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Der Teufelspakt
Der Teufelspakt
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eBook431 Seiten6 Stunden

Der Teufelspakt

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Über dieses E-Book

Ein geheimnisvolles Manuskript ändert das Leben des Schriftstellers Jan Droom radikal.
Beim Versuch, die alte Handschrift zu entziffern, vermischen sich zunehmend Realität und Fiktion, Wirklichkeit und Wahn – bis am Schluss nur noch Fragen bleiben, auf die es nur entsetzliche Antworten geben kann:
Was hat die verführerische Susanne mit ihm vor? Und wer ist die rätselhafte Unbekannte in Schwarz, die immer wieder Jans Weg kreuzt?
Mehr und mehr gleitet er in eine albtraumhafte Welt ab, aus der es kein Entrinnen gibt.
SpracheDeutsch
HerausgeberAtlantis Verlag
Erscheinungsdatum17. Mai 2020
ISBN9783864027369
Der Teufelspakt

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    Buchvorschau

    Der Teufelspakt - Michael Siefener

    www.atlantis-verlag.de

    Erstes Buch

    »Ah! Ich bin so verlassen, dass ich dem ersten besten Götterbilde meine Sehnsucht nach Vollkommenheit darbiete.«

    Rimbaud

    Prolog

    Die schwarzgekleidete Frau betrat das kleine Antiquariat, ging an dem Inhaber vorbei, der hinter seiner mit Büchern vollgestopften Theke nicht einmal aufschaute, und begab sich zu den Literaturregalen im hintersten Teil des schmalen, dunklen Ladens. Sie hielt ein kleines, schwarzes Leinenbändchen in der Hand, das sie mitgebracht hatte, und öffnete es ein letztes Mal. Ihr breitrandiger Hut neigte sich beinahe bis auf die Blätter. Dann klappte sie das Büchlein zu und zwängte es zwischen zwei dickleibige Romane. Sie drehte sich rasch um, senkte den Kopf, sodass ihr Gesicht unsichtbar blieb, und ging schnell an dem Antiquar vorbei und hinaus in die Glut des Sommers. Sie schien sich im Flimmern der Hitze aufzulösen.

    Der Antiquar hatte nichts davon mitbekommen; er hatte nicht die schwarzgekleidete Frau bemerkt und auch nicht, dass sie ihm etwas geschenkt hatte. Nein, eigentlich hatte sie das Buch nicht ihm geschenkt, sondern demjenigen, der es entdecken und kaufen würde. Ein Ahnungsloser, ein Unschuldiger würde es sein, ein Mensch, dessen Schicksal sich an dem Tag entschied, an welchem er den kleinen, in schwarzes Leinen gebundenen Band mit zu sich nach Hause nahm. Er würde erst begreifen, dass etwas nicht stimmte, wenn es schon zu spät war.

    Viel zu spät.

    Das Spiel konnte beginnen …

    Montag, 14. August

    Gestern war es einfach unerträglich. Es war ein entsetzlich heißer Tag; das Thermometer am Küchenfenster zeigte zweiundvierzig Grad in der Sonne an. Heute Morgen ist es auf vierunddreißig Grad gefallen, doch der wolkenlose, grausam blaue Himmel verspricht erneut, die Stadt in einen Höllenofen zu tauchen. Schon saugt sich mein Hemd wieder am Rücken fest; wenn ich mich leicht bewege, laufen kitzelnde Rinnsale die Haut entlang, fangen sich im Bund der Hose und hinterlassen, wenn sie getrocknet sind, ein Gefühl von unsauberer Klebrigkeit. Es ist keine Besserung in Sicht. Gestern vor genau zehn Jahren stürzte sich meine Mutter in einem Anfall von schizophrenem Wahn von dem Balkon dieser Wohnung drei Stockwerke tief in den Tod. Ich hatte gehört, wie sie die Balkontür öffnete, hatte das Klimpern ihrer langen Fingernägel auf dem Blech der Brüstung gehört, hatte den Schrei gehört, der so erschreckend schnell leiser wurde. Noch immer irritiert es mich, dass ich keinen Aufprall vernommen habe, sondern nur den beinahe endlosen Schrei. Sie war auf der Stelle tot. Zehn Jahre. Dreizehnter August. Jedes Jahr bricht es an diesem Tag durch die dünne Oberfläche meines kleinen Lebens. Ich trauere nicht mehr, dennoch bleibt ein seltsames Gefühl; es wird mich durch mein Leben begleiten wie ein lästiger Freund: Ein Gefühl der Leere genauso wie ein Gefühl für die Bedeutung des Augenblicks, denn nicht große Zeitabläufe, sondern Sekunden und Bruchteile von Sekunden entscheiden über unser Leben – eine Gegenwart, die es eigentlich gar nicht gibt. Wo hört die Vergangenheit auf und beginnt die Zukunft?

    Ich weiß nicht, warum ich überhaupt noch etwas unternehme. Warum bewege ich meinen Körper und meine Gedanken in einer gefrorenen Welt? Auch unter der Hitze liegt eine gefrorene, eine erfrorene Welt.

