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Das Licht hinter den Bergen: Roman
Das Licht hinter den Bergen: Roman
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eBook292 Seiten4 Stunden

Das Licht hinter den Bergen: Roman

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Über dieses E-Book

Die Welt gerät aus den Fugen, sagt der Lehrer, als Deutschland 1939 in Polen einmarschiert.
In der Schweiz, in einem Hochtal in Graubünden, wo Anton Marxer seit Jahren unterrichtet, sind die Grenze und das Ausland nahe, aber Polen weit weg. Und doch dringt das Weltgeschehen in das Tal ein, ins Schulhaus über dem Dorf, wo der Vierzigjährige seine Frau pflegt, die einen Hirnschlag erlitten hat. Eines Abends steht eine fremde junge Frau vor der Tür: Anna Schwarz.
Sie ist aus dem Vorarlbergischen geflüchtet und nachts über den alten Säumerpass gekommen, nachdem man ihren Mann deportiert und auf der Flucht erschossen hat. Marxer nimmt die Frau auf, widerwillig, und versucht zuerst, ihre Anwesenheit vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Natürlich ist das auf Dauer nicht möglich. Die Ehefrau merkt es, die Haushälterin, die den Lehrer bei der Pflege und im Haushalt unterstützt, und sehr rasch auch die Schüler. Marxer ist hin- und hergerissen zwischen Pflicht und Gewissen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum19. März 2020
ISBN9783906907376
Das Licht hinter den Bergen: Roman

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    Buchvorschau

    Das Licht hinter den Bergen - Thomas Röthlisberger

    10

    1

    »Die Welt gerät aus den Fugen«, hatte er in der letzten Unterrichtsstunde am Nachmittag gesagt, bevor er die Schüler nach Hause entließ.

    Sie hatten ihn wahrscheinlich nicht verstanden. Von den älteren vielleicht der eine, die andere. Aber die jüngeren hatten den merkwürdigen Satz sicher bereits vergessen, als sie über die Schwelle hinaus in den warmen Herbsttag rannten, in die Sonne, die nun von Woche zu Woche früher hinter den Bergen verschwinden würde.

    Er stand am offenen Fenster und blickte über den leeren Schulhof. Risse zogen sich durch den asphaltierten Platz. Das Gras unter den drei Lärchen war gelb und trocken. Von einem hohen Maschenzaun umgeben, stießen die Kletterstangen, leicht krumm, wie rostige Spargel aus dem Sand.

    Weiter unten hockten die Häuser des Dorfes, Dach an Dach, als tuschelten sie miteinander. Aus dem Grund des Tals stiegen die Schatten. Sie kletterten rasch an den gegenüberliegenden Bergwänden hoch und schwärzten sie ein. Das war der Augenblick, auf den er immer wartete, der unausweichlich kam: Wenn Licht und Dunkel das Tal in zwei Teile schieden. Wenn unten das Dorf bereits im Schatten versank, während hier oben die Fenster noch in den letzten Sonnenstrahlen aufblitzten.

    Er griff in der Kitteltasche nach den Zigaretten. Nur noch drei Stück steckten in der zerknitterten Packung. Er klaubte eine heraus, wölbte die Lippen um den Filter wie eine Liebkosung und hielt das angerissene Streichholz an das Papier. Tief sog er den Rauch ein, als traute er ihm eine reinigende Wirkung zu.

    Die Kirche, die etwas östlich vom Dorf auf einer kleinen Kuppe lag, stand bezüglich Abendsonne stets in Konkurrenz zum Schulhaus. Auch heute würde die zwiebelförmige Spitze noch blinken, wenn hier schon alles grau war.

    Wieder blickte er hinunter auf das Dorf, wo sich die Einzelheiten zu verwischen begannen. Die steinernen Dächer waren kaum mehr von den mit Blech bedeckten zu unterscheiden. Die engen Gassen gerannen zu schwarzen Linien. Es schien, als rückten die Häuser für die Nacht zusammen.

