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Der letzte Sprung: Harz Krimi
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eBook355 Seiten4 Stunden

Der letzte Sprung: Harz Krimi

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Über dieses E-Book

Nur noch wenige Tage bis zum Burgturnier in Nörten-Hardenberg. Da explodieren auf dem Gelände Molotowcocktails. Verbergen sich hinter dem Brandanschlag radikale Tierschützer, die mit gewaltsamen Mitteln auf ihr Anliegen aufmerksam machen wollen? Oder steckt noch mehr dahinter? Ist vielleicht sogar das Leben von Menschen in Gefahr? Die Veranstalter sind alarmiert. Der Star des Turniers hingegen, der international gefeierte Spring­reiter Clément, zieht sich in sein Ferienhaus im Südharz zurück. Denn gerade erst ist seine Freundin in den Serpentinen hinunter nach Osterode tödlich verunglückt. Und es gibt immer mehr Hin­weise, dass sich hinter dem Unfall ein Mord verbergen könnte. Was ist los in der Reitsportszene? Kommissar Behrends von der Northeimer Kripo wird eingeschaltet. Es trifft sich gut, dass seine Frau VIP-Tickets für das Burgturnier gewonnen hat. So hat er Gelegenheit, unbemerkt zu ermitteln. Mit Entsetzen begreift er, in welcher Gefahr Reiter und Publikum schweben. Wird er mit seinem Team die Katastrophe verhindern können?
SpracheDeutsch
HerausgeberProlibris Verlag
Erscheinungsdatum15. Juni 2015
ISBN9783954751129
Der letzte Sprung: Harz Krimi

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    Buchvorschau

    Der letzte Sprung - Roland Lange

    2014

    1.

    Warum wachte er mitten in der Nacht auf? Er versuchte, sich aus den Traumtiefen zurück in die Realität zu kämpfen. Es schien ihm, ganz undeutlich noch, als sei ein Geräusch in sein Unterbewusstsein gedrungen. Nein, nicht ein Geräusch, eher eine Vermischung verschiedener Laute. Knistern, Knacken und Prasseln, untermalt von einem dumpfen Brodeln. Er hatte schon so manche Sturmnacht hier oben erlebt, das Rauschen in den nahen Bäumen, brechende Äste und Regen, der gegen Fensterscheiben und auf Hallendächer trommelte. Doch das hatte ihm noch nie Angst eingeflößt. Er versuchte, die Benommenheit fortzuwischen, indem er sich mit der Hand über die Stirn strich.

    Und dann wusste er mit einem Schlag, was sein Herz bis in den tiefen Schlaf hinein zum Rasen gebracht hatte: Das schrille, panische Wiehern der Pferde! Und das ununterbrochene helle Blitzen zwischen den Lamellen der nicht völlig geschlossenen Jalousien! Sonnenstrahlen konnten das nicht sein. Es war kurz nach Mitternacht! Dazu kam noch der beißende Gestank. Er nahm ihn wahr, ohne zu begreifen, was er bedeutete. Schnupperte. Schnupperte noch einmal. Und dann war er wach.

    Brandgeruch!

    Er schwang sich aus dem Bett und war in zwei großen Sätzen am Fenster. Mit nervösen Fingern griff er nach dem Gurt für den Rollladen und zerrte heftig daran. Er hatte die Jalousie nicht einmal bis zur Hälfte nach oben gezogen, da sah er bereits, dass die Stallungen und die Scheune, die sich an das Wohnhaus anschlossen, in hellen Flammen standen.

    Ohne nachzudenken stürzte er, so wie er war, aus dem Zimmer, stolperte die Treppe hinunter und hinaus ins Freie. Barfuß und nur mit seinem Schlafanzug bekleidet lief er über das Kiesbett zur Wohnung seiner Chefin hinüber. Die Schmerzen an seinen Fußsohlen, verursacht durch die kleinen weißen Steinchen, spürte er nicht. Er überwand die beiden Stufen zur Haustür mit einem Sprung und klingelte Sturm. Dann rannte er weiter in Richtung Ställe, drehte sich noch einmal um, aber nirgends leuchtete Licht auf. Er fluchte, hetzte zurück, hielt den Finger auf dem Klingelknopf und lauschte. Aber er sah und hörte wieder nichts.