    Jan Droom stand von seinem kleinen Pressspanschreibtisch auf und ging an das Fenster des Zimmers, in dem er den weitaus größten Teil seiner Zeit verbrachte. Er schaute hinaus auf die schmale, unter Hitze und Dürre braun gewordene Wiese, die zwischen der Rückfront des großen Wohnblocks und einer etwa drei Meter hohen Backsteinmauer lag, hinter der sich ein staubiger Garagenhof erstreckte. An diesen schloss sich in einiger Entfernung ein Bahndamm an, der von alten Platanen gesäumt war, und dahinter ragten die Giebel eines Wohnsilos in den bleichblauen, hitzeflirrenden Himmel. Links neben dem Garagenhof standen quer zu Jans Blick weitere Wohnhäuser, die bis beinahe in die Bahnlinie hineinreichten. Kinder tobten auf der Sackgasse zwischen den zu schwitzen scheinenden Gebäuden und verhöhnten die sengende Hitze.

    Frohe Kindheit! An seinen Vater konnte er sich kaum erinnern. Er war ein stiller, mürrischer Mann gewesen, den Jan nie hatte lachen sehen. Nicht einmal ein Lächeln hatte Platz in dem grausteinernen Gesicht gefunden. Er starb, als Jan noch ein Kind war – woran, hatte Jan nie erfahren.

    Jan ging zurück zum Schreibtisch und setzte sich vorsichtig wieder auf das feucht gewordene Holz seines wackligen Stuhls. Jede Bewegung war eine Qual. Er schwitzte fürchterlich, nahm ein Papiertuch aus der Brusttasche seines Hemdes und fuhr sich damit über die Stirn. Es weichte sofort auf. Weiße Fasern klebten an seiner Haut.

    Mit langsamen Augen las Jan die wenigen Zeilen in seinem Tagebuch. Er hatte sich vor vielen Jahren vorgenommen, über jeden Tag zu schreiben und so einen Roman über sein inneres und äußeres Leben zusammenzustellen, doch schon nach wenigen Wochen war ihm der Zwang, den die weißen Tagebuchseiten auf ihn ausübten, unerträglich erschienen. Er besaß nichts, was er hätte festhalten können. Er sagte sich, dass es eine gute Übung sei, eine Stilschule, doch er vermochte sich nicht zu überlisten. Lieber schrieb er über Dinge, deren Beziehung zu seinem eigenen Leben er verleugnen konnte.

    Jan Droom war Schriftsteller.

    Seit zwei Jahren mühte er sich mit dem geschriebenen Wort ab und hatte einen Roman verfasst, der bisher unveröffentlicht geblieben war. Jan schaute auf seine Armbanduhr. Der Postbote musste dieses Haus schon bedient haben. Jans Herz schlug einen Takt schneller. Vor einigen Wochen hatte er seinen Roman wieder einmal an zwei Verlage gesandt und bisher keine Antwort erhalten. Natürlich gab es keinen Grund zur Hoffnung. Wenn Post für ihn dabei gewesen wäre, hätte der Bote geschellt. Doch vielleicht … Es folgte das tägliche Ritual.

    Jan stand langsam auf und ging in den schmalen, kahlen Flur. Er nahm den kleinen Bund vom schmiedeeisernen Schlüsselbrett und öffnete vorsichtig die Wohnungstür, nachdem er gehorcht hatte, ob alles ruhig war. Er wollte niemandem begegnen. Jan hasste die Fragen und den Spott in den Augen der anderen, und er vermied es, in diese Augen blicken zu müssen, denn er hatte Angst, dass sie nichts als Spiegel sein könnten. Die Türen seiner Nachbarn zur Rechten und zur Linken – Jan wohnte in einer Mittelwohnung, deren beide Zimmer zum Hof hin zeigten – blieben verschlossen, doch die Türspione starrten wie lidlose Augen hinaus auf den Treppenabsatz. Wer wusste schon, mit welchem Gehirn sie verbunden waren?

    Zögerlich und ängstlich darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen, tappte Jan in seinen weichen Pantoffeln nach unten. Je tiefer er kam, desto milder wurde die Hitze, dennoch war dieser Abstieg für ihn nicht angenehm. Er wusste nicht, wer hier wohnte, und er wollte es nicht wissen. Jede menschliche Zugegenheit störte ihn. Er schlich an den Türen vorbei, als wären es Fallen.

    Endlich hatte er das Erdgeschoss erreicht. Mit einem schnellen Blick sah er, dass aus einigen Briefkästen schmutzig weiße Umschläge herauslugten. Sein eigener Kasten war natürlich wieder einmal leer. Dennoch schloss Jan ihn auf, um sich zu überzeugen. Nicht einmal Staub lag darin.

    Er hastete hoch und kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Das Tagbuch klappte er zusammen und legte es fort. Warum fürchte ich mich so?, fragte er sich mit lauter, belegter Stimme.