    Am Vorabend war er unten in der Dorfwirtschaft gewesen. Er ging jetzt häufiger ins »Crusch Alba«. Er wollte hören, was die anderen sagten. Er wollte reden können mit jemand. Als er eingetreten war, hatten ihm Dunst und Rauch entgegengeschlagen. Verschwommen hingen die Gesichter darin, und die Unterhaltung, die früher laut und polternd sein konnte, war zu einem eintönigen Gemurmel geschrumpft. Er sah sich nach einem freien Platz um. Chasper Bisaz winkte ihm. Er nickte grüßend nach rechts und nach links, als er zwischen den Tischen nach hinten ging, wo die anderen neben Bisaz ihre Stühle zusammenrückten, ohne ihr Gespräch zu unterbrechen. Er setzte sich.

    Polen war gefallen. Innert weniger Tage. Die Welt geriet aus den Fugen.

    »Polen ist weit weg«, sagte Bisaz. »Madlaina, bring dem Lehrer einen Zweier Veltliner!«

    »Man muss sich von innen wärmen, wenn’s draußen kälter wird«, fügte er hinzu und klopfte ihm auf die Schulter.

    Er versuchte, Chasper Bisaz in die Augen zu schauen, aber unter den buschigen Brauen war nicht auszumachen, ob der Blick tatsächlich den Worten entsprach.

    Als Madlaina den Wein brachte, stieß er mit Bisaz an, dann auch mit Jon Conrad und Peider Capaul, die am selben Tisch saßen. Er blickte auf die ausgestopften Tiere auf dem Wandregal, einen Raubvogel, ein Eichhörnchen, zwei Murmeltiere, die ihrerseits mit glasigen Augen die Männerrunde zu beobachten schienen.

    »Und?«, fragte ihn Conrad, nachdem er eine Weile stumm dagesessen und zugehört hatte.

    »Der Piz Malört hat schon eine weiße Kappe«, sagte er.

    Er hatte etwas Unverfängliches sagen wollen. Etwas, was die Rückkehr des Gesprächs zu den gewohnten kleinen Geschäften des Tals, des Dorfes ermöglichen würde. Er hätte auch sagen können, die Katze des Pfarrers sei ein roter Teufel. Das eine so selbstverständlich und wahr wie das andere.

    »Ja«, meinte Conrad nur, »das gibt einen harten Winter.«

    »Für andere wird er härter sein«, brummte Bisaz.

    »Wie bringst du das eigentlich den Schülern bei?«, wollte Capaul wissen.

    »Was denn?«

    »Das mit dem Krieg.«

    Anton hatte nur die Schultern gehoben. Die Welt gerät aus den Fugen.

    So hilflos hast du dich ausgedrückt, Anton Marxer, dachte er. Er fröstelte. Die Sonne hielt sich mit letzter Kraft an den zerrissenen Zacken des Grats. Die Wärme war dem Licht vorausgeeilt ins nächste Tal. Er drückte den Zigarettenstummel zu den anderen in den Blumentopf auf dem Steinsims. Dann schloss er das Fenster. Er ging durch die Pultreihen, rückte Stühle zurecht, schob halb offene Tintenfässer zu, öffnete hier und da einen Pultdeckel. Er tat es mechanisch, wie jeden Tag. Alles musste seine Ordnung haben, bevor er sich an den Schreibtisch setzen konnte, der auf einem niedrigen Holzpodest stand, als wäre es der Führerstand eines seltsamen Gefährts.

    Einen Augenblick stand er still da und blickte hinunter auf die Schulbänke, die jetzt leer und aufgeräumt waren. Morgen würden hier wieder all die ungewaschenen, mit Rotz verschmierten Gesichter dumpf vor sich hinbrüten, so dass er mit dem Stock auf den Tisch schlagen müsste, um Aufmerksamkeit zu erlangen.

    Er stand auf der Kommandobrücke. Er war Steuermann und Kapitän in einer Person. Von ihm erwartete man, dass er das Schiff sicher durch Stromschnellen und Untiefen führte. Ausgerechnet von ihm.