    Er stieß einen Fluch aus und stürmte wieder los, als er mit einem Blick zur Garage im Feuerschein sah, dass sie offen stand. Sie war leer. Wo war der Wagen seiner Chefin? Warum hatte sie ihm nicht gesagt, dass sie heute Nacht nicht zu Hause sein würde? Abrupt blieb er stehen. Und wo waren die Rumänen, die in der Baracke gegenüber untergebracht waren? Dort war auch alles dunkel. Warum, verdammt noch mal, merkten die nicht, dass es brannte?

    Feuerwehr! Er musste die Feuerwehr alarmieren! Wieso kam er erst jetzt auf das Naheliegende?

    Er versuchte, in seine Hosentasche zu greifen, als ihm bewusst wurde, dass er nur seinen Schlafanzug anhatte. Sein Handy lag oben im Schlafzimmer neben dem Buch auf dem Nachttisch. Er hetzte zurück. Stolperte die Treppe hinauf, begleitet von den Schreien der etwa zwanzig Reitpferde und der Fohlen, die sich nicht selbst aus ihren Boxen befreien konnten, um in Sicherheit zu gelangen.

    Als er den Notruf wählte und gleich darauf die Meldung absetzte, hörte er bereits die Signalhörner und sah beim Blick aus dem Fenster das Flackern der Blaulichter, das sich in hoher Geschwindigkeit unten im Tal durch das Dorf bewegte. Jemand musste vor ihm Alarm ausgelöst haben. Trotzdem würde es noch mindestens fünf Minuten dauern, bis die Löschfahrzeuge den Hof erreichten. Fünf Minuten, die den Tod der Pferde bedeuteten.

    In Windeseile warf er sich eine Jacke über und schlüpfte in seine Schuhe, die neben der Wohnungstür standen. Dann hastete er erneut die Treppe hinunter und rannte über den Platz, direkt auf das Feuer zu. Die Pferde! Sie durften nicht elend in den Flammen verrecken. Er musste versuchen, die Boxen zu öffnen, die von dem Feuer noch nicht eingeschlossen waren. Vielleicht gelang es ihm, das ein oder andere Tier zu retten! Ein lauter Knall ließ ihn kurz verharren. Er blickte nach oben und sah etwas auf sich zukommen, etwas Zischendes, Brennendes. Mit einem Sprung versuchte er noch, auszuweichen, aber es schien, als sei er am Boden festgeklebt. Im selben Moment traf ihn das brennende Etwas und warf ihn zu Boden. Er spürte einen stechenden Schmerz. Dann wurde es schwarz um ihn herum.

    2.

    Zehn Jahre später

    Kriminalhauptkommissar Ingo Behrends zuckte heftig zusammen, als die Tür zu seinem Büro mit einem Ruck aufgerissen wurde. »Mein Gott, Tim, musst du denn hier so reinplatzen?«, rief er seinem Kollegen entgegen, der ihm aufgeregt mit einer Aktenmappe zuwedelte.

    »Du glaubst es nicht!«, krächzte Kommissar Tim Seidel, ohne auf Behrends’ Vorwurf einzugehen, und stürzte auf dessen Schreibtisch zu.

    »Was? Was glaube ich nicht?«

    »Der Unfall in Lerbach!«

    Behrends zog die Stirn kraus, überlegte einen Moment: »Die Frau, die mit ihrem Wagen ungebremst über die Leitplanke geschossen ist?«

    »Richtig. Wie du ja weißt, habe ich …« Seidel riss mitten im Satz seine freie Hand vor den Mund und wurde im selben Augenblick von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt.

    »Du solltest langsam mal was dagegen tun«, mahnte Behrends, als das Husten abebbte. »Ich könnte Katrin fragen …«

    Seidel schüttelte seinen hochroten Kopf: »Lass mal«, entgegnete er heiser, »ist schon viel besser geworden in den letzten Tagen.«

    »Wirklich? Das ist mir gar nicht aufgefallen. Aber wenn du meinst.« Behrends seufzte. Er verstand seinen Kollegen nicht. »Also, was ist jetzt mit dem Unfall? Was haben wir damit zu tun?«

    »Ungebremst, hast du eben gesagt.« Seidel strahlte, als habe er im Lotto gewonnen.

