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Blutzucker: Roman noir
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eBook361 Seiten4 Stunden

Blutzucker: Roman noir

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Über dieses E-Book

WorldFood ist eine globale Lebensmittelfirma, die einen Pharmakonzern für Diabetesmedikamente angekauft hat. Doch als sich der Markt verändert und der Absatz von Zucker stockt, hat der Konzernmanager Meininger eine teuflische Idee, wie er den Umsatz ankurbeln kann: Diabetes durch versteckten Zuckerkonsum. Bei der Umsetzung seines Planes soll ihm der Lebensmittelchemiker Paul Hartmann helfen: Eine einfache Laborratte, glaubt der Manager. Doch Paul hat eine bewegte Vergangenheit und als Meininger auch noch seine Zukunft zerstört, schwört er auf Rache. Die Ermittler Kommissar Berg und Landers werden in den tödlichen Kampf verwickelt, bis letztlich auch ihr Leben in Gefahr gerät.

Leif Tewes führt den Leser hinter die Kulissen von modernen Großkonzernen. In seiner gesellschaftskritischen Auseinandersetzung mit Foodherstellern, Pharmaunternehmern und Lobbyismus verarbeitet er das aktuelle Thema "Zucker in Lebensmitteln". Mit einem nervenaufreibenden Rachefeldzug von Frankfurt über Zürich bis ins Herzen Kolumbiens deckt der Autor skandalöse Machenschaften und Zusammenhänge zwischen Food- und Pharmaindustrie auf. Ein brillanter Roman-Noir für starke Nerven um die brutale Frage: Was genau essen wir eigentlich?
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum15. März 2017
ISBN9783957711335
Blutzucker: Roman noir

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    Buchvorschau

    Blutzucker - Leif Tewes

    Krimi

    1

    Es werde wie eine Bombe einschlagen, sagte sie und erzählte aufgeregt von ihrem Treffen, bei dem sie die letzten Beweise erhalten hatte. Seine Annahmen hätten sich bestätigt, jetzt konnte sie sich endlich an diesen Verbrechern rächen.

    Dabei ging sie in dem kleinen stickigen Hotelzimmer auf und ab und gestikulierte, bis ihre Bluse zum Bauchnabel hochrutschte. Nur noch eine Fahrt zur Farm, Fernando würde sie begleiten, gleich am nächsten Morgen. Sie stellte sich auf ihre nackten Zehenspitzen und küsste ihn. Paul roch und schmeckte ihren Schweiß, ihre Augen glänzten. Diese tiefbraunen Augen, in die er sich verliebt hatte wie in den vergangenen zwanzig Jahren nicht mehr.

    Morgen, hatte er gedacht. Nur noch Morgen, dann ginge es wieder nach Hause.

    Doch am nächsten Tag steht er in einem kalten Kellerraum vor blutig verkrusteten und verkohlten Leichenteilen, zerfetzt von einer Autobombe, und soll die tote Frau identifizieren. Durch den Geruch abgestandener Seifenlauge dringt der kalte Gestank verbrannten Fleisches. Nur nicht in ihr Gesicht blicken. Die tätowierten Handschellen an ihren schmalen Handgelenken, die sie sich nach Genua hatte machen lassen, kann er weiterhin erkennen.

    Er nickt und wendet sich ab.

    Das ist Nicole.

    »Ihr Schweine«, schreit er in den leblosen Raum, der blasse Arzt versteht ihn nicht. Nur der schweigsame Begleiter von der Botschaft zuckt zusammen.

    Draußen empfängt ihn die schwüle Hitze wie eine verschwitzte Decke, seine Tränen vermischen sich mit Schweiß. Der Mann von der Botschaft begleitet ihn wortlos zum Fahrzeug, öffnet die hintere Tür und schließt sie sanft, nachdem er Platz genommen hat. Er müsse noch einige Dokumente unterschreiben, sagt der Mann während der Fahrt und fragt, wer die Familie benachrichtigen solle.

    Vor der verdunkelten Scheibe zieht die ihm verhasste Stadt vorbei, die sein Leben zum zweiten Mal zerstört hat.

    2

    In der deutschen Botschaft, einem phantasielosen Glaskasten am Ostrand von Bogota, befragen sie ihn höflich. Warum sie unterschiedliche Hotels gebucht hatten? Habe sich so ergeben, lügt er. Ob er bei seinem Anruf bereits einen Verdacht gehabt habe, dass sie Opfer des Anschlags gewesen sei? Nein, er habe nur nicht gewusst, wohin er sich wenden sollte, als sie zur Verabredung nicht erschien.