    »Wie bringst du das eigentlich den Schülern bei? Das mit dem Krieg«, hatte Peider Capaul wissen wollen.

    Es war die Frage, die allen auf der Zunge lag. Jeder hätte sie stellen können. Nun hatte es Peider Capaul getan. Für alle anderen. Und er, Anton Marxer, der Lehrer, sollte die Antwort darauf haben.

    Er ließ sich auf den Stuhl an seinem Schreibtisch sinken. Das Licht floh aus dem Raum, die Scheiben dunkelten ein. Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und stieß an den Stock, der polternd zu Boden fiel.

    Ordnung ins Chaos bringen. Das war seine Aufgabe. Dazu war er da. Er schaltete die Tischlampe ein und begann, Hefte und Papiere zu sortieren. Die Ernte des Tages, wie er zu den Schülern zu sagen pflegte.

    »Gestern war die Ernte des Tages ihren Namen nicht wert«, sagte er jeweils. Oder: »Heute wollen wir aber wieder einmal eine schöne Ernte einfahren.«

    Schönredner! Als ob man von Worten satt werden könnte.

    »Nein, man wird nicht satt vom Wort«, hätte Barbla gesagt, früher, als sie ihre Sprache noch besaß. »Aber es ist lebenswichtig.«

    Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. Die Müdigkeit stand plötzlich vor ihm wie eine undurchdringliche Nebelwand. Er erhob sich, etwas unsicher. Als er die Tischlampe löschte, mussten sich seine Augen erst an die Dämmerung gewöhnen. Vorsichtig stieg er vom Podest, suchte nach dem Stock und legte ihn auf die Ablage unter der Wandtafel. Nach einem letzten prüfenden Blick verließ er das Schulzimmer und zog die Tür hinter sich zu.

    Im Flur, der nur zwei schmale Fenster zur Hangseite hatte, war es noch dunkler. Er tastete nach dem Schalter, machte Licht und schloss die Haustür ab. Am Treppenaufgang fasste er nach dem Handlauf. Das glatt polierte Holz über dem Metallgeländer fühlte sich kühl an. Er zögerte einen Augenblick, bevor er den Fuß auf die erste der einundzwanzig steinernen Stufen setzte.

    »Barbla, ich bin’s!«, rief er, als er die Wohnung im oberen Stock betrat.

    Überall brannte Licht. Er hatte längst aufgehört, ihr die teure Stromrechnung vorzuhalten.

    »Das Gesichtsfeld Ihrer Frau ist eingeschränkt«, hatte der Arzt erklärt. »Ihre Wahrnehmung ist nicht mit der unseren zu vergleichen.«

    Vielleicht vergaß sie jeweils auch nur, das Licht wieder zu löschen, wenn sie einen Raum verließ. Wie sie so vieles vergaß.

    Er ging in die Stube. Barbla saß am Fenster, im gelben Lichtkegel der Stehlampe, deren ausladender Schirm wie ein schützender Baldachin über ihrem Kopf schwebte. Im Inneren des Schirms flatterte ein Nachtfalter, der, vom Licht angezogen, immer wieder an die Schirmbespannung stieß. Barbla schien es nicht zu bemerken. Sie saß leicht vornübergebeugt, so dass er nicht sehen konnte, ob sie die Augen geöffnet hatte oder vor sich hindöste. Mit der rechten Hand, der gesunden, hielt sie die linke am Gelenk umklammert. Mit der Innenfläche nach oben gewendet und den starr eingekrümmten Fingern sah diese aus wie die hohle Hand einer Bettlerin.

    »Barbla …«

    Er klopfte mit dem Knöchel an den Türrahmen, um sie nicht zu erschrecken. Erst als sie den Kopf hob, ging er auf sie zu. Er beugte sich zu ihr nieder, legte seine Hände auf die ihren und küsste sie auf die Wange. Barblas Kopf drehte sich in kleinen, ruckartigen Bewegungen von ihm weg, als suchte sie auf der falschen Seite nach ihm. Als sie sein Spiegelbild im dunklen Fenster erkannte, erschien ein angedeutetes Lächeln auf ihrem Gesicht.

