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Transberlin
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eBook322 Seiten4 Stunden

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Über dieses E-Book

Svetlana Imailova ist eine feste Institution auf dem Berliner Transenstrich. Eigentlich ist sie Privatdetektivin – wenngleich mit bescheidener Auftragslage. Der Anruf einer besorgten Mutter bringt Svetlana auf die Fährte des Medizinstudenten und Laienschauspielers Stefan Ilya. Svetlana vermutet hinter seinem Verschwinden einen Zusammenhang zwischen den angeblich abgeschobenen Strichern Sandy und Angel und dem unauffindbaren Travestiekünstler Sascha Sanders. Als Svetlana ihre Theorie Kriminalkommissar Malte Heinermann anvertraut, nimmt dieser sie nicht ernst. Aufgrund ihrer eigenen Geschlechtsidentität beschließt sie, den Fall zu verfolgen. Doch wer kommt als möglicher Täter infrage? Was hat es mit dieser Laientheatergruppe auf sich? Und warum muss Kriminalkommissar Heinermann eigentlich so verdammt gut aussehen?
SpracheDeutsch
HerausgeberHomo Littera
Erscheinungsdatum30. Okt. 2014
ISBN9783902885449
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    Buchvorschau

    Transberlin - Irina Theisen

    kann.

    1

    Svetlana kickte die Badezimmertür mit dem Fuß auf. Eine Wand aus weißem Dampf schlug ihr entgegen. Wie auf Kommando öffneten sich die Poren und ein Schweißfilm legte sich über ihre Haut. Sie stellte das Tablett auf den Klodeckel und trat die Tür wieder zu. Das Badezimmer war winzig, aber bei dem dichten Dampf konnte man sich vorstellen, es wäre eine Nische in einem riesigen Hamam. Eines wie in Almaty, vor dem Frauen Zweige verkauften, mit denen man sich gegenseitig mit kaltem Wasser bespritzte. Mit einem Rascheln fielen die Kleider auf den Boden, und Svetlana stieg mit einem wohligen Seufzer durch die dicke Schaumschicht ins heiße Wasser. Zentimeter für Zentimeter glitt ihr Körper in die Wanne. Das Wasser war so heiß, dass sie kurz die Luft anhalten musste. Sie genoss diesen Moment. Für ein paar Minuten schloss sie die Augen und legte den Kopf auf das Badekissen. Dann streckte sie ihre schaumige Hand nach der Bierflasche auf dem Tablett aus. Gab es etwas Schöneres als bis zum Hals in einer heißen Wanne zu liegen und eiskaltes Bier die Kehle hinunterfließen zu lassen?

    Svetlana griff zur Blutwurstsemmel. Erst beim Essen merkte sie, wie hungrig sie war.

    Kein Ort ließ sie so entspannen wie eine heiße Wanne, und an keinem Ort bekam sie so heftige Heimwehattacken. Dann dachte sie an Kasachstan und spürte, wie Tränen ihre epilierten Wangen hinabrollten und sich mit dem Badewasser vermischten. Und doch konnte sie nicht zurück; konnte nur hier die werden, die sie eigentlich war.