    Manchmal redete er mit sich selbst, nur um diese Stimme zu hören und ein Zeichen von Leben durch die kleinen Zimmer zu schicken.

    Es ist nicht meine Schuld, dachte er, als er eine kleine Holzschale auf dem Schreibtisch öffnete, einen Bleistift daraus hervorholte und an ihm kaute. Es war die Schuld seiner Eltern. Sein Vater war kein Vater für ihn gewesen, und seine Mutter hatte lange Jahre an jener Krankheit gelitten, die ihr schließlich zum Verhängnis geworden war. Menschliche Kontakte waren verboten; Jan war wie auf einer Insel aufgewachsen, einer Insel des Schreckens inmitten eines Meeres der Dunkelheit und Fürchternisse. Wie oft hatte er sich nach dieser Dunkelheit gesehnt, in sie eintauchen wollen, nur fort, fort von der Insel.

    Jan legte den Bleistift wieder fort, stand auf und ging erneut zum Fenster. Er blickte sich um und sah seinen grotesk dünnen Schatten auf dem fleckigen grauen Teppichboden. Er löste das klebende Hemd vom Rücken und starrte hinaus. Heute würde er nicht arbeiten können. Was sollte er auch schreiben? Die Ideen entzogen sich ihm hartnäckig. Er hatte das Gefühl, einen großen Roman beginnen zu müssen, in einer Verkleidung seine Träume und Gedanken auszubreiten, doch ihm fiel keine Handlung ein, durch die ihm das hätte gelingen können. Manchmal befürchtete er, dass sein erster Roman ihn ausgebrannt zurückgelassen hatte.

    Die Minuten hafteten wie Klebstoff an ihm. Er hasste solche Tage mehr als alles andere. Sie verwehrten ihm den Rückzug in die Fantasie und ließen ihn auf die Leinwand der Realität schauen, zwangen ihn, die Augen offenzuhalten, obwohl er die Eintönigkeit kaum mehr ertragen konnte, und gaben ihm das Gefühl, in seinem leichten, mageren Körper, der kaum Schutz bot, auf ewig eingesperrt zu sein. Wie sehr wünschte er sich, eines Tages seinem Gefängnis zu entkommen.

    Er stand am Fenster, vielleicht eine Stunde lang, und seine Gedanken glitten auf dem öligen Brackwasser seines Bewusstseins umher. Mit dem Strom leben – Anerkennung haben – Liebe erringen. Träume von Unmöglichkeiten. Träume, die Träume bleiben sollten. Es wäre unerträglich, wenn auch die Refugien der Träume verschlossen würden, nur weil sie wahr geworden waren, in welcher Art auch immer.

    Endlich war es Zeit für das Mittagessen. Jan ging langsam in die Küche, holte aus dem alten, brummenden Kühlschrank eine Dose mit Linsensuppe und entleerte ihren Inhalt in einen kleinen Topf. Er ekelte sich vor dem Geräusch, vor der Konsistenz dessen, was da nun braun und halbfest im Topf lag.

    Die Suppe wurde warm, verflüssigte sich ein wenig, und als sie erste Hitzeblasen warf, schüttete Jan sie in einen tiefen Teller, stellte ihn auf den kleinen Küchentisch mit der geblümten Wachsdecke, setzte sich davor und löffelte seine noch lauwarme Suppe. Er hatte es sich angewöhnt, jeden Mittag eine Mahlzeit zu sich zu nehmen, auch wenn er sich bisweilen dazu zwingen musste. Es war neben einem kargen Frühstück das Einzige, was er am Tage aß, und das war gut so, denn die Preise für Nahrungsmittel waren schließlich hoch.

    Fertig. Er beförderte den Teller unsanft in die Spüle, sodass der Löffel klapperte, und ging wieder in das Wohnzimmer.

    Um sich abzulenken, zog er aus dem schmalen Bücherregal wahllos ein Taschenbuch heraus. Es gab fast nur Taschenbücher dort. Das Regal war die einzige Anschaffung, die Jan getätigt hatte, nachdem er allein in dieser Wohnung zurückgeblieben war. Seine Eltern hatten nichts für Bücher übrig gehabt. Er hatte das »Schloss« von Kafka erwischt. Nein, das war nichts für nun. Er schaute an den Rücken der anderen Taschenbücher entlang. Zumeist waren sie von kräftigen Bruchstreifen verunziert, schiefgelesen und besaßen verknickte Umschläge. Das war nicht Jans Werk, o nein, er behandelte das gedruckte Wort pfleglich, denn er wusste, welche unendlichen Mühen es kostete, überhaupt gedruckt zu werden. Die Bücher hatte er antiquarisch für eine oder zwei Mark erworben, denn neue Bücher konnte er sich nicht leisten.

