würde, wenn sie auf die Bühne stiegen. Sie genoss den Moment, von dem sie hoffte, ihn in ein paar Stunden genau so in der Realität zu erleben.

    Carina fing ihre träumerischen Gedanken ein, blinzelte zum Wecker hin. Es wurde Zeit. Schwungvoll schlug sie die Steppdecke zurück und tapste barfuß ins Bad ihrer kaum dreißig Quadratmeter großen Mietwohnung unter dem Dach. Sie duschte ausgiebig, danach zog sie sich an. In der Kochnische bereitete sie ihr obligatorisches Müsli zu, eine Fertigmischung aus dem Reformhaus, die sie mit Stücken frischem Obst anreicherte. Sie setzte sich an den kleinen Klapptisch an der Wand und begann zu essen. Aber schon nach den ersten Löffeln bekam sie nichts mehr herunter. Ihr Magen fühlte sich an, als sei er zubetoniert.

    Ein Infekt? Jetzt? Kurz vor dem Auftritt? Das wäre ein Desaster! Sie horchte in sich hinein. Nein, sie war nicht krank. Sie hatte Lampenfieber! So intensiv, wie seit Langem nicht. Kein Wunder, denn dieser Tag war ein besonderer Tag, das Konzert eins, in das sie und Rico große Hoffnungen setzten. Sie durften es nicht vermasseln!

    Carina machte sich startklar, blickte auf die Uhr. Eine halbe Stunde blieb ihr noch, bevor Rico und Markus sie abholten. Zeit genug für einen Anruf. Das Gespräch mit ihrer engsten Vertrauten würde helfen, ihre aufgewühlten Nerven ein wenig zu beruhigen.

    Als es an ihrer Wohnungstür läutete, beendete sie hastig das Telefonat und machte sich auf den Weg nach unten, wo ihre beiden Freunde im Schneegestöber vor dem Caddy mit dem Bandequipment auf sie warteten.

    Ein Mal ließen sie sich von dem Navigationsgerät in die Irre führen, wodurch sie sich einen etliche Kilometer langen Umweg einhandelten. Dazu die schlechten Straßenverhältnisse. So wurden aus den errechneten zwei Stunden Fahrzeit von Oldenburg bis an ihr Ziel über drei. Dann erst passierten sie das Ortsschild des kleinen Kaffs irgendwo in der Nordheide, einem Nest mit großem Schützenplatz und noch größerer Festhalle. Vermutlich passten da mehr Menschen hinein, als der Ort Einwohner hatte.

    Es hatte aufgehört zu schneien. Die steigenden Temperaturen hatten das winterliche Intermezzo beendet, die dünne Schneedecke war weggeschmolzen. Vor dem Halleneingang waren eine Bratwurstbude und ein Stand mit Fischbrötchen aufgebaut. Typisch Dorf. Getränke gab es drinnen. An einer Theke, die sich über die gesamte Hallenbreite erstreckte, der Bühne gegenüber.

    Hier also fand das Oster-Rock & Pop-Festival statt. Von Mittag bis Mitternacht. Schon jetzt tummelten sich etliche Gäste auf dem Platz vor der Halle und unablässig kamen weitere Besucher dazu. Wenn der Zustrom nicht abriss, war der Saal am Abend brechend voll, schloss Carina daraus und wunderte sich. Bei einem Line-up, das außer unbekannten Coverbands nichts zu bieten hatte, mutete es wie Zauberei an, so viele Leute zu mobilisieren.

    Um fünf würde sie zusammen mit Rico auf der Bühne stehen und ihr 45-Minuten-Set spielen. Die Seiltänzer nannten sie sich, eine Idee ihres Freundes, der unbedingt die Verbindung zu ihrer gemeinsamen Zirkusherkunft im Bandnamen verankert wissen wollte. Es war ihr erster Auftritt vor größerem Publikum und, so hofften sie beide, auch ein entscheidender Schritt nach oben auf der Karriereleiter. Allerdings waren Carina mittlerweile Zweifel gekommen, ob sich die Talentscouts der Plattenfirmen ausgerechnet hierher in die Walachei verirren würden.