    »Ja, ich weiß«, Behrends begann, ein wenig ungeduldig zu werden, »bitte, komm zur Sache.«

    »Ich hatte ja von Anfang an so meine Zweifel an der Unfalltheorie.« Seidel zog lässig einen der beiden Besucherstühle zu sich heran und warf sich siegessicher darauf.

    »Womit du dir nicht überall Freunde gemacht hast«, erinnerte ihn Behrends. »Du hast deine Nase ziemlich tief in die Angelegenheiten der Kollegen gesteckt, was die gar nicht gut fanden.« Er hatte immer noch die aufgebrachte Stimme am anderen Ende des Telefons im Ohr, die ihn als Seidels Vorgesetzten aufforderte, sich seinen Mitarbeiter vorzuknöpfen und zurechtzuweisen. »Die hatten verschiedene Annahmen, warum die Frau ins Tal gestürzt ist, ohne dass sie versucht hat, den Wagen vorher abzubremsen. Fremdeinwirkung gehörte nicht dazu. Es gab keine entsprechenden Anhaltspunkte. Weder am Auto, noch sonst. Dein Gequengel ist denen jedenfalls ganz schön auf den Wecker gegangen.«

    »Tja, aber wie es aussieht, hatte ich Recht.« Seidel räusperte sich und tippte auf die Mappe. »Möglicherweise geht uns die Geschichte doch etwas an.«

    »Wieso das jetzt?« Behrends zog überrascht die Augenbrauen hoch.

    »Mordanschlag.«

    »Mordanschlag? Wie willst du diese Behauptung belegen?«

    »Dann lies das hier mal.« Seidel stand auf und legte die Mappe geöffnet vor Behrends auf die Schreibtischplatte. »Die Kollegen von der Spurensicherung haben jetzt doch Hinweise gefunden, dass an dem Auto manipuliert wurde.«

    »Ich denke, sie haben den Unfallwagen absolut gründlich daraufhin untersucht und nichts gefunden. Woraufhin du sie mit allerlei wüsten Behauptungen genervt hast. Unter anderem auch mit deiner Mordtheorie.«

    Seidel nickte. »Stimmt. Aber ich war anscheinend nicht der Einzige, dem die Sache keine Ruhe gelassen hat. Die haben da einen Neuen in ihren Reihen. Ein absoluter Computer-Freak.«

    »Ach nee! Hätte nicht gedacht, dass es in unserem Verein außer dir noch so ’nen Verrückten gibt«, unterbrach ihn Behrends grinsend.

    Seidel zog die Mundwinkel ein wenig nach unten. »Mach dich ruhig lustig«, maulte er. »Du solltest mir lieber dankbar sein, dass ich ab und zu mal über den Tellerrand blicke, genau wie Stefan Haertel, der Neue bei den KTU’lern.«

    »Sollte ich?« Behrends beugte sich nach vorn und legte die Arme auf die Tischplatte. In einer väterlichen Geste faltete er seine Hände zusammen. »Na, dann los«, sagte er gemütlich, »erzähl schon. Bevor ich mich mühsam durch diesen Bericht hier quäle.«

    »Äußerlich ist nach wie vor gar nichts zu finden«, bestätigte Seidel die bekannten Fakten. »Aber die modernen Autos strotzen ja nur so vor Elektronik. Da gibt es nichts, was nicht automatisch gesteuert wird.«

    »Sag bloß?«, Behrends konnte sich eine ironische Bemerkung nicht verkneifen, »das ist jetzt aber sogar mir bekannt.«

    »Besonders die Luxusschlitten sind vollgepackt mit allen möglichen Errungenschaften des digitalen Zeitalters«, ließ Seidel sich nicht irritieren. Er kannte seinen Chef. »Die haben mehr und intelligentere Software unter der Haube, als du auf deinem Dienstcomputer da. Und natürlich kommst du mit diesen Bordcomputern auch ins Internet. Wireless-LAN, Mobilfunk, du weißt schon …«

    Behrends entgegnete nichts, sondern zog die Augenbrauen zusammen. Sollte das jetzt ein Vortrag werden?