    »Jetzt bin ich da«, sagte er und richtete sich auf. »Wie war dein Tag? So lang wie der meine, nicht wahr? Gehen wir in die Küche? Das Abendessen kochen?«

    Er sah, dass sie nickte. Sie versuchte aufzustehen, sank aber kraftlos in den Sessel zurück. Er trat nahe vor sie hin und hob sie hoch. Sie war so leicht geworden.

    »Füße auf den Boden!«, befahl er, weil sie den schwebenden Zustand beibehalten wollte.

    Wieder drehte sich ihr Kopf von ihm weg. Er achtete darauf, dass sie richtig stand, und langte nach ihrem schwarzen Gehstock, der am Fensterbrett lehnte. Als sie den Holzgriff in der Hand spürte, stieß sie den Stock zwei-, dreimal auf den Boden. Das war ihr Signal zum Aufbruch.

    »Dann lichten wir die Anker«, sagte er.

    Sie umschifften das Kap des Esstischs, hielten Abstand zu den Klippen der Sessel und passierten ohne große Schwierigkeiten die Hafeneinfahrt zur Küche. Ihre tägliche kleine Weltumsegelung. Die kurzen Strecken waren lang geworden, das gedrosselte Tempo ließ keine schnellen Manöver zu. Er war froh, wenn alles nach Plan verlief, ohne Zwischenfälle, wenn kein Sturm aufkam, kein Mast brach, die Mannschaft nicht meuterte.

    Barbla schaffte es allein auf den Küchenstuhl. Er setzte Wasser auf. Dann öffnete er die schmale Tür zur Vorratskammer und holte die Schüssel mit den restlichen Pizokel vom Vortag. Er ließ wenig Fett in der Bratpfanne heiß werden. Als es in der Pfanne zu brutzeln begann, kippte er den Inhalt der Schüssel hinein.

    Er schaute nach der Glut im Holzofen, der neben dem Kochherd stand und mit dem die Wohnung beheizt wurde. Er hatte am Mittag einige Scheiter nachgelegt, die inzwischen längst zu Asche zerbröselt waren. Dennoch war es hier oben deutlich wärmer als unten im Schulzimmer. Er fachte das Feuer noch einmal an, damit die Räume über Nacht nicht ganz erkalteten.

    Früher hatte er noch gemeint, er müsse jeden Handgriff kommentieren. Müsse ununterbrochen mit Barbla sprechen, sie unterhalten, wenn er endlich aus der Schulstube heraufkam. Bis sie eines Tages den Zeigefinger auf ihre Lippen gelegt hatte.

    Schweigen zu dürfen, war manchmal eine Erleichterung. Er erzählte nur noch, was ihm wichtig schien. Von den Schülern. Vom Dorf. Das Weltgeschehen ließ er meist unerwähnt. Barbla hörte häufig Radio. Sie wusste sicher genug. Er wollte sie nicht unnötig verängstigen.

    Mit der Zeit hatte er gelernt, ihre Laute zu deuten. Für Hunger, Schmerzen, Trauer brauchte es keine Worte. Wenn er wach lag nachts, dachte er oft daran, wie sich all die ungesagten Sätze bei ihr stauten. Dass es wie ein Würgegriff sein musste, der ihr den Atem nahm. Dass sie einmal daran ersticken würde. Er hoffte, dass er nicht recht bekäme. Vielleicht war es nur seine Trauer über all das, was er von ihr nicht mehr zu hören bekam. Die Trauer, die Wut.

    Er rührte heftig in der Pfanne. Das Wasser im Topf blubberte. Er füllte das Teesieb mit der Kräutermischung, gab es in den Krug und goss das heiße Wasser darüber.

    »Dauert nicht mehr lange«, sagte er.