    Ihre Gedanken trieben durch die dichten Schwaden zurück zu jenem Sonntagmorgen, als sie mit ihrer Mutter in der engen Küche gesessen hatte, dem einzigen beheizbaren Raum in der kleinen Wohnung. Ihre Mutter hatte eine lange braune Wolljacke über ihrem Polyesternachthemd getragen. Ihre blonden Haare waren flüchtig gebürstet gewesen, die Schminke vom Vortag noch unter den Augen verschmiert. Der beißende Rauch der verbrannten Eier hatte Svetlana in den Augen gejuckt, aber bei den Außentemperaturen war es undenkbar gewesen, das Fenster aufzumachen. Im offenen Backofen hatten die blauen Gasflämmchen getanzt. Ihre Mutter, die sonst kaum etwas aus der Ruhe bringen konnte, umklammerte das Brot, sodass die Finger ganz weiß wurden. Sie starrte ins Leere, schien in Gedanken versunken, pickte nur ab und zu ein paar Krümel mit dem Zeigefinger vom Teller auf. In der vergangenen Nacht war die Mutter spät nach Hause gekommen. Svetlana hatte Schritte und unterdrücktes Kichern gehört und sich wie immer schlafend gestellt, als die Mutter sie auf die Stirn geküsst und zugedeckt hatte. Erst als die Zimmertür sich wieder geschlossen hatte, schaute Svetlana durch die Ritze in der dünnen Holzwand in das Zimmer der Mutter. Der russische Offizier war wieder da. Die Uniform der Roten Armee hatte er bereits ausgezogen und sorgfältig über die Stuhllehne gelegt. Ihre Mutter kam mit einem Tablett mit zwei Gläsern, bis zum Rand mit Wodka gefüllt. Es folgte das Übliche, und Svetlana schlief zum Quietschen des metallenen Bettgestells im Nachbarzimmer ein. Am nächsten Morgen beim Frühstück sah die Mutter sorgenvoll aus. Noch ehe Svetlana sie nach dem Grund fragen konnte, flüsterte diese: „Wir müssen hier weg! Alles ist verseucht. Die sprengen gar keine Mine!"

    Svetlanas Mutter gab ihre Stelle im örtlichen Lebensmittelmarkt auf, packte das Wichtigste in zwei große Koffer und eine Woche später saßen sie im Zug nach Shymkent, einer Stadt im Süden Kasachstans. In Tulkubas empfing sie Svetlanas Oma in ihrem weißen Lada und brachte sie zum Bauernhof in Jabagly. Nur wenige Tage später nahm die Mutter einen Zug in das rund 700 Kilometer entfernte Almaty. Dort wollte sie eine Stelle und eine Wohnung finden und Svetlana in spätestens ein paar Wochen nachholen. Doch wie immer kam alles anders. In den darauffolgenden Jahren blieb Svetlana bei ihrer Großmutter Natascha und hörte von ihrer Mutter wenig.

    Jeder war anders in Jabagly. Stalin hatte Menschen aus der ganzen Sowjetunion hierher verpflanzt, und so gab es Russen, Deutsche, Koreaner, Aserbaidschaner, Usbeken, Tadschiken und Kirgisier in Kasachstan. Ihre damaligen Freunde, so dachte Svetlana heute manchmal, hätten einem Benetton-Plakat oder der Wachturm-Zeitschrift der Zeugen Jehovas entlaufen sein können, so unterschiedlich hatten sie ausgesehen. Svetlanas russische Oma allerdings hatte nicht Stalin, sondern die Liebe nach Jabagly gebracht. Natascha war Ingenieurin gewesen und hatte am Schwarzen Meer gewohnt, als sie sich Hals über Kopf in einen kasachischen Soldaten verliebte, der an der Marinebasis der Stadt stationiert war. Sie hatten geheiratet, Natascha bereits mit einem imposanten Bauch, und waren in den Geburtsort ihres Mannes gezogen. Das war ein Schock, hatte sie immer wieder erzählt, denn ein Großteil der Kasachen in Jabagly hatte damals noch in Filzzelten gelebt, in sogenannten Jurten. Diejenigen, die nicht zwangsangesiedelt worden waren, hatten also eine nomadische Vergangenheit.

    Svetlana überlegte manchmal, ob das auch ein Grund für deren Toleranz gewesen war. Sie hatten sich immer bewegen und anpassen müssen. Ein Junge, der eigentlich ein Mädchen war – so wie sie selbst – war dabei nur eine von vielen Kuriositäten, die das Leben eben mit sich brachte.

    Auch wenn die Menschen Stück für Stück in feste Häuser gezogen waren, eine Ingenieurin hatte Jabagly damals so dringend gebraucht wie den Papst. Natascha hatte also die Zähne zusammengebissen und sich das Reiten beigebracht, denn ohne Pferde kam man in Kasachstan nicht weit. Sie lernte einen Hof zu bewirtschaften und entwickelte eine bahnbrechende technische Neuerung nach der anderen – von der gasbetriebenen Dreikammern-Sauna, die den Winter bei manchmal minus 50 Grad erst erträglich werden ließ, über die erste automatische Melkanlage bis hin zur Rübenputz- und Eiersortiermaschine. Auch als ihr Mann bei einem Unfall starb, hielt sie den Briefen ihrer Familie vom Schwarzen Meer stand, blieb mit ihrer Tochter in Jabagly und führte den erfolgreichen Hof, den die zu klein geratene Eselin Knopka besser als jeder Wachhund beschützte. Nicht, dass man sich in Jabagly vor irgendetwas hätte schützen oder fürchten müssen. Zumindest für Svetlana war die Heimat ihrer Kindheit der Ort mit den harmlosesten Menschen der Welt.