    Da kam ihm eine Idee. Das Herz hüpfte ihm bei dieser Vorstellung. Heute würde er ausgehen und ein neues Buch kaufen! Halt! Besaß er überhaupt noch genügend Geld? Jan stellte den Kafka zurück und flog zum kieferhellen Wohnzimmerschrank. Seine Hast wurde mit einem Schweißausbruch bestraft. Er wischte sich die Tropfen unwirsch von der hohen Stirn und riss eine der Schubladen auf, wo er seine Geldbörse verwahrte. Er warf einen beängstigt vorsichtigen Blick hinein und zählte die Scheine und Münzen. Es waren noch dreiundneunzig Mark. Reichtümer! Aber sie mussten bis zum Ende des Monats vorhalten. Wenn er bei seinem Lebensmitteleinkauf vorsichtig war, konnte er zehn Mark für Bücher einkalkulieren! Hastig verstaute Jan das Portemonnaie in der Gesäßtasche seiner Hose, zog die Schuhe an, nahm den Schlüsselbund und trat nach draußen.

    Es gierte nach ihm.

    Die Straße empfing ihn mit der erdrückenden Wärme eines Backofens und nahm ihm den Atem. Jan ging einige Meter nach rechts die Liebigstraße entlang, musste wieder stehen bleiben, um Luft zu holen, ging weiter. Er überquerte die Einmündung der Sackgasse, die zu den Häusern hinter seiner Wohnung führte und von wo noch immer das Kreischen der Kinder zu hören war. Vorbei an einer Getränkehandlung, einem Blumengeschäft, einem Zeitschriftenladen, einem Versicherungsbüro, nun von der Liebigstraße weg, rechts hinein in die Herkulesstraße, der Innenstadt entgegen. Je weiter er von seiner Wohnung fortkam, desto sicherer fühlte er sich. Bald brauchte er niemandem mehr aus dem Weg zu gehen, denn hier kannte ihn niemand mehr, hier war er wie alle anderen.

    Zu seiner Linken war ein kleiner Park angepflanzt, eigentlich nicht mehr als ein Grünstreifen. Von darunter drangen dumpfe Geräusche herauf, ein Brummen und Grollen und Röhren. Unterwelt, dachte Jan. Es war bloß die Stadtautobahn, die nur wenige Hundert Meter weiter an die Erdoberfläche stieß und einen Strom von glänzenden Metallleibern ausspuckte. Der Park war nichts weiter als der bepflanzte Schalldeckel der Autobahn. Schalldeckel. Schädeldeckel. Rasende Gedanken darunter, in unsinnigen Bewegungen, ausgespuckt am Ende durch ein todbringendes Loch, gleichzeitig ein erlösender Ausgang. Jan schüttelte den Kopf. Zu verrückte Gedanken.

    Nun lief er neben den Autos her, die der stickigen Dunkelheit entronnen waren; manche fuhren noch mit Licht, konnten sich von der Vorstellung der Finsternis offenbar nicht trennen, trauten der fremden Sonne nicht. Jan sah die roten Rücklichter vor sich verglühen. Sie brachten einen Luftzug mit, der das Gehen erträglicher machte.

    Jan schlenderte an der Autobahnabfahrt entlang, sah rechts in einiger Entfernung hinter Bäumen das Rüger-Hochhaus, mit dreckigbunten Plastikplatten verkleidet, und sogar von hier aus konnte man die schmierigen Fenster und die grauen, oft zerrissenen Vorhänge und Gardinen erkennen. Schutt. Gedankenschutt. Dann überquerte er die Subbelrather Straße, kam an dem eingezäunten Platz vorbei, wo Obdachlose in alten Bauwagen lebten, der Stadt ein ständiger Dorn im Auge, und doch gehörten Jans Sympathien diesen Gestrandeten. Dass er sich nicht zu ihnen gesellen musste, hatte nur einen einzigen Grund.

    Er war reich.

    Seine Mutter hatte jede Mark, die sie in die Finger bekam, gespart. So war Jan an ein Leben gewöhnt worden, von dem wahrscheinlich selbst diese Obdachlosen gesagt hätten, es sei unerträglich karg. Auf diese Weise war ein kleines Vermögen zusammengekommen, und Jan brauchte nicht mehr zu arbeiten, doch er musste äußerst sparsam sein. Schließlich bestand die Gefahr, alt zu werden, lange von dem Geld zehren zu müssen.

    Nun unterquerte er die Bahnstrecke; in der Unterführung roch es wie immer nach Urin und Erbrochenem; ein beinahe heimischer, untrennbar mit diesem Ort verbundener Geruch. Gerüche wecken Erinnerungen stärker als Gesichter oder Geräusche. Und dieser Gestank war ihm der Vorbote für ein interessantes, billiges Taschenbuch, für Leseerfahrungen und Traumreisen, für Fluchten aus seiner Welt. Darum ging er lieber zu Fuß in die Stadt, als mit der Bahn zu fahren. Es war wie der Spannungsbogen in einem gut geschriebenen Roman. Außerdem stellte der Kauf einer Fahrkarte einen Luxus dar, den er sich nicht leisten konnte. Und überdies wäre er in der Bahn zusammengepfercht mit unzähligen schwitzenden, ausdünstenden Leibern, mit unfreundlichen Gesichtern, mit spitzen Ellbogen und sprachlichen Auswürfen. Nein.