    Er deckte den Tisch, schaltete die Kochplatte aus und stellte die Pfanne auf einen Untersatz. Bevor er die Teller füllte und Tee einschenkte, schob er Barblas Stuhl näher und band ihr eine große Serviette um. Einige Flecken von früheren Mahlzeiten waren darauf zu sehen. Babigna machte die Wäsche höchstens zweimal im Monat. Barbla, nein, sie bemerkte es wohl kaum.

    Er setzte sich ihr gegenüber und wartete, bis sie die Gabel neben dem Teller gefunden hatte. Sie fuhr mit den Metallzinken über das Steingut, dass es kratzte. Beim zweiten Versuch gelang es ihr, einen der dickeren Pizokel aufzuspießen. Sie führte die Gabel langsam zum Mund und fing bedächtig an zu kauen.

    Jetzt langte auch er zu. Er war richtig ausgehungert und blickte erst wieder auf, als er den letzten Bissen geschluckt hatte und mit der Zunge zwischen den Zähnen nach Speiseresten suchte. Da erst bemerkte er, dass sie kaum etwas gegessen hatte. Mit der Gabel hatte sie ungewollt alles an den linken Rand ihres Tellers geschoben.

    Am Anfang hatte er dieses Verhalten nicht einordnen können. Eine der unzähligen Veränderungen in Barblas Alltag. Der Arzt hatte erklärt, dass Barbla infolge einer Sehstörung mit beiden Augen nur noch den rechts von der Mitte gelegenen Bereich sehen könne. Sie glaubte also, der Teller sei leer. Es half nicht, wenn er sie aufforderte, den Kopf nach links zu drehen. Stets ging ihre Bewegung in die entgegengesetzte Richtung.

    Er zog ihren Teller zu sich heran, drehte ihn, so dass die Pizokel nun wieder innerhalb von Barblas Gesichtsfeld lagen, und schob ihn über den Tisch zurück.

    »Du musst essen«, forderte er sie auf. »Du fliegst mir sonst davon wie eine Flaumfeder.«

    Sie blickte verständnislos an ihm vorbei, während ihre Gabel, dem Zufall folgend, wieder durch die Mehlspeise fuhr.

    Manchmal half er ihr, setzte sich neben sie, führte ihre Hand. Oder fütterte sie wie einen hilflosen, kleinen Vogel. Meistens aber wehrte sie ihn ab, wollte sich das bisschen Selbständigkeit bewahren, wurde ungehalten. Einmal hatte sie dabei die Teetasse vom Tisch gefegt. Er hatte nicht gewusst, war es Ungeschicklichkeit oder Absicht. Er war aufgestanden, hatte sich gebückt und die Scherben zusammengesucht. Als er sich wieder aufgerichtet hatte, war ihm Barblas erschrockener Blick aufgefallen.

    Den Teller musste er noch ein zweites und ein drittes Mal drehen, bis er leer war. Er hielt Barbla die neue Schnabeltasse mit dem Tee hin. Während sie mit geschlossenen Augen trank, betrachtete er ihr Gesicht. Es war nicht mehr das Gesicht einer knapp Vierzigjährigen. Es war, als hätte es sich in zwei Teile gespalten. In einen gesunden und einen kranken. Als hätte der Blitz eingeschlagen und Verwüstungen hinterlassen. Das eine Auge schien tiefer gesunken zu sein, der Mundwinkel auf derselben Seite zeigte schlapp nach unten, wie wenn daran ein unsichtbares Gewicht hinge. Furchen hatten sich in die Haut eingegraben, Rötungen und Schrunden von unkontrollierbarem Tränenfluss.

    Er erinnerte sich an eine Wanderung, die sie vor Jahren an einem warmen Tag Ende August unternommen hatten. Die letzte gemeinsame. Noch bevor die ersten Sonnenstrahlen den Weg ins Dorf fanden, waren sie aus dem Haus getreten und das Fahrsträßchen hochgestiegen, das auf die Maiensäße zu den Alphütten führte.

    Im Wald war es noch kühl. Auf dem Huflattich am Wegrand lag Tau. Ein Tannenhäher flatterte durch die Arvenwipfel. Als unten im Dorf die Kirchenglocken zu läuten begannen, waren Barbla und er schon über der Baumgrenze und machten Rast.