    Die schönste Zeit in Jabagly war der späte Frühling, wenn es warm war, aber noch nicht heiß, und überall auf den Wiesen Stuten mit ihren Fohlen grasten. Kinder teilten sich, manchmal zu fünft oder sechst, eines der wenigen Fahrräder und fuhren damit unter großem Gebrüll die Hänge hinunter. Sie jagten Gänse, Kälber oder Schweine vor sich her. Das Dorf bestand aus einer einzigen Straße und ein paar Häusern. Auf der einen Seite die endlose Steppe, auf der anderen hohe Berge, das Revier von Wölfen und Bären. Ob es wohl heute noch so aussah wie in ihren Erinnerungen?

    Svetlana öffnete wieder die Augen und griff nach der zweiten Hälfte der Wurstsemmel. Der Dampf im Badezimmer hatte sich gelichtet, das Wasser war nur noch lauwarm und der Schaum fast verschwunden.

    „Willkommen in der Realität, murmelte Svetlana, als ihr Blick an ihren Genitalien hängen blieb. Zu übersehen waren sie nicht. Schon als Kind hatte der Arzt bei der Schuluntersuchung nach einem Lineal gegriffen. Selbst ihrer Gynäkologin war ein leises Pfeifen entwichen: „Und dieses Prachtexemplar wollen Sie loswerden, Frau Imailova!?

    Dass ausgerechnet sie an ein so riesiges Glied geraten war, daran waren die Russen und ihr Atomtestgebiet schuld, da hatte sie keine Zweifel.

    Mit einem Ruck setzte sie sich auf, zog den Stöpsel, ließ das kalt gewordene Wasser ab, goss heißes nach, versteckte ihren Penis zwischen den Oberschenkeln und lehnte sich wieder zurück.

    Das Bellen Georgettes riss sie aus einem weiteren Tagtraum. Erst jetzt hörte sie das Telefon klingeln und dann den Anrufbeantworter anspringen. Sie stieg aus der Wanne, trocknete sich ab und zog den seidenen Kimono an. Ein Geschenk von Jesse, einem ihrer langjährigen Freunde. Er war per Hausgeburt in eine Wohngemeinschaft von Hardcore-Hippies in San Francisco geraten. Die großflächig gepiercte Frau mit den langen Rastalocken, der selbst gedrehten Zigarette im Mundwinkel und der „Fuck me hard"-Tätowierung über der Brust gab sich als seine Mutter aus. Wäre sie nicht taubstumm gewesen, hätte sie wahrscheinlich mit einer rauchigen Stimme Blues gesungen. Wer von den vielen Männern des Hausprojektes sein Vater war, darüber konnte auch Jesses Mutter nur spekulieren. Inzwischen lebte Jesse als Modedesigner in Berlin. Wenn man mit ihm ausging, endete es meistens im Exzess, aber man fühlte sich anschließend immer besser.

    Svetlana drückte auf den Wiedergabeknopf des Anrufbeantworters. Erst hörte sie nur dumpfe Verkehrsgeräusche, als hätte jemand von einer Telefonzelle aus angerufen. Gab es die überhaupt noch? Schließlich war eine zittrige Frauenstimme zu hören, vermutlich mit russischem Akzent.

    „Frau Imailova. Is’ Maria hier. Ich habe Ihre Nummer von einer Kollegin. Es geht um meinen Sohn. Der ist verschwunden. Also ich habe Auftrag für Sie. Sie können mich nicht zu Hause anrufen. Bitte kommen Sie heute Abend um acht zu Russischer Hof, Nähe Nollendorfplatz. Ich bitte Sie. Ist dringend, ja?"