    Keine Wolke erbarmte sich des weißlichblauen Himmels, er war eher eine Hölle, die ihre Glutströme über den Straßen der Stadt ausgoss. Jan spürte, wie sich große Schweißflecken unter seinen Armen ausbreiteten. Es war ein Fehler, heute nach draußen zu gehen. Steh es nun durch! Welten warten auf dich – vielleicht. Entscheide dich: welches Antiquariat? Heybutzki am Hahnentor vielleicht? Dort gab es immer viele Taschenbücher, aber sie waren nicht mehr so billig wie vor einigen Jahren noch. Oder Sasserath & Winges in der Hahnenstraße? Die beiden Läden lagen so nah zusammen, dass Jan sie beide aufsuchen wollte. Dann wäre es genug des Vergnügens.

    Er ging an Sankt Gereon vorbei, bog in die Mohrenstraße ein, folgte ihr bis zum Neumarkt, dem brandenden Herz der Stadt, wo sich noch vor Kurzem die Fixer ihren goldenen Schuss in aller Öffentlichkeit gesetzt hatten, bis endlich die Polizei hart durchgegriffen hatte. Es hatte Aufregung gegeben, Vorwürfe an die Polizei, und in gewissem Sinne konnte Jan die Drogenabhängigen verstehen, und er konnte verstehen, warum es immer mehr wurden. Die Träume starben in dieser Welt, und kein Mensch kann ohne Träume leben. Die Junkies waren zu schwach, diese Träume in sich selbst zu erschaffen; sie holten sie von außen und erlagen ihrer Macht. Wehe dem, der fremde Träume über sich Herrschaft erlangen lässt! Doch nun waren sie fort, entrissen den Passanten nicht mehr die Handtaschen, starben nicht mehr in der Öffentlichkeit, sondern ertranken irgendwo in den Kloaken ihrer Visionen, um die Illusion einer sauberen Stadt nicht zu beschmutzen.

    Rechts hinein in die breite Hahnenstraße. Dort war der erste Buchladen. Vor seinem Schaufenster standen mehrere Kartons mit billigen gebundenen Büchern. Niemand beugte sich gerade über sie; es war Jans Chance. Niemals hätte er darin herumgewühlt, wenn noch jemand gerade in den Büchern gestöbert hätte. Menschliche Nähe. Schweiß, Gestank, abgestandene Träume und vermoderte Hoffnungen. Nein, danke!

    Jan fand nur Schmöker von Konsalik, Grisham und dergleichen. Also gab er es auf und betrat den Laden.

    Die Tür stand offen. Jan räusperte sich, wünschte dem jungen Antiquar hinter dem Tresen links der Tür einen guten Tag und huschte an ihm vorbei. Jan spürte, wie sich sein Rücken krümmte, als er den erwiderten Gruß des Antiquars hörte, denn diese Worte waren der Beweis dafür, dass Jan gesehen und möglicherweise sogar beobachtet wurde. Er schlich links an dem breiten Mittelregal vorbei, vor dem eine verglaste Vitrine die Schätze des Ladens eifersüchtig hütete, und huschte zu den langen Reihen mit den Taschenbüchern. Er suchte die Rücken sorgfältig ab, fand das eine oder andere ihm interessant erscheinende Buch, doch ihre Preise waren geradezu unverschämt, sodass er sie flink wieder in das Regal stellte. Schließlich sah er sich noch bei den gebundenen Büchern um. Er entdeckte den zweibändigen fantastischen Roman »Eleagabal Kuperus« von Karl Hans Strobl in der Erstausgabe, doch er war viel zu teuer für Jan. Ihn faszinierte die Dickleibigkeit dieses Werkes, und er wünschte sich, in dessen Geheimnisse eintauchen zu dürfen, aber von dem Preis des Romans konnte er zwei oder drei Wochen leben. Wenn er erst einmal angefangen haben würde, sein Geld so bedenkenlos zu verschleudern, stünde er bald vor dem Nichts. Und wie sollte er in den Straßen Kölns überleben? Das Gespenst der elendesten Armut, der Obdachlosigkeit und der Bettelei stand übergroß vor ihm. Die Verführungskraft des Buches war gewaltig, doch er widerstand ihr.

    Literatur des Rätselhaften und Unmöglichen, des Fantastischen: hier lag seine Welt, seine Vorliebe. Auch sein eigener Roman hatte fantastische Züge; es war ein Roman um das Hinabtauchen in die Nachtseite einer anonymen Stadt, um schreckliche Abenteuer eines schwachen Helden, in dem Jan sich selbst gezeichnet hatte – sich und alle seine Ängste und Befürchtungen. Er spürte, dass dieser Roman lebte, doch er befürchtete zugleich, dass er nichts anderes mehr schreiben konnte, nachdem er seinem Seelenleben einen für ihn gültigen Ausdruck gegeben hatte.