    Dann bogen sie in das schmale Seitental ein, das noch im Schatten lag. Bald erreichten sie die Alp Dadaint, deren Hütten und Ställe bereits leer und zugesperrt waren. Von hier verlief der Bergpfad seitlich stetig höher, bis er sich hinten, am Ende des Tals, in engen Serpentinen durch Geröllfelder und zwischen Felsstürzen hinaufwand zum Hochplateau.

    Barbla war ihm immer um einige Meter voraus. Ihre weiße Bluse leuchtete vor dem Schieferblau der Felswände. Den beigefarbenen Rock, der ihre Beine sonst bis über die Waden bedeckte, hatte sie hochgekrempelt bis zu den Knien und den Saum mit Sicherheitsnadeln befestigt, damit es sich leichter ging. In ihrem Nacken wippte der Zipfel eines hellblauen Kopftuchs.

    »Meine Gämse!«, dachte er.

    Wie eines dieser gelenkigen Wildtiere erklomm sie leichtfüßig die Höhe. Manchmal schien es ihm, als berührten ihre Schuhe kaum den Boden. Er war stehen geblieben und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Barbla war bereits oben, wo die Sonne sie traf. Sie drehte sich um, lachte und winkte.

    »Eine Gämse und ein Maultier«, stellte er fest, als er den Rucksack neben sie auf die Grasnarbe stellte.

    »Mein armer Lastenträger!«

    Barbla legte eine Maske gespielten Bedauerns auf, durch die gleich wieder das Lachen brach. Er drohte ihr mit dem Zeigefinger und zog sein Hemd aus.

    »Du wirst dir einen Sonnenbrand holen«, warnte sie.

    »Bei Maultieren besteht da wenig Gefahr.«

    Er holte die Flasche aus dem Rucksack und reichte sie ihr.

    »Und deine Beine, nackt wie die sind?«, fragte er. »Wenn die im Dorf unten wüssten, in welcher Aufmachung du da oben herumkraxelst – ich hab doch wenigstens noch das Unterhemd an.«

    Sie streckte ihm die Zunge heraus. Er verdrehte die Augen. Da stand sie auf, fasste ihn an den Armen und küsste ihn.

    »So, Anton Marxer, genug geschwätzt, die letzte Etappe steht uns noch bevor!«

    Am späten Vormittag, fast vier Stunden nach ihrem Aufbruch unten im Tal, erreichten sie den ersten See. Obwohl die Sonne schien, kräuselte ein kühler Wind das türkisfarbene Wasser. Barbla zog Schuhe und Strümpfe aus und watete durch den seichten Uferbereich.

    »Gletscherwasser!«, prustete sie schon nach den ersten Schritten.

    Er holte die neue Voigtländer aus dem Rucksack, die er kürzlich gekauft hatte, klappte den Balg auf und folgte Barblas Hüpfern durch die Linse. Es reichte gerade noch für eine, wie sich später herausstellte, etwas verwackelte Aufnahme, bevor sie auf eine Steinplatte sprang, die wie eine Zunge aus dem Wasser ragte.

    Barbla ließ sich auf dem Stein nieder und streckte die Füße aus. Er sah, wie eine Gänsehaut ihre nackten Beine überzog. Als er das Hemd überstreifte, nahm er eine Bewegung im Geröll wahr.

    »Da oben ist jemand«, sagte er.

    Barbla folgte seinem Blick. Auf dem Weg von der Seenplatte zur Fuorcletta ging ein Mann. Bisher war ihnen niemand begegnet. Rasch erhob sie sich, löste die Sicherheitsnadeln und ließ den Rock wieder auf Wadenlänge fallen. Die Füße rieb sie am vergilbten Gras trocken, schlüpfte in die Strümpfe und band die Schuhe.