    Svetlana schaute auf die Uhr. Es war kurz nach fünf. Wie konnte jemand davon ausgehen, dass sie so kurzfristig Zeit hatte? Wahrscheinlich hatte die Anruferin die Nummer von Frau Petrovka. Der hatte Svetlana mithilfe ihrer Hündin Georgette erst die alte Mama eingefangen, die aus einem der teuersten Altersheime in der Region, einer sogenannten „Seniorenresidenz", geflohen war, und drei Monate später den Ehemann beim Sex mit einer Prostituierten gefilmt. Keine Frage, eine gute Kundin – und einer von wenigen Einträgen in Svetlanas elektronischer Kundenkartei.

    Einen Auftrag konnte sie wirklich gebrauchen – wenn es denn einer werden sollte. Wahrscheinlich war es aber nur ein pubertierender Sohn, der ganz von selbst wieder auftauchte, wenn er Hunger bekam.

    Über den vorgeschlagenen Treffpunkt musste Svetlana trotzdem grinsen. Dieses russische Restaurant war um die Ecke von der Straße, in der die Mädels standen: Coco, Chanel, Linda, Kiki, Lola und wie sie sich alle nannten. Berlins Transenstrich. Ein Ort, an dem Svetlana bereits kurz nach ihrer Ankunft in Deutschland anschaffen gegangen war. Da ihr kasachischer Schulabschluss nicht anerkannt wurde, lediglich ihre Grundschulzeit, war es praktisch unmöglich gewesen, einen Beruf zu finden, geschweige denn ein Studium anzufangen. Einzig ihre Bewerbung zur Ausbildung als Privatdetektivin war akzeptiert worden.

    Es hatte ein halbes Vermögen gekostet – erst ihre Ausbildung und dann die ihrer einzigen Mitarbeiterin, ihrer eigenwilligen Hündin Georgette. Schließlich noch die Utensilien, die ein guter Privatdetektiv für seine Arbeit braucht. Aber Svetlana wusste, dass sie gut sein würde, nicht zuletzt wegen ihrer Wandelbarkeit. Noch gab es ihn, den Wladimir. Leider, dachte Svetlana. Leider.

    2

    Svetlana zog sich am Holzgeländer die Treppen hoch. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, als sie damals diese Altbauwohnung im vierten Stock gemietet hatte? Das Licht im Treppenhaus war ausgegangen, und einen Moment lang verharrte sie und lauschte dem dumpfen Plätschern des Regens. Ihre schwarze Lederjacke knarzte leise bei jedem Atemzug. Dann schloss sie die weiß lackierte Holztür auf, folgte Georgettes nassen Pfotenabdrücken bis in die Küche und schüttete drei Tassen Trockenfutter in die Schüssel der Hündin. Zum Scheppern der Metallschale und dem Knacken der Futterbrocken, die zerbissen wurden, hängte sie ihre nassen Sachen auf und warf einen Blick auf die Küchenuhr. Es war schon kurz nach sieben, Zeit, sich fertig zu machen. Svetlana ging ins Schlafzimmer, warf einige mögliche Kombinationen von der Kleiderstange auf ihr Bett und entschied sich schließlich für eine ihrer Meinung nach unaufdringlich und professionell aussehende Kombination: dunkle Jeans, kuscheliger schwarzer Angorapullover und schwarzer Blazer. Dazu die Stiefel mit den niedrigen Absätzen und leichtes Make-up. Sie wählte eine etwas größere Handtasche und packte noch einen Block im Lederumschlag und ihren Montblanc-Kuli ein. Dann schlüpfte sie in ihre Regenjacke und tätschelte im Vorbeigehen den Kopf der Hündin. „Bis denne. Wird nicht so spät heute!"

