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Die Wendland-Verschwörung
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eBook276 Seiten3 Stunden

Die Wendland-Verschwörung

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Über dieses E-Book

Ungleicher könnten sie nicht sein: Hier Mark Schlitter, erfolgreicher und weltläufiger Kriegsberichterstatter, und dort sein hasserfüllter, gewalttätiger Bruder Heinz, Landwirt in der Lüneburger Heide, der vor dem persönlichen und wirtschaftlichen Untergang steht. Sie haben sich nie gesehen.
Als Heinz sich zunehmend radikalisiert und in die Attentatspläne einer rechten Verschwörung verwickeln lässt, kreuzen sich ihre Wege.
Zwei Welten stoßen auf einander.
Gelingt es Mark, seinen Bruder umzustimmen?
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum12. Mai 2021
ISBN9783740741402
Die Wendland-Verschwörung
Autor

Michael Krüger

Michael Krüger wuchs in Deutschland und Namibia auf, studierte in Berlin Wirtschaftswissenschaften und spezialisierte sich auf Internationales Marketing. Ende der 90-er Jahre wechselte er in den Bereich Wirtschaftsförderung und gründete 2002 sein eigenes Beratungsunternehmen mit dem Schwerpunkt Wirtschaftsförderung für deutsche und internationale Kunden. Michael Krüger ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er lebt mit seiner Familie in Berlin. "bauernopfer" ist sein zweiter Roman. www.michael-krueger-schreibt.com

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    Buchvorschau

    Die Wendland-Verschwörung - Michael Krüger

    1. Mark

    »Verdammt noch `mal wo steckst Du? Ich brauche einen Beweis!«

    Mit zusammengepressten Lippen fluchte Mark Schlitter vor sich hin. Hinter einer zerschossenen Häuserwand Schutz suchend, wünschte er, er könnte das alles übertönende Inferno aus abgehackten Gewehrsalven und dem Kreischen überfliegender Artilleriegeschosse ausschalten. Explosionen erschütterten den Boden. Irgendwo kreisten Kampfhubschrauber, jagten Raketen in berstende Häuserfassaden.

    Nur in den sporadischen Gefechtspausen war das menschliche Leid zu hören, das Schreien der Verletzten, die Rufe nach Sanitätern, das Wehklagen der Mütter, die ihre Kinder vor ihren Augen sterben sahen. Es gab nicht annähernd genug Worte, um diese Töne zu beschreiben.

    Vorsichtig versuchte er, sich einen Überblick zu verschaffen. Von den Dächern und aus den schwarz gähnenden Fensterlöchern schossen Scharfschützen auf alles, was sich bewegte. Brennende Autowracks, Lehmziegel und Strom- und Telefonkabel übersäten die Straßen; dazwischen vereinzelt Leichen, die erloschenen Gesichter grau, die jüngsten Opfer sinnlosen Mordens unter Brüdern. Junge und alte Männer, nahezu identisch gekleidet. Nach wenigen Stunden Häuserkampf verblichen alle Farben, hüllte sich alles in den beige-grauen Farbton aus Lehm- und Betonstaub, vermischt mit Blut, Schweiß und Tränen.

    Langsam hob Schlitter seine Kamera über die Mauerkrone. Auf dem Monitor suchte er das entscheidende Motiv, den endgültigen Beweis. Schweiß brannte in den Augen, der Atem kam stoßweise.

    »Let’s go!«, drängte Chaled, sein Führer. »Wir sind zu nah dran, Mark. Sie können uns sehen.«

    »Gib mir eine Minute. Ich brauche noch den Beweis!«

    Und dann fand er endlich das gesuchte Motiv, die Silhouette eines T90 Panzers, das Rohr der 125mm Kanone in der Fensterhöhle kaum zu erkennen; aber der hintere Teil des Gebäudes war bereits weggebombt und das Heck des Kolosses war zwar staubübersät, aber deutlich identifizierbar und darauf das Zeichen der Russischen Föderation: weiß, blau, rot. Der Beweis!