    Zwei Jahre lang war sie mit Rico als Straßenmusiker-Duo durch Norddeutschland getingelt. Dann hatte sich Markus zu ihnen gesellt, der sie seitdem begleitete und sich um die Technik kümmerte. Von ihm stammte auch ein Großteil des Equipments, das sie brauchten, um ihr Akustik-Programm aus Deutschrock-Coversongs und ein paar eigenen Stücken in Kneipen oder kleinen Klubs zu spielen. In die Fußgängerzonen zog es sie aber nach wie vor. In Stade, vor einem Buchladen, hatte ihnen im letzten Sommer ein Typ zugehört und sie in der Pause ihres Gigs zum Oster-Rock & Pop-Festival eingeladen. Einen Monat später war ein entsprechender Vertrag eingetrudelt. Bis dahin hatten sie die Einladung nicht wirklich ernst genommen.

    Jetzt waren sie also hier. Während die Jungs mit dem Veranstalter die organisatorischen Angelegenheiten durchsprachen, stand Carina im Eingangsbereich der Halle. Sie starrte grübelnd auf einen Zettel mit dem Programmablauf, den jemand an die Wand gepinnt hatte. Ihre Augen hingen an einem Namen, der auf keinem Veranstaltungsplakat aufgeführt war: Paper Plane. So hieß die Gruppe, die kurzfristig für eine Band eingesprungen war, die hatte absagen müssen. Das Revival der Klassik-Rock-Cover-Show aus dem Harz stand etwas kleiner unter dem Bandnamen. Gegen elf Uhr würden Paper Plane als Letzte der zehn Acts auftreten. Sie spielten hauptsächlich Status-Quo-Cover-Songs, aber auch andere Klassik-Rock-Stücke, las sie im kurzen Begleittext. Nicht gerade die Art von Musik, die Carina mochte.

    Doch das Repertoire beschäftigte sie in dieser Minute weniger. Vielmehr hatte der Bandname einen dunklen Verdacht in ihr geweckt, gleichzeitig aber auch eine totgeglaubte Hoffnung neu belebt: Konnte das die Band sein, von der ihre Pflegeeltern gesprochen hatten? Die Band, deren Bassist ihr Erzeuger war? Der Mann, den sie nur aus verworrenen Erzählungen kannte? Von dem sie nicht wusste, wie er hieß und wie er aussah, wo er wohnte oder ob er überhaupt noch lebte?

    Ihre Mutter hatte sie nicht fragen können, die war fünfzehn Monate nach ihrer Geburt gestorben. Und ihre Pflegeeltern hatten ihr jahrelang von ihrer Familiengeschichte mehr verschwiegen als offenbart. Immer nur Andeutungen. Alexandra, ihre Mutter, habe auf einem Stadtfest die Bekanntschaft mit den Musikern einer Rockband gemacht. Nach dem Konzert habe sie mit den Bandmitgliedern noch gefeiert. Danach war sie schwanger gewesen. Mit ihr, Carina. Wilde Zeiten damals. Sex and Drugs and Rock’n’Roll eben. Das hatte ihr Pflegevater nicht nur einmal zu ihr gesagt und dabei bekümmert gelächelt. Es hatte stets geklungen, als wolle er eine üble Geschichte, die er vor ihr geheim hielt, in versöhnlichem Licht erscheinen lassen. Als fürchte er, sie könne die Wahrheit nicht ertragen. Genau darüber aber war Carina wütend gewesen. Sie hatte immer geahnt, dass im Zusammenhang mit ihrer Zeugung etwas passiert sein musste und sie hatte nicht aufgehört, bohrende Fragen zu stellen. Sie hatte nicht glauben wollen, nur das zufällige Produkt einer netten, harmlosen After-Show-Party zu sein. Schließlich hatte sie von ihrem Pflegevater doch noch erfahren, was in jener Nacht wirklich geschehen war. Dabei hatte er auch Osterode, die Kleinstadt am Harz erwähnt, und er hatte gesagt, dass die Band den Worten ihrer Mutter zufolge wohl aus der Gegend stammte. Von dem Namen der Gruppe hatte sie jedoch nie etwas gehört.