    »Also, um es kurz zu machen«, reagierte Seidel sofort auf den Missmut, den er in Behrends’ Gesicht erkannt hatte, »die Nobel-karosse der verunglückten Dame hatte sich einen Virus eingefangen.«

    »Wie bitte?«

    Seidel grinste triumphierend. »Das haut dich jetzt um, was?«

    »Einen Computervirus? Meinst du so was in der Art?« Behrends schüttelte verständnislos den Kopf. »Aber wie soll das denn gehen. Ich verstehe nicht …«

    »Ist auch schwer zu verstehen. Aber Haertel von der KTU ist sich jetzt fast sicher, dass bei dem Wagen Lenkung und Bremsen lahmgelegt waren. Zwei elektronisch gesteuerte Funktionen.«

    »Das heißt doch nur, dass die Bordelektronik gesponnen hat«, folgerte Behrends, »zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Das soll vorkommen. Ein technisches Versagen mit Unfallfolge. Wem willst du dafür die Schuld geben? Da jemandem Absicht zu unterstellen, finde ich absurd.« Behrends weigerte sich, Seidels Anschlagtheorie zu akzeptieren. Ein Computervirus im Auto! Wo gab es denn so was?

    »Vordergründig hast du Recht«, gab Seidel zu, »die Elektronik gibt den Geist auf und es kommt zum Crash. Aber warum spinnt der Bordcomputer? Das ist hier die Frage. Der ist Haertel nachgegangen.«

    »Und dabei auf diesen ominösen Virus gestoßen?« Behrends schaute ungläubig.

    »Richtig.« Seidel nickte. »Er selbst hat zwar nicht entdeckt, dass etwas an der Systemsoftware faul ist, aber er hat diverse Kontakte. Zum einen kennt er ein paar Leute in der Autobranche, Studienkollegen von früher, und zum anderen pflegt er intensive Beziehungen zur Hackerszene.«

    »Scheint ja ein ganz reizendes Früchtchen zu sein, dein Haertel«, bemerkte Behrends skeptisch. »So ganz sauber kommt mir das alles nicht vor.«

    »Wenn’s uns hilft«, antwortete Seidel ungerührt. »Jedenfalls scheint es so, dass die Software des Wagens mit schädlichem Code infiziert war.«

    »Aber so ein Virus oder Schadcode muss da auch irgendwie reinkommen. Das weiß sogar so ein blutiger Laie wie ich.« Behrends kratzte sich am Hinterkopf. »Das funktioniert doch nicht wie beim Computer, indem du dir ein verseuchtes Programm aus dem Internet lädst und installierst. Oder kann die Frau das selbst gemacht haben?«

    »Nee, sicher nicht«, entgegnete Seidel. »So einfach kommst du da nicht ran. Theoretisch kannst du zwar per Mobilfunk aus der Ferne irgendeinen Dreck in das bordeigene Mediacenter einschleusen, das sich dann im System einnistet, aber es besteht doch ein großes Fragezeichen, ob das in der Praxis so funktioniert. Das geht eigentlich nur über die Kfz-Fachwerkstatt, beziehungsweise mit dem entsprechenden Diagnose- und Wartungsstecker für die Elektronik. Dafür musst du dann natürlich auf das Auto selbst Zugriff haben. Aber wenn du es geschafft hast, den Virus in den Bordcomputer einzuspeisen, hast du alle Möglichkeiten. Dann kannst du zum Beispiel per Smartphone ein Auto, das mit zweihundert Sachen über die Autobahn rast, zu einer Vollbremsung zwingen, ohne dass der Fahrer auch nur ahnt, was da gleich passiert, geschweige denn, dass er Einfluss darauf hat.«

    Behrends blickte Seidel einige Augenblicke zweifelnd an. »Willst du mir damit sagen, jemand hat über sein Handy die Bremsen und das Lenkrad am Wagen der Frau blockiert, als die durch die Serpentinen nach Lerbach runtergefahren ist?«

    »Das würde zu dem passen, was die Kollegen am Unfallort festgestellt haben, beziehungsweise nicht festgestellt haben. Fehlende Bremsspuren und so weiter.«

    »Meine Güte, das ist ja der reinste Horror«, stöhnte Behrends auf. »Und dein Freund Haertel kann das mit der Fremdeinwirkung tatsächlich beweisen?« Noch sträubte sich alles in ihm, solch ein Szenario zu akzeptieren. So etwas gehörte in James-Bond-Filme, nicht in die Realität.