    Das Geschütz zuckte einmal zurück. Die Information, dass auf ihn geschossen wurde, wollte irgendwie einen Weg zu einer Handlung bahnen, aber er war wie gelähmt. Er versuchte aufzuspringen, er schrie und sah wie in Zeitlupe die oberste Ziegelreihe in einer Staubfahne zerbarst, die Kamera in kleinste Splitter zersprang, gefolgt von einer ohrenbetäubenden Explosion. Erst jetzt konnte er reagieren, aber anstatt zu rennen, erhob er sich unendlich langsam, stand erstarrt auf dem Schutthaufen, und schaute mit Neugier auf die Stummel seiner Unterarme, aus denen das Blut in rhythmischen Kaskaden herauspumpte.

    Schreiend, nach Luft ringend und schweißgebadet schreckte Schlitter aus seinem Alptraum auf. Der Puls raste. Tränen liefen über sein Gesicht. Er ließ den Kopf in seine Hände sinken, spürte erleichtert die körperliche Unversehrtheit, bewegte vorsichtig seine Finger, richtete sich dann mit einem Ruck auf, strich fahrig durch die nassen Haare. Sein Mund war ausgetrocknet, er schmeckte Blut.

    Zitternd tastete er nach dem Schalter der Nachttischlampe. Das Licht beruhigte ihn. Er war zuhause, auf der Mahagonny. Das T-Shirt klebte an seinem Oberkörper. Die Bettlaken waren feucht. Er stand auf, fischte aus dem Schrank ein trockenes Hemd und zog sich an. Dann trat er aufs Deck des Schiffes und sog die kalte Herbstluft ein.

    Langsam verblassten die Schreckensvisionen des Alptraumes. Er stand an der Reling, rauchte und lauschte den Geräuschen der Nacht. Fröstelnd blickte er noch einmal um sich und trat zurück in das Innere des Bootes.

    Die Flasche Whisky in der Hand setzte sich Schlitter an den Tisch, auf dem aufgeschlagene Zeitungen der vergangenen Tage lagen. Rezensionen kürzlich erschienener Dokumentationen über die Kriege und Bürgerkriege im Vorderen Orient. An Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Er wusste, was kommen würde. Der Absturz.

    2. Lena

    Schläfrig zögerte Lena das endgültige Erwachen hinaus. Das Zimmer war bitterkalt. Eine leichte Atemwolke schwebte in den das erste Tageslicht andeutenden Lichtkegel, um sich dann in der Dunkelheit des Raums aufzulösen. Pro Sekunde ein Atemzug. Pro Sekunde eine Wolke.

    »Besser ich stehe auf«, dachte sie resigniert, »bevor er wieder zu brüllen anfängt«. Was würde sie dafür geben, liegen bleiben zu können! Sie schlug die Decke zurück, setzte sich aufrecht, ihre Füße vorsichtig auf den abgeranzten Teppich setzend. Eine fadenscheinige Pyjamahose, ein weißes Unterhemd.

    »Fuck, es regnet schon wieder!«

    Seit Tagen lag dieser graue Schleier aus morgendlichem Nebel und tief liegenden Wolken über den abgeernteten Feldern. Überall tropfte es, war es feucht und klamm. Insbesondere hier zuhause, falls man es denn ein Zuhause nennen konnte; dieses Loch, eine Bruchbude, ein stinkender und langsam verfallender Haufen Müll.

    »Nicht einmal das Haus kann er in Ordnung halten.«

    Sie nahm ihre Sachen vom Stuhl, entriegelte leise die Tür, vergewisserte sich, dass niemand zu sehen war, trat in den Flur und verschwand im Bad, sorgsam die Tür hinter sich abschließend. Nicht, dass das nutzen würde, wenn es darauf ankam, aber bisher hatte es funktioniert.