    Paper Plane! Aus dem Harz! Schwarz auf weiß stand es da. Konnte das vielleicht der Bandname sein? War das die Gruppe, die 1993 auf dem Stadtfest gespielt hatte? In Osterode? Aber wieso sollte es genau diese Band gewesen sein? Vermutlich gab es im Harz heute wie damals so einige Rockgruppen.

    Sie schaffte es nicht, sich abzuwenden und alles als fixe Idee abzutun. Vielleicht waren sie es ja doch. Aber existierte die Band knapp fünfundzwanzig Jahre später immer noch? Wenn ja, wie alt mochten die Typen jetzt sein? Die fünfzig hatten sie vermutlich längst überschritten. Carina musste unversehens schmunzeln. »Now they’re too old to Rock’n’Roll and they’re too young to die«, fiel ihr die Textzeile eines Jethro-Tull-Songs ein. Vielleicht hatte die Band das Stück ja im Programm. Es würde passen.

    Dann spürte Carina, wie sich alles um sie herum zu drehen begann. Das war doch nicht möglich, dass sie ausgerechnet hier, auf diesem Festival in der Pampa ihrem leiblichen Vater begegnete! Wie sollte sie das aushalten, den Mann zu sehen, der für ihr jahrelang andauerndes Seelenchaos mit verantwortlich war? Ihm vielleicht im Backstage-Bereich gegenüberzustehen? Wie sollte sie ihm begegnen, was zu ihm sagen? »Hallo, ich bin’s, deine Tochter! Schön, dass wir uns endlich mal kennenlernen.« War es das? Sollte sie so auf ihn zugehen und hinnehmen, dass er sie garantiert nur begriffsstutzig anglotzte? Sie vermutlich sogar auslachte? Oder sollte sie ihm besser gleich eine reinhauen? Auf ihn einprügeln und ihn all die Schmerzen spüren lassen, die er ihrer Mutter zugefügt hatte, ebenso wie ihr? Ja, auch ihr! Weil er so verantwortungslos gewesen war, mit einer Frau zu schlafen, ohne sich auch nur einen Gedanken über die möglichen Konsequenzen zu machen! Und jetzt bekam sie plötzlich die Chance, dem Mann, einem zwielichtigen Phantom, leibhaftig gegenüberzutreten, sofern sie sich nicht nur in eine absurde Vorstellung verrannt hatte. Sie wusste nicht, was sie denken sollte. Auf jeden Fall verdiente der Typ ihre Prügel. Und gleichzeitig wünschte sie sich, ihn in die Arme schließen zu können – ihren richtigen Vater!

    »Hey, Carina, kommst du?« Es dauerte ein paar Sekunden, ehe die Stimme in ihr Bewusstsein drang. Sie wandte sich um. Hinter ihr stand Rico und grinste. »Es wird Zeit. Wir haben hier einen Job zu machen, erinnerst du dich?«

    Sie nickte und trottete geistesabwesend neben ihm her nach draußen. Während sie um die Halle herum zum Backstage-Bereich gingen, hingen ihre Gedanken weiterhin an der Runnig Order und an einem Bandnamen: Paper Plane.

    Ihr Auftritt war eine einzige Katastrophe gewesen. Carina hatte sich einfach nicht konzentrieren können. Sie hatte die Einsätze verpasst, ganze Textzeilen vergessen, etwas, das ihr sonst nie passierte. Immerhin war das Publikum tolerant oder bereits angeheitert genug gewesen, um ihr die Patzer zu verzeihen. Sie hatten freundlichen Applaus geerntet, Pfiffe oder Buhrufe waren ausgeblieben. Mehr hatten sie nicht erwarten dürfen, das wusste Carina.