    Sie umrundeten den See. Über eine kleine Kuppe gelangten sie zum zweiten See, stießen bald darauf auf den dritten, einen größeren. Hier waren die Farben noch intensiver. Im tiefblauen Wasser spiegelte sich der Schnee der umliegenden Gipfel.

    Wieder klappte er die Kamera auf, die er sich umgehängt hatte.

    »Schade, dass man die Farben nicht festhalten kann«, sagte Barbla.

    »Segantini hätte eine Staffelei heraufgeschleppt.«

    »Heraufschleppen lassen«, korrigierte sie.

    Er zuckte die Schultern. Der Wind wehte hier spürbar stärker. In einer felsigen Mulde fanden sie einen windgeschützten Platz für die Mittagsrast. Er öffnete den Rucksack und holte den Proviant heraus. Brotscheiben, Alpkäse, Trockenfleisch, dazu ein hartgekochtes Ei und als Nachspeise einen Apfel. Für die Verpflegung unterwegs war er verantwortlich. Das hatte auch sein Vater schon so gehalten.

    Barbla, die im Rucksack nach ihrer Windjacke suchte, hielt plötzlich eine Tafel Schokolade in der Hand.

    »Oh«, sagte sie, »was haben wir denn da für Schmuggelware?«

    Sie leckte sich die Lippen.

    »Statt Gipfelwein«, sagte er. »Gibt es erst oben auf dem Joch.«

    Sie verzog das Gesicht, legte die Schokolade aber folgsam zurück. Er lachte.

    »Braves Kind!«

    Wenn er hinuntermusste, nach Chur, wo seine Eltern wohnten, besorgte er jedes Mal ein paar Tafeln von Barblas Lieblingssorte. Wo er sie aufbewahrte, bis er sie, eine um die andere, bei besonderen Gelegenheiten hervorzauberte, hatte sie rasch herausgefunden. In der untersten Schublade des Lehrerpults, verdeckt von Stößen bedruckten Papiers. Sie behielt ihr Wissen für sich.

    Nach dem Essen stiegen sie wieder höher. Auf dem letzten Stück war das Gelände steil und eine einzige Geröllhalde. Einzelne Stellen waren schneebedeckt.

    Wenn sie hinunterschauten auf den weiten Bergkessel mit seinen zahlreichen Seen, glaubten sie, in die spiegelnden Augen eines trägen, steinernen Tieres zu blicken. Barbla sprach es aus, und er nickte.

    Oben auf der Fuorcletta packte sie der Wind. Sie waren auf fast dreitausend Meter Höhe. Der Blick ging über das schier endlose Tal nach Westen, das sich im Dunst verlor. Zu ihrer Linken, im Süden, erhob sich die weiße Kappe des Ortlers, greifbar nah und doch schon jenseits der Grenze, in der Ferne, in fremdem Land.

    Schweigsam, beide mit sich und dem Abstieg beschäftigt, stiegen sie dann hinunter, verweilten nochmals beim tiefst gelegenen See, wie betäubt von den Eindrücken der Höhe und der Weitsicht.

    Am frühen Abend stieß er die Tür des Schulhauses auf, sie stiegen die Treppe hoch in die Wohnung, aßen etwas und stillten den plötzlichen großen Durst. Die Nacht fand sie eng umschlungen, in einer rührenden Erschöpfung.

    Barbla hatte die Schnabeltasse hingestellt, gefährlich nahe an der Tischkante. Anton langte hinüber und zog Tasse und Teller aus ihrer Reichweite. Jetzt blickte sie ihn an. Bewegte die Lippen, als wollte sie etwas sagen. Aber es kam kein Laut. Nur eine Art Schmatzen. Vielleicht hatte sie noch überschüssige Flüssigkeit im Mund. Auch das Schlucken bereitete ihr oft Schwierigkeiten.

    Ihr Gesicht hatte nur noch im Schlaf eine Ähnlichkeit mit dem Gesicht in seiner Erinnerung.

    Meine Barbla, dachte er.

    Nein, sie gehörte nicht ihm. Nicht mehr. Manchmal wurde er wütend, regte sich

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