    Seidel rang sich ein gequältes Lächeln ab: »Sagen wir mal so, es gibt eindeutige Hinweise. Das Problem ist, dass nicht ganz einfach festzustellen sein wird, welcher Auslöser letztendlich für den Unfall verantwortlich ist.«

    »Moment …«, Behrends kratzte sich nachdenklich am Kopf, »es könnte sich also doch um einen ganz banalen Unfall handeln, ohne Fremdeinwirkung. Oder auch um Selbstmord?«

    »Genau genommen schon«, gab Seidel zu. »Trotzdem bleibt die Tatsache, dass vor dem Unfall an dem Wagen manipuliert worden ist und das sicher nicht zum Spaß. Haertel hat …« Er wurde von einem erneuten Hustenanfall unterbrochen.

    Behrends verkniff sich einen weiteren Kommentar.

    »Verdammter Scheißhusten«, keuchte Seidel wenig später. »Also, Haertel hat in der Software eindeutig Schadcode isoliert. Allerdings kennt er die Wirkungsweise noch nicht und es ist auch unklar, wie der Code in das System eingespeist worden ist. Aber der Virus ist nun mal vorhanden. Wir sollten davon ausgehen, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen Schadcode und Unfall gibt.«

    »Hm …« Behrends starrte nachdenklich auf die Mappe mit dem KTU-Bericht. »Wirklich kein Zweifel, dass die Software verändert wurde?«

    Seidel deutete auf den Bericht: »Kein Zweifel. Steht alles da drin.«

    »Na schön. Es hat sich also jemand unerlaubt an der Software zu schaffen gemacht.«

    »Um Yvonne Jasper zu ermorden und alles wie einen Unfall aussehen zu lassen.«

    »Was zu beweisen wäre.«

    »Eben! Und deshalb müssen wir handeln, Ingo!«, drängelte Seidel.

    Behrends nickte und schloss langsam die Mappe: »Tja, das müssen wir wohl«, gab er widerwillig zu.

    »Also leitest du Ermittlungen ein?«, fragte Seidel.

    »Ich werde den Chef und die Staatsanwaltschaft informieren. Die entscheiden.«

    »Meine Güte! Kannst du denn nicht einmal …« Seidel unterbrach sich, hob die Arme und ließ sie gleich darauf hilflos wieder sinken.

    Behrends zuckte mit den Schultern: »So sind nun mal die Regeln«, sagte er und hoffte insgeheim, ein entsprechendes Ersuchen würde abgelehnt werden. Nach allem, was er eben gehört hatte, konnte er getrost davon ausgehen, dass es komplizierte Ermittlungen werden würden, mit unvorhersehbarem Ende. Mit einem leisen, unwilligen Grunzen richtete er sich in seinem Stuhl auf. Dabei schoss ihm ein heftiger Schmerz durch den Oberkörper. Er biss die Zähne aufeinander und griff sich in die Seite.

    »Macht dir immer noch ziemlich zu schaffen, was?«, fragte Seidel mitfühlend.

    »Ach was, geht schon«, presste Behrends hervor. »Nicht so schlimm.«

    »Das sehe ich. Mir willst du Hustenmittelchen von deiner Katrin verpassen, aber du selbst spielst den Helden! Du solltest …«

    »Mir fehlt nichts«, unterbrach ihn Behrends und winkte ab.