    Georgettes Bellen begleitete sie bis in den zweiten Stock, dann war nur noch das Klicken ihrer Absätze und das Rascheln ihres Regenmantels zu hören. Svetlana trat in den Nieselregen hinaus, spannte ihren Schirm auf und zündete sich im Gehen hastig eine Zigarette an. Die Straßen waren wie ausgestorben und das Licht aus Geschäften und Straßenlaternen spiegelte sich wie verloren auf dem nassen Asphalt. Während Svetlana den Rauch langsam aus der Nase blies, beruhigte sie sich selbst. Vermutlich sprang gar nichts dabei heraus. Vielleicht würde ihr Gegenüber gleich in Ohnmacht fallen, wenn sie ihr Honorar nannte, obwohl es im Vergleich zu anderen Privatdetektiven nun wirklich mehr als moderat war. So gerne hätte sie wieder einmal einen richtigen Auftrag.

    Ein Blick auf die Uhr, und Svetlana beschleunigte ihre Schritte. Weit war es nicht zu laufen, aber sie wollte zuerst da sein.

    Schon von Weitem konnte sie den Russischen Hof erkennen. Ein nicht ganz billiges, aber sehr leckeres und gemütliches Lokal im Erdgeschoss eines schönen, hellen Jugendstilhauses, um dessen Eingangstür sich Kletterpflanzen rankten. Svetlana atmete vor dem Restaurant einmal tief ein und wieder aus, klappte den Schirm zusammen und öffnete die Tür.

    Nur zwei Tische waren besetzt – der gleich rechts an der Tür von drei in Gespräch und Bier vertieften Männern und der Ecktisch hinten links. Dort hockte eine korpulente Frau mit offensichtlich gefärbtem, mahagoni-rotem halblangem Haar, den apfelgrünen Strickpullover an beiden Ärmeln hochgekrempelt. Svetlana schätzte sie auf Mitte vierzig. Sie sah zu ihr herüber, erst unsicher, dann lächelnd, hob einen ihrer fleischigen, goldreifgeschmückten Arme und winkte vorsichtig – Maria.

    Svetlana lächelte zurück, nickte kurz und ging zu ihr. Maria stand auf und gab ihr die Hand.

    „Schön, dass Sie gekommen sind, Frau Imailova!" Ihre Stimme zitterte.

    „Ich bin Svetlana." Sie ließ sich von der wie immer sehr freundlichen Bedienung erst aus dem Regenmantel helfen und dann die Karte reichen. Dann sah sie Maria aufmerksam an, doch die schwieg, spielte nervös mit den Fingern, inspizierte abwechselnd Svetlana und das Intarsienschachbrett auf dem Tisch und gab sich sichtlich Mühe, ihre Tränen in Schach zu halten.

    Svetlana überlegte. Sollte sie Maria erst mit ein paar Belanglosigkeiten entspannen, bevor sie zur Sache kamen?

    Doch sie entschied sich für den direkten Weg.

    „Es geht also um Ihren Sohn, Maria. Wie heißt er?"

    „Stefan Ilya", antwortete Maria gepresst.

    „Und Stefan Ilya ist plötzlich verschwunden und bis jetzt nicht mehr aufgetaucht?"

    „Ja, er ist gestern verschwunden."

    „Gestern?!«

    „Ja, gestern am frühen Abend."

    Svetlana unterdrückte ein Seufzen. Sie hatte damit gerechnet, dass sich der junge Mann schon seit Tagen nicht mehr hatte blicken lassen.

    „Wie alt ist Stefan Ilya?"

    „Er wird am Samstag 25." Maria brach in lautes Schluchzen aus. Ihre Schultern bebten. Svetlana griff nach der Papierserviette am Tisch und reichte sie ihr. Maria schnäuzte sich, umklammerte die benutzte Serviette mit der Faust und schien plötzlich wieder völlig gefasst zu sein.

    „Ich weiß, was Sie denken, Svetlana. Dass ich Mutter-Glucke bin und nicht alle Tassen im Schrank habe."

    Svetlana zwang sich zu einem heftigen Kopfschütteln. Maria fuhr fort: „Das denken die Bullen. Die sagen, der taucht schon wieder auf, ist normal für das Alter, dass die mal verschwinden. Ist ja auch erwachsen und so. Aber ich sage Ihnen, ist nicht normal. Ist gar nicht normal. Ich kenne meinen Sohn. Der macht so was nicht. Ehrlich. Mirna sagt, Sie können mir helfen, Sie haben auch Suchhund und so. Bitte, suchen Sie Stefan."