    Mit hängenden Schultern verließ Jan das Antiquariat und war froh, den Blicken des Buchhändlers entronnen zu sein. Auf zum nächsten Laden!

    Auch im heybutzkischen Geschäft wurde er kurz begrüßt, wie ein Unbekannter, obwohl er oft hierher ging, wahrscheinlich konnte sich niemand an ihn erinnern. Nie konnte sich jemand an ihn erinnern. Lag das an seinem ausdruckslosen Gesicht? Seine Züge waren zu ebenmäßig, um interessant zu sein, zu glatt, um der Erinnerung einen Halt zu geben, zu langweilig, um Blicke auf sich zu ziehen. Es war nicht verwunderlich, dass noch nie eine Frau Jan länger als eine verworrene Sekunde in die Augen geblickt hatte; länger brauchte keine, um sich zu vergewissern, dass sie sich geirrt hatte.

    Auch hier durchstöberte Jan die Taschenbuchabteilung. Dabei überlegte er sich, wie es wohl wäre, wenn er einmal ein wirklich interessantes Buch fände, ein Buch, das sein Leben verändern würde. Was für ein Buch das sein könnte, wusste Jan nicht zu sagen, es war eine nebelhafte Vorstellung von einem Katapult in andere Regionen, aus denen er nicht mehr fliehen musste.

    Er entdeckte kein Taschenbuch, das ihm zusagte oder ihn länger als einen kurzen Blick auf die Inhaltsangabe fesselte. So würde er kein Geld ausgeben und den Abend in Langeweile verbringen. Er besaß nicht einmal einen Fernseher, weil ihm die Gebühren zu teuer waren.

    Ein wenig streunte er noch an den übrigen Regalen entlang, die träge in der stickigen Luft brüteten. Er warf einen Blick in die philosophische Ecke – alles Spinner!, dachte er erbost, ihr saßet im Speck und sinniertet über den Hunger –, in die theologische Ecke, die ihn beunruhigend anzog und gleichermaßen abstieß, und endlich kam er zur Belletristik. Hier hinten schien es noch wärmer zu sein. Schweiß strömte ihm über die Stirn; Schweiß rann ihm an den Händen herab. Er fühlte sich wie in einem Kokon.

    Da stand eine Frau in einer schwarzen Bluse und einem schwarzen, bis beinahe zu den schmalen Schuhen reichenden Rock. Sie trug einen lächerlich breiten schwarzen Schlapphut und zog mit einer leuchtend weißen, feingliedrigen Hand ein Buch aus dem durchhängenden Regal. Wenn sie nicht da gewesen wäre, hätte Jan gern die Regale abgesucht, denn hier fand er manchmal ein erschwingliches gebundenes Buch, doch er traute sich nicht, allzu nahe an die Frau heranzugehen. Jan blieb bei den Reiseführern stehen, von wo aus er einen guten Blick auf die Schwarze hatte, und wartete darauf, dass sie sich endlich anderen Regalen zuwandte. Jan sah aus den Augenwinkeln heraus, wie die Schwarze das Buch zurück in das Regal schob und dann mit schnellen Schritten den Laden verließ. Jan atmete auf und durchstöberte die Romane.

    Er kam zu dem Buch, das die Frau kurz zuvor zurückgestellt hatte. Es trug keine Rückenaufschrift und war in schwarzes Leinen gebunden, wie eine Kladde. Jan zog es neugierig heraus und schlug es auf.

    Er hatte es gefunden.

    Das Buch, das sein Leben verändern sollte.

    Mittwoch, 16. August

    Antiquariate sind Zweithand-Traumhandlungen. Für fünf Mark habe ich vorgestern ein Buch gekauft. Es war ein Risiko, denn ich weiß nicht, was in diesem Buch steht. Es ist eine Handschrift, in Sütterlin verfasst, wahrscheinlich aus dem 19. Jahrhundert. Die Buchstaben sind spitz, greifen nach oben und unten jeweils in die nächsten Zeilen über wie kleine Krallen und Klauen, und sie sind gestochen scharf. Doch ich kann sie nicht lesen. Den ganzen gestrigen Tag habe ich damit verbracht, einen Sinn in einzelne Worte zu bringen. Meine Kenntnisse reichen leider nicht aus; es wird mir nichts anderes übrig bleiben, als in der Stadtbibliothek nach einem Lehrbuch für Sütterlin oder zumindest nach einem beispielhaften Alphabet zu suchen. Vielleicht gibt es so etwas auch in den großen Lexika. Es ist ein Jammer, dass ich keines besitze. Ich vermute, dass sich die Arbeit lohnen wird, denn der Titel ist in lateinischen Buchstaben geschrieben und lautet: »Der Teufelspakt«. Vielleicht ist es der Wink eines wohlmeinenden Schicksals, vielleicht sollte ich diesen Titel zum Anlass nehmen, einen neuen, historischen Roman, möglicherweise aus der Zeit der Hexenverfolgung, zu konzipieren. Historische Romane haben augenblicklich großen Erfolg, wahrscheinlich aufgrund der auf das Vergangene ausgerichteten Zeit, in der wir stecken. Wir schauen nur noch zurück, weil das, was da vor uns liegt, alles andere als angenehm zu werden verspricht. Und das, was um uns herum liegt, sind bereits Trümmer. Warum soll nicht auch ich mich auf diese Flucht begeben – und damit sogar Geld verdienen? Es gibt nur ein Problem: Mir fehlen die Detailkenntnisse über vergangene Epochen. Vielleicht aber kann ich sie aus dieser Handschrift ziehen? Wenn die schwarze Dame nicht gewesen wäre, die so eifrig in diesem Buch geblättert hatte, wäre es mir vermutlich entgangen.