    Rico war das eindeutig zu wenig gewesen. »Verdammt, was war los mit dir?«, fauchte er, kaum dass sie die Bühne verlassen hatten. »Du hast totalen Mist gebaut!«

    Markus stand etwas abseits und fummelte an irgendeinem Kabel herum. Er mischte sich nicht ein und schwieg. Wie fast immer, wenn es nicht um seine Technik ging. Er war zwar dabei und sie nannten ihn ihren Freund. Dennoch gehörte er nicht richtig dazu. Sie hielten ihn auf Distanz, ließen sich von ihm in nichts reinreden. Er akzeptierte das. Nur so konnte es zwischen ihnen funktionieren.

    »Ach, so schlecht waren wir nun auch wieder nicht«, versuchte Carina sich zu rechtfertigen. »Die Leute haben geklatscht.«

    »Vermutlich wollten sie nett sein. Begeisterung klingt anders. Du hast doch sonst nicht solche Aussetzer! Und komm mir bloß nicht mit Lampenfieber! Du hast nicht das erste Mal auf ’ner Bühne gestanden. Mann, das wäre unsere Chance gewesen, weißt du das? Jetzt können wir weiter durch die Fußgängerzonen tingeln. Oder glaubst du, uns engagiert nach der Blamage noch mal einer?«

    »Keine Ahnung.« Carina zuckte hilflos mit den Achseln. »Ich ... verdammt, mir geht es ziemlich dreckig. Kein Lampenfieber. Ich fühle mich schon eine ganze Weile echt beschissen.« Das war noch nicht mal gelogen. Seit sie den Namen der Band gelesen hatte und einer möglichen Begegnung mit ihrem Vater entgegensah, drehte sich in ihrem Kopf ein Karussell und ihr Körper spielte verrückt.

    »Und warum hast du nichts gesagt? Was ist denn bloß los?« Ricos Ärger machte der Sorge Platz. So war er. Immer sorgte er sich um sie. Wie ein großer Bruder, was er ja in gewisser Weise auch war, obwohl sie gerade mal zwei Jahre Altersunterschied trennten. Seit sie denken konnte, war Rico da gewesen. Sie waren gemeinsam aufgewachsen, hatten gespielt, die kleine Schulbank im Zirkuswagen gedrückt, Pläne geschmiedet, sich hin und wieder heimlich geküsst. Ein Paar waren sie trotzdem nicht. Sie hatten etliche Dinge zusammen gemacht und vieles miteinander geteilt – aber eben nicht alles. Auch nicht diese eine Sache. Rico wusste kaum etwas über die Vergangenheit ihrer Mutter und noch weniger über die ihres Vaters. Das war bis heute ein Geheimnis geblieben zwischen ihr und ihren Pflegeeltern. Carina hatte nicht die Absicht, es jetzt zu lüften.

    »Bist du so weit?« Rico sah zu Markus hinüber, der nur kurz nickte. »Okay, dann lass uns verschwinden.« Er wandte sich Carina zu. »Ist besser, wenn du so schnell wie möglich nach Hause kommst und dich hinhauen kannst. Hier verpassen wir sowieso nichts mehr.«

    »Aber ich möchte lieber ...« Sie sprach nicht weiter, schluckte die letzten Worte hinunter. Jetzt, wo Rico zum Aufbruch drängte, wäre sie gern geblieben, wollte nicht fahren, ohne ihren Vater gesehen zu haben. Ohne sich wenigstens vergewissert zu haben, dass es sich tatsächlich um jene Paper Plane handelte, die Band, in der er den Bass spielte. Konnte sie jemanden fragen, ob sie schon eingetroffen waren? Den Veranstalter vielleicht. Der kannte sicher auch die Mitglieder der Band mit Namen. Aber wenn sie nach dem Mann suchte, würde Rico davon Wind bekommen. Jetzt, da er wusste, dass sie sich schlecht fühlte, würde er sie nicht mehr aus den Augen lassen, bis sie zu Hause in ihrem Bett lag, um sich auszukurieren. Unmöglich, ihn daran zu hindern.