    Mit einer entschlossenen Bewegung drehte sie den Wasserhahn an der Badewanne auf. Der Badeofen setzte sich in Gang. Ein Schwall heißen Wassers spritzte in die Wanne. Dampf breitete sich in dem kalten Raum aus. Schnell streifte sie ihre Kleider ab und stieg in das nur wenige Zentimeter hoch stehende Wasser. Sie seifte sich ein, wusch die Haare und beeilte sich, Schaum und Shampoo wieder abzuspülen, bevor das warme Wasser zur Neige ging.

    Auf dem Flur näherten sich schwere Schritte. Ein Schlag gegen die Tür ließ sie zusammenzucken.

    »Beeil dich«, brüllte ihr Vater ungehalten, »ich muss los!«

    »Bin schon fertig«.

    Sie trocknete sich oberflächlich ab, sprang in frische Kleider und hastete zur Tür. Der übellaunig wartende Vater wurde von dem plötzlichen Aufreißen der Tür überrascht und wich einen Schritt zurück. Lena nutzte den schmalen Spalt, huschte durch einen ekelerregenden Dunst aus Alkohol, Nikotin, kaltem Schweiß und ungewaschener Kleidung an ihm vorbei und eilte zurück in ihr Zimmer. Sie hörte die Badezimmertür laut ins Schloss krachen und ging davon aus, dass sie jetzt einige Minuten Zeit haben würde. Körperpflege war sein Ding nicht.

    »Arschloch«.

    Dunkle Jeans, schwarzes T-Shirt, verschlissenes Hoody, ausgetretene Springerstiefel.

    »Raus hier.«

    Ein kurzer Blick in die Küche im Erdgeschoss bestätigte ihr, dass ihr Vater und seine Kumpane die ganze Nacht durchgesoffen hatten. Es stank nach schalem Bier und überquellenden Aschenbechern.

    3. Heinz

    Die Arme auf dem schmutzigen Waschbecken aufgestützt stand Heinz Fiedler schwer atmend in dem noch nebligen Bad und stierte in den beschlagenen Spiegel. Mit dem üppig behaarten Unterarm wischte er sich eine Fläche frei, groß genug, um sein aufgedunsenes Gesicht und einen Teil seines Oberkörpers sehen zu können; die ungekämmten Haare, fettig am Kopf klebend, das graufahle Gesicht mit den schweren dunklen Tränensäcken, Bartstoppeln, das schmutzige Unterhemd, dass sich über seinem über den Hosenbund hängenden Bauch spannte.

    »Was soll’s? - Leck mich!«, brüllte er seinem Spiegelbild entgegen, »geht dich gar nichts an!«, schlug mit der flachen Hand auf den Beckenrand und schlingerte zur Toilette. Er erleichterte sich geräuschvoll im Stehen.

    Zurück am Waschbecken starrte er erneut in sein Gesicht, ließ etwas Wasser in seine Hände fließen und spritzte es ins Gesicht. Das reichte. Er schüttelte den massigen Kopf, strich die Haare aus der Stirn, trocknete die Hände an der fleckigen Hose, die er gestern schon getragen hatte und vorgestern und wahrscheinlich auch schon letzte Woche. Fast aus dem Bad herausgetreten, blieb er stehen und versuchte, der Alkoholschwaden in seinem Hirn Herr zu werden.

    »Heinz«, hatte Hermann gesagt, »Heinz, Mensch reiß dich zusammen. Du stinkst, du siehst aus wie einer dieser Penner in Hamburg, am Bahnhof, wie diese dreckigen Typen aus dem Kosovo, aus dem Irak, Afghanistan.«

    Hermann, sein Idol. So groß und klar. Soldat durch und durch, auch wenn er das inzwischen nicht mehr war.

    »Heinz, wir brauchen deine Hilfe. Du bist der richtige Mann für uns. Wir brauchen dich, Kamerad«, und Heinz hatte beinahe stramm gestanden vor ihm, vor Hermann.