    „Stefan Ilya ist vorher noch nie für ein paar Tage abgehauen?"

    „Doch, klar. Aber er hat mir immer gesagt, wie lange er weg ist und wann er wiederkommt. Er ist zum Beispiel einmal auf medizinischem Kongress in Hamburg gewesen", bemerkte Maria mit Stolz in der Stimme.

    Mütter und ihre Söhne, dachte Svetlana, ging aber auf Marias Kommentar ein und fragte: „Ihr Sohn studiert Medizin?"

    „Ja, Reformstudiengang."

    Svetlana hatte keine Ahnung, was ein Reformstudiengang war. Wahrscheinlich war es auch nicht so wichtig. Sie hatte bei dieser ganzen Geschichte ein komisches Gefühl. Ihr Bauch signalisierte, dass sie Maria ernst nehmen sollte, ihr Kopf lachte sie dafür aus.

    Svetlana wusste nicht, was sie als Nächstes sagen oder fragen sollte, und Maria schaute sie abwartend an. Mit gespielten Gefühlen konnte sie umgehen, mit echten weniger. Zum Glück kam die Kellnerin und unterbrach die Stille. Maria bestellte das Angebot der Woche: Stör mit Kirschsoße, dazu ein Bier vom Fass. Der verlorene Sohn schien zumindest nicht auf den Magen geschlagen zu haben. Svetlana entschied sich für Mineralwasser und Blinis, doch noch ehe sie es verhindern konnte, hatte Maria unter Augenzwinkern einen Wodka für sie bestellt.

    Svetlana, die lieber einen professionellen Eindruck erwecken wollte, räusperte sich. „Erzählen Sie mir, was Stefan Ilya an dem Tag gemacht hat, als er verschwand. Von gestern also", nahm sie den Faden wieder auf.

    „Er war an der Uni, dann am TäF. Auf Svetlanas fragenden Blick hin fügte Maria hinzu: „Ich weiß auch nicht, was Abkürzung bedeutet. Dort hat er eine Stelle. So einen Studentenjob. Er macht Kurse für jüngere Studenten. Die nehmen sich da gegenseitig Blut ab und untersuchen sich und so. Dann kam er nach Hause, so um 17 Uhr. Er ist unter die Dusche gesprungen, war in Eile. Dann ist er mit Fahrrad los. Er sagte, er ist so um Mitternacht zurück, spätestens aber mit der letzten Bahn. Ich bin um 23 Uhr ins Bett. Heute Morgen bin ich um sieben aufgestanden. Ich bin in sein Zimmer und er war nicht da. Er hat nicht in seinem Bett geschlafen. Das weiß ich sicher. Ich habe dann um zehn nach neun beim TäF angerufen, in seinem Büro. Dachte, vielleicht hat er bei jemandem geschlafen und ist gleich ins Büro gefahren, obwohl er das noch nie gemacht hat. Seine Kollegin war dran. Sie war erst ärgerlich. Er ist nicht da, sagt sie. Er hat Kurs in fünf Minuten und sie hat Parallelkurs, kann ihn nicht vertreten und weiß nicht, ob sie Studenten wegschicken soll oder ob er noch kommt. Er ist sonst immer schon viel früher da.

    „War Stefan Ilya irgendwie anders in den letzten Tagen? Ist Ihnen etwas aufgefallen?"

    „Er hatte viel zu tun, hab’ ihn nicht viel gesehen. Aber nein, er war wie immer."

    „Und er hat nicht gesagt, wohin er gestern Abend noch wollte?"

    „Nein. Aber er wollte mit S-Bahn fahren, sagte, er kommt spätestens mit letzter Bahn."

    „Aber er hat auch sein Fahrrad mitgenommen?"

    „Ja."

    „Wo wohnen Sie denn?" 

    „In Mitte. Nächste S-Bahn-Station ist Hackescher Markt. Aber da hat er Fahrrad nicht abgestellt, da habe ich schon geschaut. Das hat er mit in die Bahn genommen."

    „Hat Stefan Ilya eine Freundin?"