    »Was?«, fragte Rico mit scharfer Stimme. »Was möchtest du lieber?«

    »Nichts. Gar nichts.« Sie winkte müde ab. »Kommt schon. Fahren wir.«

    Sie musste sich eine andere Gelegenheit suchen, um ihren Vater kennenzulernen. Aber wollte sie das überhaupt? Sie horchte kurz in sich hinein. Doch, sie wollte! Sie wusste, dass sie, nachdem sie die Running Order des Festivals gelesen hatte, den Gedanken an ihren Erzeuger nicht mehr aus dem Kopf bekommen würde. Und jetzt, wo sie eine erste Spur hatte, sollte es ihr gelingen, ihn ausfindig zu machen. Allein. Ohne Rico im Schlepptau. Ihre ganze Hoffnung knüpfte sie an den Bandnamen – Paper Plane!

    2

    Anfang Mai.

    Vor wenigen Minuten hatte Holger Diekmann das Osteroder Rathaus, das Kornmagazin, verlassen. Er war als Pressevertreter zu einem Gespräch zwischen Angehörigen der Stadtverwaltung und Mitgliedern des Tourismusvereins eingeladen worden. Wieder einmal hatte das leidige Thema »Belebung der Innenstadt« auf der Tagesordnung gestanden. Viel Neues würde er dazu auch dieses Mal nicht in seinem Online-Magazin »Burgblick« berichten können. Außer von den festen Absichten, dem guten Willen und den teils recht kreativen Ideen, dem demografischen Faktor und dem Verfall von leer stehenden Häusern in der Altstadt die Stirn zu bieten, gab es nur wenig zu schreiben. Konkrete Vorhaben ließen nach wie vor auf sich warten. Also weiterhin keine rosigen Aussichten.

    Er war die Rinnepassage entlanggetrottet und trat soeben durch den Torbogen hinaus auf den sonnendurchfluteten Marktplatz. Es war angenehm warm, ein herrlicher Frühlingstag. Die Plätze draußen vor den Bäckereifilialen waren überraschend gut besetzt. Auch vor der Zotta-Eisdiele gab es kaum noch einen freien Stuhl. An dem Tisch, der ihm am nächsten stand, saßen zwei Frauen, die seine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Er blieb stehen, kniff die Augen zusammen, sah genauer hin. Angela Raabe erkannte er, obwohl sie ihm den Rücken zugewandt hatte. Ihr extravagantes Äußeres und ihre schwarze Löwenmähne verrieten sie. Aber Angela war es auch nicht, die sein Herz plötzlich höher schlagen ließ, sondern die junge Frau, die ihr gegenübersaß.

    Bilder tauchten vor seinem geistigen Auge auf, die knapp vierundzwanzig Jahre zurücklagen. Von einer Sekunde zur anderen waren die Tage von damals in seinem Gedächtnis wieder präsent, ebenso wie das Mädchen, das ihn so verrückt gemacht hatte. Er erinnerte sich an den Nachmittag, als er sie angebaggert hatte und daran, wie sie auf ihn eingegangen war, ihn aufgeheizt und Stunden später, kurz vor dem Ziel, hatte abblitzen lassen. Die junge Frau bei Angela am Tisch – für einen Moment hatte er tatsächlich geglaubt, sie sei es.

    Die damals erlittene Demütigung schmerzte immer noch. Und auch die Erinnerung an den Abend danach. Sie hatte so getan, als kenne sie ihn nicht.

    Diekmann schüttelte den Kopf, wandte sich ab. Doch anstatt weiterzugehen, hinüber zur Drogerie, um Rasierschaum und Deo zu kaufen, wie er es vorgehabt hatte, blieb er im Schatten des Torbogens stehen. Er nahm den Fotoapparat, richtete ihn auf den Tisch vor der Eisdiele und zoomte die junge Frau heran. Ein paar Sekunden lang betrachtete er sie. Als sie plötzlich lachte, musste er heftig schlucken. Es war das gleiche verführerische Lachen, das ihn damals hatte schwach werden lassen.

    Aus der sicheren Deckung heraus machte er einige Fotos von der jungen Frau, dann packte er den Apparat zurück in die Tasche. Er verließ seinen Standort, steuerte auf die Drogerie zu, erledigte die Einkäufe.