    »Du musst dich in den Griff bekommen, dein Leben. Wasch dich mal und zieh dich ordentlich an. Dein Hof sieht aus wie eine Müllhalde und verkommt immer mehr. Du siehst aus wie ein Wrack. Wir zählen auf dich. Wir sind besser als dieses Asylantenpack, wir sind stärker als diese Weicheier, diese Sozis und die liberalen Schwuchteln.«

    »Ich weiß, ich weiß.«

    »Dann reiß dich am Riemen. Es geht um den Sieg. Und du musst deinen Teil beitragen. Das fängt schon beim Äußerlichen an. Du musst dich in den Griff kriegen. Sonst müssen wir uns anderweitig umschauen.«

    »Das müsst ihr nicht«, hatte Heinz hastig hervorgestoßen.

    »Ich zähle auf dich.«

    Das hatte noch nie jemand zu ihm gesagt.

    »Jawoll!«

    Zwei Tage war das her. Und gestern hatte er sich dennoch so richtig die Kante gegeben. Der Kopf dröhnte. Reumütig kehrte er um. Betrat das Bad erneut und unterzog sich einer gründlichen Reinigung, rasierte sich, versuchte, das struppige Haar zu bändigen, und entsorgte die schmutzigen Kleidungsstücke in einen Waschkorb. Nur mit dem Handtuch um die Hüfte gebunden humpelte er durch den Hausflur, die Treppe hinab, raus aus dem Haus und hinüber zu seinem Verschlag in der Scheune. Fand nach einigem Suchen eine zwar alte, aber leidlich saubere Jeans, ein verblichenes T-Shirt und einen dunkelblauen Pullover.

    Er betrachtete sich zum ersten Mal seit Jahren komplett im Spiegel und fand, dass Hermann stolz auf ihn sein könnte.

    »Du kannst auf mich zählen, Hermann«, murmelte er.

    4. Lena

    Zügig näherte sie sich dem langsam erwachenden Ort. Das Tretlager ihres alten Rades gab ein ungesundes Quietschen von sich. Für ein neues Rad fehlte das Geld. Vereinzelt nahm sie Geräusche von den an der Straße liegenden Gehöften wahr. Hier das Scheppern von Milchkannen, dort die unruhig auf das Melken wartenden Kühe, vereinzeltes Muhen, stotternde Traktoren. Jeden Morgen das Gleiche.

    Von hinten näherte sich ein Trecker, hupte und fuhr nur knapp an ihr vorbei. Hinnerk, Saufkumpan ihres Vaters, grinste sie schmierig und anzüglich aus der hell erleuchteten Kanzel herab an, leckte sich über seine fleischigen Lippen. Lena streckte den linken Arm aus und winkelte den Mittelfinger nach oben. Hinnerk lachte meckernd und brüllte zu ihr herunter.

    »Du mich auch.«

    »Notgeile Sau!«, brüllte sie zurück. »Ich sag’s meinem Vater.«

    »Mach das«, lachte er erneut.

    Hinnerk gab Gas. Der Motor des aufgemotzten John Deer dröhnte auf und das schwere Gerät beschleunigte. Ein feiner Nebel aus hochgewirbeltem Wasser sprühte über Lena.

    Der Markt lag am Ortseingang. Licht schimmerte aus den noch verschlossenen Schiebetüren. Carsten Knoop, der Marktleiter, nickte ihr freundlich zu.

    *****

    »Kann ich noch was bleiben?«, fragte Lena, nachdem der Markt um 18:30 Uhr geschlossen hatte. Zwischen den Regalreihen hörte sie das Summen der Bohnermaschine, im Warenlager pfiff Christian, der Lagerist, irgendeine Melodie, völlig schief, aber voller Begeisterung. Carsten schaute von seinen Abrechnungen auf.