    »Okay, okay, ist ja gut«, knurrte Seidel. »Ich verschwinde dann mal wieder.«

    Mit verzerrtem Gesicht blickte Behrends ihm nach, bis die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Dann ließ er sich stöhnend gegen die Stuhllehne fallen. Nein, es ging ihm nicht so gut, wie es sollte. Diese verdammte Schussverletzung machte ihm immer wieder zu schaffen. Weit mehr, als ihm lieb war. Und es gefiel ihm gar nicht, dass es jetzt sogar schon seine Kollegen bemerkten. Vielleicht sollte er sich tatsächlich noch einmal gründlich untersuchen lassen. Katrin wäre erleichtert. Sie drängte schon lange darauf. Er würde mit ihr darüber reden. Demnächst … wenn sich die Gelegenheit dazu bot.

    Ächzend beugte er sich nach rechts, zog eine Schublade seines Schreibtisches auf und tastete nach den Schmerztabletten. Er drückte eine Kapsel aus dem Blister und warf sie sich in den Mund. Mit einem kalten Rest Kaffee, der sich seit dem Frühstück noch in seiner Tasse befand, spülte er die Kapsel hinunter. Dann wartete er darauf, dass die Wirkung einsetzte.

    3.

    »Na, mein Alter, wie geht’s?«, fragte Behrends, als er die Haustür öffnete und Sir Toby, sein Irischer Setter, ihm freudig entgegensprang.

    Er streichelte dem Hund über den Kopf, eine eher mechanische Reaktion. Wirklich bei der Sache war er nicht. Seit Seidel am Mittag in sein Büro gestürmt war, beschäftigte ihn diese mysteriöse Unfallgeschichte. Auch jetzt noch, zum Feierabend. Dabei war es nicht einmal die Tatsache selbst, dass er und seine Leute möglicherweise in einem neuen Mordfall ermitteln mussten. Schließlich waren Gewaltdelikte ihr tägliches Brot! Nein, diese für Behrends unverständliche und wenig greifbare Sache mit dem vermeintlichen Computervirus in der Autoelektronik machte ihm zu schaffen. Das waren Dinge, von denen er nicht allzu viel verstand. Wie sollte er da souverän handeln? Zum Glück wusste er Seidel an seiner Seite, der sich in dieser Welt bestens zurechtfand, die ihm immer noch reichlich fremd war. Allerdings schienen Seidel und dessen neuer KTU-Freund als ausgemachte Computerspezialisten auch nicht genau zu wissen, wie jemand das elektronische Hirn dieser Luxuslimousine hatte unter seine Kontrolle bringen können. Er machte sich nichts vor – die Gefahr, dass sie lange Zeit wie die Deppen im Nebel herumstocherten, war weitaus größer, als die Chance auf einen schnellen Ermittlungserfolg.

    Katrin war nicht zu Hause. Es würde spät werden, hatte sie ihm noch am Morgen mit auf den Weg gegeben. Wie immer, wenn sie mittags zur Arbeit fuhr und die Praxis erst dann wieder verließ, wenn sich andere vor den Fernseher lümmelten, um die Tagesschau anzusehen.

    Behrends hatte Hunger, wusste aber nicht, worauf. Unschlüssig stand er vor dem geöffneten Kühlschrank. Eine einsame Frikadelle auf einem kleinen Teller fristete ihr Dasein zwischen verschiedenen vegetarischen Brotaufstrichen, etwas Wurst und Käse. Nicht gerade viel. Katrin hatte vermutlich auf dem Weg zur Arbeit eingekauft, wie sie es ab und zu machte. Das half ihm jetzt aber nicht weiter. Als Alternative blieb der Stammtischabend mit Bier, Currywurst und Pommes Frites. Verhungern musste er also nicht. Allerdings war er heute nicht in der Stimmung, in den Schwarzen Bären zu gehen. Er öffnete verschiedene Schubladen in der Küchenzeile, fand Dosen mit Chili con carne, Bihunsuppe und Königsberger Klopsen, ließ sie aber allesamt unberührt stehen.

    Also doch Frikadelle, überlegte er. Einen Moment betrachtete er noch den Teller, dann brummte er mürrisch und warf die Kühlschranktür zu.