    Jan war der Gedanke, seine Wohnung verlassen zu müssen, unangenehm. Ein Lebensmitteleinkauf wäre erst morgen notwendig, und er betrat die Außenwelt so selten wie möglich. Doch das Buch vor ihm auf dem kleinen Schreibtisch reizte ihn. Es lag da wie ein ungeheurer schwarzer Kakerlak, und manchmal schien es Jan, als bewege es sich tatsächlich. Er rieb sich die Augen. Der Schweiß von den Handflächen brannte in ihnen und überzog sie mit einem feuchten Film, der die Dinge verschwimmen ließ.

    Er stellte sich den Glutofen der Straße vor; hatte er nicht vorgestern genug davon bekommen? Der vergangene Tag war ein Tag des Ausruhens gewesen, ein Tag der Kontemplation. Eigentlich hatte er nur wenige Anstrengungen unternommen, das Buch zu lesen. Er hatte darin herumgeblättert, hier und da einen Buchstaben identifizieren können, und das reichte ihm bereits, denn es gab seiner Fantasie genügend Nahrung. Nein, sein Wunsch, das Buch zu entziffern, war halbherzig. Die Bemühungen, den Text aufzudecken, gaben seinem Leben kurzfristig wieder eine Richtung; nun hatte er ein Ziel und eine Aufgabe, und diese wollte er so schnell nicht lösen. Er würde es nicht zulassen, dass sein Streben, das gerade eine schmale Rinne gefunden hatte, in der es entlanglaufen konnte, schon nach kurzer Zeit wieder in die Unbegrenztheit der Sinnlosigkeit einmündete. Also musste er ökonomisch vorgehen, und dies bedeutete, dass er heute auf gar keinen Fall die Stadtbibliothek aufsuchen würde; ebenso wenig morgen, denn dann musste er sich um sein leibliches Wohl sorgen. Eine ekelhafte Aufgabe. Er schüttelte sich, als er daran dachte. Er musste untertauchen zwischen stinkende Leiber, miasmatische Ausdünstungen, grauenhafte Rüpeleien und dolchartig stechende Blicke. Er fragte sich, warum es nur immer ihn ereilte.

    Jan stand auf, öffnete die Glastür zum Balkon, der zwischen dem Wohn- und dem Schlafzimmer eingeklemmt lag, machte einen vorsichtigen Schritt hinaus und lehnte sich auf die rot gestrichene, heiße Brüstung. Die stickige Hitze nahm ihm beinahe die Atemluft. Doch er hielt es aus. Seine Blicke huschten über den Garagenhof, auf dem gerade ein kleines, blaues Auto eine schwache Staubwolke hinter sich zog, dann hin zu den Häusern ihm gegenüber, zu den nimmermüden Kindern auf der Straße, die ihre Ferien feierten, jemand goss vertrocknende Blumen vor einem Fenster, eine Frau mit einem großen Hut schob einen Kinderwagen heran.

    Sie erinnerte Jan an die Dame aus dem Antiquariat, und für einen Augenblick glaubte er, sie sei es. Aber die Frau hinter dem Kinderwagen war viel kleiner, und selbst von hier oben aus konnte Jan erkennen, dass ihre Hände und bloßen Arme stark gebräunt waren. Sie verschwand in einem der Häuser.

    Es wäre ein sehr merkwürdiger Zufall gewesen.

    Warum erinnerte sich Jan überhaupt an die schwarze Fremde? Er hatte ihr Gesicht nicht sehen können, und das Gesicht war ihm das wichtigste. Er würde nie für eine Frau Gefühle hegen können, bevor er nicht ihr Gesicht gesehen hatte. Eine merkwürdige Vorstellung: Einen Schemen zu lieben. Vielleicht aber machte es alles viel einfacher? Was suchte man denn anderes im Partner als eine Projektionsfläche des eigenen Selbst? Jede Liebe war letztlich Selbstliebe, fortgeworfene Selbstliebe. Wer konnte einer solchen Liebe besser entsprechen als ein Schemen, ein Phantom?

    Jan schüttelte den Kopf. Einige Schweißperlen fielen glitzernd von seiner Stirn. Hatte er sich nicht geschworen, allein zu bleiben, um allen Problemen aus dem Weg zu gehen? Er sollte nicht mehr an die geheimnisvolle Schwarze denken. Im Grunde war sie überhaupt nicht geheimnisvoll, aber er wollte es so.