    »Klar, Mädchen, nimm Björns Rechner. Da hast du deine Ruhe.«

    Lena verschwand in dem kleinen Nebenraum, in der die IT-Infrastruktur und die Steuerungsanlagen für Klima, Kühlung, Überwachungskameras und andere technische Gerätschaften des Marktes untergebracht waren. Dies war Björns Reich. Er kam alle paar Tage für einige Stunden aus Lüneburg rüber, um Carsten bei den technischen Fragen zu helfen. Inzwischen war sie so etwas wie seine Assistentin vor Ort.

    Mit geübten Fingergriffen loggte sie sich in das System ein, öffnete den Browser und überflog die Web-Seiten einiger Nachrichtenportale. Schließlich öffnete sie ein neues Fenster und gab die Web-Adresse von Ragnarök ein.

    Die Web-Seite war mit germanischen und keltischen Symbolen bestückt. Sie richtete sich offensichtlich an eine vorwiegend landwirtschaftliche Zielgruppe. Es gab Hinweise auf Ackerbau und Viehzucht und einen Marktplatz für gebrauchte Gerätschaften. Es gab einen Veranstaltungskalender, in dem die Winter- und Sommersonnenwendfeiern eingetragen waren, Julfeiern und zwei bevorstehende Eheleiten, die anstelle der christlichen Hochzeit gefeiert wurden.

    Lena klickte sich zur „Blog-Seite durch. Dort wurden „nicht-völkische Einwohner mit Hass-Tiraden überzogen, wurde zu Boykott-Aktionen gegen Veranstaltungen der Atomkraftgegner aufgerufen, Politiker jeglicher Couleur aufs Übelste beschimpft. Da war vom Verrat am deutschen Volk die Rede, von Verschwörungen des „Welt-Judentums aber auch des „Islam den deutschen Staat zu vernichten und das deutsche Volk auszurotten.

    Es war unerträglich. Gequält durchkämmte sie die Einträge auf der Suche nach Hinweisen zu Aktionen in unmittelbarer Nähe. Sie wusste, dass ihr Vater irgendwie mit Ragnarök verbandelt war. Wenn sie am Wochenende nachts in ihrem Bett lag, konnte sie die Schwachköpfe in der Küche grölen hören, wenn sie ihren Hass auf die Gesellschaft im Allgemeinen und Ausländer insbesondere lautstark heraus-brüllten, und wie sie drohten, dem ganzen Spuk ein Ende zu bereiten.

    In den letzten Monaten hatte sich die Lage zuhause jedoch etwas geändert. Es fanden jetzt häufiger „Besprechungen im kleinen Kreis" statt, die wesentlich gesitteter abliefen. Es gab weniger Alkohol, es herrschte eine gewisse Pünktlichkeit. Schlag fünf Uhr trafen sich etwa acht Männer mittleren Alters auf dem väterlichen Hof, verschwanden wortlos in der Küche und kamen nach einigen Stunden wieder heraus. Lena kannte sie nicht alle. Klar, Hinnerk, Arschloch No. 2 war natürlich dabei. Aber die anderen Teilnehmer kannte sie nicht. Ein Mann stach aus der Ansammlung von Landwirten in tarnfarbenen Hosen, ausgemusterten Bundeswehrparkas und Landser-Mützen heraus. Er kam als Letzter, ging als Erster. Immer schwarz gekleidet. Bürsten-Haar-schnitt. Etwa 1,90 m groß. Er fuhr einen matt-schwarz lackierten Chrysler 3000 C Kombi mit Lüneburger Kennzeichen. Ein Geschoss von einem Wagen mit einem mächtigen Kühlergrill und dunklen Scheiben. Auf der Rückscheibe klebte irgendein Schriftzeichen und daneben das Wort Ragnarök.

    Sie scrollte durch die Einträge. Endlich fand sie das Gesuchte:

    „Ragnarök 3. Oktober".

    Sie war sich fast sicher, dass dieser Eintrag auf das nächste Treffen mit dem großen schwarz gekleideten Mann auf dem Hof hinwies.