    „Nein, hat er nicht. Hatte mal eine, aber das ist schon ein paar Jahre her."

    Die Getränke kamen und Svetlana nahm – entgegen ihrer guten Vorsätze – einen kräftigen Schluck Wodka. „Hat Ihnen Mirna Petrovka von meiner Hündin erzählt?"

    Maria nickte. „Ja, ein schlaues Tier, sagt sie."

    „Manchmal auch ein sehr störrisches. Svetlana lachte. „Sie heißt Georgette und hat eine Ausbildung in Mantrailing. Das ist eine Methode, mit der man einen geeigneten und gut trainierten Hund gezielt nach einer Person suchen lassen kann. Vor einigen Jahren habe ich mal einen Artikel auf einer amerikanischen Website dazu gelesen und war begeistert. Es ist doch erstaunlich, dass eine Methode, mit der man schon vor langer Zeit Verbrecher gejagt hat, in Europa so lange in Vergessenheit geraten ist.

    „Wie funktioniert genau?", unterbrach Maria sie, die anscheinend keine Nerven für eine Geschichtsstunde hatte.

    „Jeder von uns verliert im Zuge der ständigen Zellenerneuerung die ganze Zeit mehrere Millionen mikroskopisch kleiner Hautzellen, die sofort von Bakterien zersetzt werden. Dabei werden Gase frei, die ein Hund wiederum als ganz bestimmten Geruch wahrnehmen und von anderen Gerüchen unterscheiden kann. Dieser individuelle Duft ist wie ein Fingerabdruck. Unsere Nasen können ihn nicht riechen. Es ist also nicht der Körpergeruch, den wir mit einem Menschen verbinden. Je nach Bedingungen der Umgebung fallen die Zellen direkt auf den Boden oder werden vom Wind ein paar Meter weit getragen, bis sie zum Beispiel in Büschen hängen bleiben – manchmal also ein paar Meter neben dem Weg, den die gesuchte Person genommen hat. Wie gut eine Spur erkennbar ist, hängt von vielen Faktoren ab. Zum Beispiel von der Temperatur der Umgebung, der Beschaffenheit des Bodens, den Wetterverhältnissen, der Zeit, die vergangen ist, seit die Person diesen Weg genommen hat und so weiter."

    „Und das klappt auch bei Stefan?", wollte Maria wissen.

    „Versprechen kann ich es natürlich nicht, aber Georgette ist eine ausgezeichnete und begeisterte Mantrailerin. Sie hat das ,Mantrailer Excellent‘, die höchste Stufe von mehreren Prüfungen, mit Bravour bestanden. Für diese Prüfung musste sie eine 36 Stunden alte Spur verfolgen, die mehrmals auch über Plätze ging, die von sehr vielen Menschen überquert werden und die asphaltiert sind – eine Suche unter erschwerten Bedingungen also."

    Svetlana verstummte. Sie führte hier zwar gerade ein Verkaufsgespräch, versuchte sich aber in ihrem Enthusiasmus zu bremsen. Natürlich wollte sie Maria helfen, aber das Wahrscheinlichste war, dass Stefan Ilya von selbst wieder auftauchen würde. Spätestens in ein paar Tagen. So gesehen war eine Privatdetektivin hinausgeschmissenes Geld. Andererseits: Besser ein Auftrag für ein paar Tage als gar keiner. Es war an der Zeit, mal über den Mammon zu sprechen. Sie nahm einen Schluck Wodka.

    Maria schien ihr plötzliches Zögern zu spüren: „Frau Imailova. Svetlana. Ich habe Sie zu Russischem Hof gebeten, weil ich will, dass Sie Stefan suchen. Ich kenne Ihr Honorar von Mirna. Ich lege noch was drauf: Ich zahle nicht für Ergebnisse, sondern pro Stunde. Sie schreiben einfach die Zeit auf. Ich habe Vorschuss dabei. Polizei macht nichts. Sie sind Einzige, die ich kenne, die das kann."

    „Maria, ich weiß nicht, ob ich Stefan finden kann ..."

    „Ja, aber ich zahle, dass Sie versuchen. Sie sind

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