    Als er auf den Platz trat, zögerte er einen Moment. Statt in Richtung Kornmagazin zurückzugehen, in sein Auto zu steigen und nach Hause zu fahren, wandte er sich nach links. Er brauchte nur ein paar Schritte, dann hatte er die Tische vor der Eisdiele wieder im Blick. Die junge Frau war verschwunden. Angela saß allein und genoss ihren Caffè Latte oder was immer sich in dem Glas vor ihr befand.

    Diekmann ergriff die Gelegenheit, ging hinüber, tat überrascht: »Mensch, hallo, Angela! Grüß dich!«

    Sie kannten sich persönlich, hatten sich schon bei verschiedenen Anlässen getroffen und miteinander geplaudert, meist bei offiziellen Veranstaltungen, auf der das Unternehmerehepaar Angela und Klaus Raabe anwesend gewesen war. Und Diekmann als Pressevertreter. Klaus Raabe war Immobilienmakler, hatte eine eigene Firma. Angela war seine tatkräftige Partnerin.

    »Hey, Holger, wie geht’s?« Sie schob ihre Sonnenbrille ein Stück nach unten, blickte ihn über den Rand hinweg an, lächelte. »Na, wieder den Sensationsnachrichten auf der Spur?«

    »Wenn wir hier in Berlin oder New York wären, dann vielleicht.« Grinsend zog er einen der freien Stühle vom Tisch ab. »Darf ich?«, fragte er und setzte sich, ohne die Antwort abzuwarten.

    »Aber gerne doch«, entgegnete Angela Raabe etwas verspätet mit spöttischer Miene.

    »Aaah ...« Diekmann reckte sich der Sonne entgegen. »Was für ein herrliches Wetter, nicht? Du machst es richtig. Viel zu schade, um sich den Tag mit Arbeit zu verderben. Was sagt denn dein Klaus dazu, dass du hier sitzt und sein sauer verdientes Geld ausgibst?«

    »Holger, Holger, du altes Lästermaul. Immer die gleichen dummen Sprüche.« Sie drohte ihm mit dem Zeigefinger – eine nicht ganz ernst gemeinte Geste. Auf ähnliche Art und Weise waren sie schon oft in ein Gespräch eingestiegen.

    Diekmann bestellte einen Cappuccino, dann setzte er das belanglose Geplauder mit Angela fort, bis er die Gelegenheit fand, sie auf die junge Frau anzusprechen, die vor Kurzem noch auf seinem Platz gesessen hatte.

    »Wer war denn die junge Dame, mit der du dich vorhin so angeregt unterhalten hast?«, fragte er. »Ich habe euch zusammen gesehen, als ich zur Drogerie rübergegangen bin.«

    »Also doch keine so zufällige Begegnung zwischen uns beiden«, stellte Angela scharfsinnig fest. »Du hast nur einen Grund gesucht, mich nach der Kleinen auszufragen, stimmt’s?« Sie zog eine Zigarette aus der Schachtel, die auf dem Tisch lag, zündete sie an und machte einen tiefen Zug. »Naja, war ja auch ein hübsches Ding. Wusste gar nicht, dass du in deinem Alter noch auf Frischfleisch stehst.«

    »Also, bitte, Angela. Nur weil ich eine junge Frau gut aussehend finde, muss ich ja nicht gleich was mit ihr anfangen wollen.«

    »Möchtet ihr Kerle das nicht alle?«, fragte sie zurück. Ihm entging nicht der giftige Unterton. »Besonders, wenn sie so knackig und unverbraucht sind? Da seid ihr doch richtig scharf drauf.«

    »Nun mach aber mal halblang«, wehrte sich Diekmann, »ich kann das sehr gut trennen. Wieso bist du denn plötzlich so sauer? Ich wollte lediglich wissen, ob sie eine Bekannte von dir ist. Und ja, ich fand sie richtig hübsch.« Er legte den Kopf schief. »Du brauchst mir natürlich nicht darauf antworten.« Er hoffte, dass sie es trotzdem tat, ohne dass er ihr das wahre Motiv für seine Neugier nennen musste.

    »Im Grunde geht es dich doch einen feuchten Dreck an, mit wem ich hier sitze und über was wir uns unterhalten. Jeden anderen hätte ich

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