    Vor einigen Monaten hatte sie zum ersten Mal ein Heft mit dem Aufdruck ‚Ragnarök‘ in der Küche herumliegen sehen. Eine Art Wikinger mit Streitaxt und unter einem Helm hervorquellenden schulterlangen Locken war auf dem Deckblatt abgebildet. Neugierig hatte sie durch das Heft geblättert. Da war von einer epischen Schlacht zwischen Göttern und den Mächten der Unterwelt die Rede. Von Thor und Odin. Reich bebildert, vermittelte das Heft den Eindruck einer Heldensage. Irgendwie wie das Nibelungenlied, das sie mal in der Schule besprochen hatten.

    Sie fand insgesamt fünf Einträge im Blog. Immer das gleiche Format: Ragnarök und ein Datum. Lena öffnete den Kalender und suchte die entsprechenden Daten heraus. Sie war sich sicher, dass sie zeitlich mit den Besuchen des großen schwarzen Mannes auf dem Hof zusammenfielen.

    Im Internet fand sie reichlich Informationen zu dem Begriff Ragnarök. Kurz gefasst war es die Götterdämmerung in der nordischen Mythologie, der finale Kampf, an dessen Ende eine neue, gereinigte Welt aus dem Meer emporsteigt. Wieso beschäftigte sich ihr Vater, der sich für gar nichts außer Kartoffeln, Saufen und Brüllen interessierte, mit der nordischen Mythologie? Und diese anderen Männer?

    5. Heinz

    Stoßartig schnaufend schielte er an dem langen schwarzen Lauf entlang. Reichlich unbequem bei dem stark nach hinten gebogenen Nacken. Die Mündungsöffnung drückte hart ins unrasierte Kinn. Schweiß rann von Stirn und Schläfen, und fand seinen Weg durch geschlossene Lider, brannte in den angestrengt zusammengekniffenen Augen, sodass er immer wieder blinzeln musste.

    Drück’ ab!

    Mach endlich Schluss!

    Vor dem geschlossenen Auge Bildfetzen des selbst gerichteten Vaters: Blut, Hirn und Splitter des zerborstenen Schädels an der Scheunenwand.

    - Pause –

    Marie, die ihn anschrie, er solle endlich aufhören zu saufen - Oh ja, das konnte sie wirklich gut. - Maries Kopf in Zeitlupe gegen den Türrahmen schlagend, die platzende Kopfwunde – Mehr Blut.

    Mach Schluss!

    Jetzt!

    Sein rechter Daumen tastete nach dem vom Schweiß glitschigen Abzug, fuhr das angewärmte gekrümmte Eisen entlang. - Vor und zurück, vor und zurück.

    Was, wenn ich mich nur verletze? Schieß ich mir am Ende nur den halben Kopf weg und lande als gelähmte Lachnummer des ganzen Dorfes im Rollstuhl! - Nich’ mal das kann er richtig!

    Nahm die Flinte zur Seite, rollte den verspannten Nacken über die klatschnassen Schultern, fröstelte, blickte um sich, erkannte, dass er den richtigen Moment wieder einmal verpasst hatte, stütze den sich nicht erschießen lassen wollenden Kopf in die linke Hand, atmete tief ein, tief aus, wurde ruhiger.

    Ich kann es nicht!

    Verzweiflung und Hass stiegen auf. Wie oft hatte er so schon hier gesessen, Flinte am Kinn? Voller Abscheu warf er schließlich den wieder gesicherten Vatertöter auf das ungemachte Bett, nahm mit flattrigen Händen die Flasche Korn und fing an zu trinken, systematisch, Zug und Zug, löschte alles Denken, löschte Bilder, löschte Hass und Schmerz, bis er frühmorgens vom Stuhl kippte und an Ort und Stelle in bleiernen Schlaf fiel.

    6. Heinz

    »Fünftausendzweihundert Euro jeden Monat!«, stöhnte Hinnerk. »Stell

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