    »Los, Toby«, rief er in den Flur hinaus, »heb’ deinen müden Hintern! Wir gehen Gassi!«

    Das Essen musste warten. Er beschloss, ein Stück in die Feldmark zu gehen, damit Sir Toby sein Geschäft erledigen konnte und er den Kopf etwas frei bekam. Vielleicht würde er danach eine Runde durchs Dorf drehen und sich auf dem Rückweg eine Pizza mitnehmen. Dieser Gedanke munterte ihn auf. Eine halbe Stunde später stand er mit Sir Toby wieder vor der Haustür. Ohne etwas zu essen in der Hand. Der Appetit auf Pizza war für eine zusätzliche Dorfrunde dann doch nicht groß genug gewesen.

    Unschlüssig streunte er nach einem erneuten Blick in den Kühlschrank und der Erkenntnis, dass sich am Inhalt nichts geändert hatte, durch das Haus, stieg ins Dachgeschoss, ohne zu wissen, was er dort eigentlich suchte. Ein paar Minuten später stapfte er zurück nach unten. Im Wohnzimmer ließ er sich in den schweren Polstersessel fallen und griff in eine halb mit Kartoffelchips gefüllte Schale, die noch vom vergangenen Abend auf dem Couchtisch stand. Kauend starrte er auf das Portrait an der Wand gegenüber. Katrin hatte ihm das Aquarell Anfang letzten Jahres als nachträgliches Hochzeitsgeschenk feierlich überreicht. Vielleicht fünf Minuten saß er andächtig da, stopfte sich immer wieder Chips in den Mund, bis seine Hand ins Leere griff. Sein Magen knurrte immer noch.

    »Scheiße«, fluchte er leise. Er gab sich einen Ruck und drückte sich aus dem Sessel hoch. Warum wollte er eigentlich zu Hause bleiben, anstatt in den Schwarzen Bären zu gehen? Eine bessere Möglichkeit, als sich in geselliger Runde bei einem frisch gezapften Köstritzer Schwarzbier abzulenken, gab es doch gar nicht! Er blickte zur Uhr. Es war zwar noch reichlich früh, aber wenn er jetzt losging, hatte er schon bestellt und vielleicht auch schon gegessen, bevor die anderen Stammtischbrüder zu ihm stießen.

    Karl-Heinz Schrader, genannt Drei-Finger-Kalle, war eigentlich Rentner. Als gelernter Zimmermann waren seine Fähigkeiten im Dorf aber immer noch sehr gefragt. Als Hausschlachter hingegen wurde er nicht mehr gebraucht. Die Zeiten, als er im Winter, wenn auf dem Bau die Arbeit ruhte, im Nebenberuf die Schweine geschlachtet hatte, die ungefähr in jedem dritten Haushalt für den Eigenbedarf gemästet worden waren, gehörten längst der Vergangenheit an. Geblieben waren die Anekdoten, die Drei-Finger-Kalle von seinem mörderischen Treiben zu erzählen wusste.

    Kalle war der Erste der Stammtischbrüder, den Behrends zu Gesicht bekam. Er war immer der Erste. Nur diesmal war Behrends schneller gewesen. Zielsicher steuerte Kalle auf ihn zu.

    »Du schon hier?«, fragte er und klopfte zur Begrüßung mit den Stümpfen der drei Restfinger, die ihm nach der Amputation der vorderen Glieder geblieben waren, auf die Tischplatte. »Wie kommt’s? Bist doch sonst nicht so pünktlich.«

    »Hatte Hunger«, nuschelte Behrends kauend.

    »Das sehe ich.« Kalle schob sich ihm gegenüber auf die Bank und stibitzte ihm ein Pommes-frites-Stäbchen von seinem Teller. »Keine Currywurst heute? War wohl nicht nur der kleine Hunger …«

    Behrends schüttelte den Kopf: »Nee. Zigeunerschnitzel musste schon sein.«

    »Gib auf deine Worte acht«, raunte Kalle, während sich seine noch vollständigen Finger schon wieder den Pommes frites näherten.

    »Wieso …?« Behrends verstand nicht.