    Er ging zurück in das Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch. Selbst von hier aus konnte er den schwarzen Rücken des seltsamen Tieres sehen, das auf seinem Schreibtisch lag, ein Überbleibsel aus einer anderen Welt. Eine Zauberei? Der Titel deutete es an. Worum es wohl gehen mochte? War es ein Roman? Jan hatte keine An- und Abführungsstriche gefunden, die wörtliche Rede signalisiert hätten, dafür aber eine Menge Gedankenstriche zum Beginn kurzer Zeilen. Ein Roman oder eine Abhandlung. Geheimnisse? Sie mussten Geheimnisse bleiben – vorerst. Sie würden in ihm einen Roman bilden, ein grandioses Werk, an dem die Verlage nicht mehr vorbeischauen konnten! Er fühlte eine unglaubliche Kraft in sich aufsteigen, fühlte, wie er angefüllt wurde mit Bildern, mit Geschichten, Situationen, doch sie waren zu vage, um sie festhalten zu können. Außerdem war es zu heiß. Niemand arbeitete in dieser unmenschlichen Hitze. Wenn es kühler wurde, im Herbst, wollte er mit der Konzeption beginnen. Er sah sich, sah seinen Erfolg – und erinnerte sich daran, dass die Post heute wieder nicht geschellt hatte. Vielleicht war aber doch – … Er sprang wie elektrisiert auf und huschte den Hausflur hinab. Die Türen glotzten ihn wie starre und stumme Tiere an. Nur ihre Augen lebten.

    In seinem Briefkasten befand sich nichts, wieder einmal. Er rannte hoch, badete in seinem Schweiß, als er die Wohnungstür zugeworfen hatte und sich wieder in Sicherheit befand. Er hasste diese Klebrigkeit; sie fraß sich bis in seine Gedanken hinein. Jan ließ sich auf das gestreifte Sofa fallen und spürte, wie die Tropfen durch den Stoff seiner Hose in das Polster drangen. Nein, heute würde er sich nicht mehr bewegen als unbedingt nötig.

    Starr wie die Türen hockte er da, badete in seinen zähen Gedanken, aus denen immer wieder hartnäckig die Dame in Schwarz hervortauchte.

    Donnerstag, 17. August

    Noch immer keine Lösung. Es ist zum Verrücktwerden! Als Ausgleich sollte ich mir wenigstens wieder angewöhnen, täglich mein Diarium zu führen, denn schließlich wird es einmal ein großes Interesse beanspruchen, wenn meine Arbeit gebührend gewürdigt werden wird. Gestern wollte ich unbedingt zur Stadtbücherei gehen, um mich auf die Suche nach einem Sütterlinalphabet zu machen, doch irgendwie gelang es mir nicht, dorthin zu kommen. Immer kam etwas dazwischen. Ich musste zur Post, musste Einfälle notieren, die Hitze ließ mich schläfrig werden, und ich wachte erst auf, als es schon Abend wurde. Auch heute werde ich wahrscheinlich keine Zeit haben, denn ich muss einkaufen gehen, und mehr kann man mir in dieser Hitze nicht zumuten. Ich hoffe, dass bald ein Wetterumschwung kommen wird, doch noch ist jede Hoffnung darauf vergebens. Das Buch nagt an mir, ich werde noch wahnsinnig, wenn ich ihm sein Geheimnis nicht entreißen kann. Es scheint mich auszulachen ob meiner Unfähigkeit, es zu verstehen. Was braucht ein Schriftsteller? Eine Dose Bohnen, eine Dose Linseneintopf, ein Knäckebrot, einige geräucherte Würstchen, einige Frankfurter Würstchen, auch mein Senf ist aufgebraucht, vielleicht ein paar Äpfel und etwas Wasser, natürlich alles möglichst billig. Summa summarum 40 bis 50 Mark. Eigentlich zu viel für meine Verhältnisse. Es geht zu Ende mit meinen Ersparnissen. Ich weiß nicht, was werden soll. Deutschland lässt seine Dichter verhungern. Man erinnere sich an Hebbel, an Krzyzanowski. Wenn ich mich im Spiegel sehe, schreit mich das Elend an. Bald wird die Sonne durch mich hindurchscheinen. Mein Hemd flattert mir um den Oberkörper, und wenn ich es ausziehe, kann ich meine Rippen zählen. Mein Gesicht ist eingefallen und sieht eher wie das eines Vierzigjährigen als das eines Dreißigjährigen aus. Aber warum soll ich jammern? Ich habe dieses Los gewählt, opfere mich auf für die Kunst, gebe ihr alles, meine Gesundheit, mein Leben, und sie gibt mir Befriedigung. Es ist göttlich, am Schreibtisch Welten zu erschaffen.

    Der Weltenerschaffer erhob sich von seinem Schöpfungstisch, nahm einen Plastikbeutel, der an dem lockeren Garderobenhaken hing, steckte seine magere Geldbörse und den Schlüssel ein und machte sich auf

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