    »Zigeunerschnitzel, mein Freund. Das sagt man doch nicht mehr. Ist diskriminierend. Für diese … Sinti oder Roma oder … na, Zigeuner eben. Richtig heißt das jetzt Schnitzel nach Balkan-Art.«

    Behrends sah von seinem Teller auf und vergaß für einen Moment das Kauen: »Was denn … hier auch?«, brummte er angesäuert. »Ich dachte …« Das hatte ihm gerade noch gefehlt, dass dieser Trend zu politisch korrektem Essen jetzt schon bis in die hinterste Provinz durchschlug.

    »Keine Bange, noch hat keiner die Bären-Speisekarte umgeschrieben«, beruhigte ihn Kalle, »aber du solltest besser auf Nummer sicher gehen, wenn du dich nicht unbeliebt machen willst bei all den Weltverbesserern. Bei mir kommen ab sofort jedenfalls nur noch unverdächtige Sachen auf den Teller. Jägerschnitzel, Berliner, Bauernfrühstück und so rühre ich nicht mehr an, solange keine Bezeichnungen dafür gefunden worden sind, die nicht ganze Volksund Berufsgruppen verunglimpfen.« Er starrte Behrends sekundenlang mit todernster Miene ins Gesicht. Der hatte Mühe, dem Blick standzuhalten. Dann brach Kalle plötzlich in wieherndes Gelächter aus und schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte: »Du müsstest mal dein Gesicht sehen! Das hast du mir doch jetzt nicht im Ernst geglaubt, oder?«

    »Natürlich nicht!« Behrends fühlte sich ertappt. Er verdrehte die Augen und widmete sich wieder seinem Schnitzel. Wie auch immer es heißen mochte.

    Die restlichen Männer trudelten nach und nach im Schwarzen Bären ein. Um zwanzig Uhr war der Stammtisch vollständig besetzt, und Kalle hatte seine Zigeunerschnitzel-Anekdote schon wiederholt zum Besten gegeben. Behrends trug es mit Fassung und sah gesättigt den anderen dabei zu, wie sie ihre Currywürste vertilgten.

    »Und? Was machen deine Mörder?«, fragte Holger Diekmann nach einer Weile kauend und griff nach seinem Weizenbier.

    Behrends zuckte mit den Schultern: »Hm … was schon. Arbeit machen die. Normalerweise. Ist aber ziemlich ruhig im Moment.«

    »Kein Killer, den du durch den Harz jagen musst?« Diekmann grinste breit.

    »Nee, brauch ich auch nicht schon wieder.« Behrends wusste, worauf sein Freund anspielte. Er erinnerte sich nur ungern an die Vorfälle, die ihn seinerzeit beinahe das Leben gekostet hatten und ihm schmerzhaft nachhingen, wie er heute Mittag wieder zu spüren bekommen hatte.

    »Wirklich? Nichts, was eine kleine Meldung in meinem Burgblick wert ist? Na los, komm, irgendwas hast du doch bestimmt für mich.«

    Behrends zögerte. Einen Moment lang war er versucht, Diekmann etwas von der vermeintlichen Automanipulation zu erzählen, ließ es aber bleiben. »Vergiss es«, sagte er nur und wandte sich stattdessen Thorsten Hoppe zu.

    Der junge Mann gehörte noch nicht lange zum Kreis der Stammtischbrüder, war sehr gesellig und trinkfreudig. Vor allen Dingen aber war er Kfz-Mechaniker und arbeitete in der Osteroder Filiale eines großen Autohauses im Industriegebiet Leege, ein Umstand, der Behrends in diesem Moment wieder einmal sehr gelegen kam.

    »Sag mal, Thorsten, du kennst dich doch als Kfz-Mechaniker bestimmt auch mit der Auto-Elektronik aus, oder?«, fragte er.

    »Klaro! Deshalb sind wir heutzutage ja nicht mehr die traditionellen Mechaniker. Wir nennen uns jetzt Mechatroniker. Zumindest wir Jungen mit der entsprechenden Ausbildung«, entgegnete er stolz. »Was willst du wissen? Spinnt deine Scheißkarre mal wieder?«

    Behrends wurde bei Hoppes Worten schmerzlich bewusst, dass er mit seinem neuen Opel Meriva ein Montagsauto fuhr. Er dachte an seinen alten, treuen Skoda Octavia, den er noch gut zwei bis drei

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