    Er will ihren Erklärungen glauben, sie sei nur zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Im Corolla des landesweit bekannten und nicht überall beliebten Menschenrechtsanwalts Fernando Alvirez. Was hatte sie überhaupt mit Alvirez zu tun? Er antwortet ausweichend, sie sei Journalistin und habe mit dem Anwalt irgendein Dorf außerhalb der Stadt besucht. Welches Dorf? Er wisse es nicht. Sie lassen ihn verschiedene Papiere unterschreiben, die er sich nicht durchliest, überreichen ihm eine Plastiktüte mit ihrer Armbanduhr und einem Paar Ohrringen, mehr haben sie leider nicht retten können, dann darf er gehen.

    Die dünne Holztür zum Hotelzimmer steht offen. Zögernd geht er hinein und blickt in ein verwüstetes Zimmer. Die Matratze aufgeschlitzt, ihre wenigen Kleider aus dem Schrank gerissen, selbst die Schubladen der Nachttischchen sind herausgezogen, die Bibel liegt aufgeblättert davor. Die vergilbten Gardinen wehen sacht im schwachen Luftzug des sich knarzend drehenden Deckenventilators. Am Rucksack zwischen den beiden Sesseln sind alle Reißverschlüsse geöffnet, der Inhalt durchwühlt. Er setzt sich auf die Bettkante und schaut starr in das Chaos.

    Nicht Nicole war zur falschen Zeit am falschen Ort. Der Anwalt hatte zur falschen Zeit die falsche Begleitung. Ihren Laptop hatte die Explosion zerfetzt, doch sie waren gründlich und hatten das Hotelzimmer durchsucht. Er springt hoch und schaut in die kleine Tonvase auf dem Couchtisch, die Plastikblumen liegen über den dunklen Teppich verstreut. Der USB-Stick ist weg. Er hatte sie für paranoid gehalten, ihr gesagt, sie nähme sich und diese Geschichte zu wichtig, der Blödsinn mit getrennten Hotels und unterschiedlichen Flügen. Jetzt war sie trotzdem tot. Das ist das Problem an Paranoia: Mitunter hat sie recht.

    Er geht in das muffige Badezimmer, das kleine Fenster klemmte vom ersten Tag an, die nackte Glühbirne flackert nach wie vor. Bilder von der letzten schnellen Nummer blitzen in diesem zittrigen Licht auf. Ihr Waschbeutel liegt auf den abgetretenen Fliesen, der Inhalt in der Badewanne verteilt. Schminke, Haarbürste, Tempotaschentücher. Er dreht sich um, hebt den Deckel des kleinen Mülleimers und reißt die Plastiktüte heraus. Der anderer USB-Stick ist noch da, am Boden mit Klebeband befestigt. Er zieht ihn ab, erst dann fällt sein Blick in den Müllbeutel. Eine kleine Pappschachtel und ein grober weißer Plastikstift, er fischt ihn heraus und dreht ihn. Das große blaue Kreuz im Sichtfenster brennt sich in die Netzhaut. Langsam sackt er auf die Knie, in der rechten Hand den Schwangerschaftstest fest umklammert.

    Sein Schrei fegt aus dem Zimmer in den Hotelflur, dröhnt durch den Innenhof, vorbei an der Rezeption hinaus auf die Straße und vermischt sich erst an der nächsten Kreuzung mit dem Lärm qualmender Busse.

    Er stirbt zum dritten Mal, und nun fühlt es sich endgültig an.

    3

    Mit einer halbleeren Flasche 20-jährigen Rums vor sich sitzt er an der Bar des Nobelhotels Estelar La Fontana. Nach über zwanzig Jahren wieder hier, diesmal hat er die Suite selbst bezahlt. Es hatte ein versöhnliches Wiedertreffen mit der Stadt und dem Leben werden sollen. Die zugige Tür zur Vergangenheit endgültig schließen, durch die so lange jede Lebendigkeit verschwunden war. Sich den Ängsten stellen, hatte damals der Therapeut gesagt. Sie umarmen, annehmen und am Ende beherrschen. Bullshit. Das wenige, das er seitdem umarmen konnte, lag nun bröselig in einem kalten Keller.

    Hätte er Nicole nur nie davon erzählt, nicht nachgegeben, damals, auf diesem schaukelnden Schiff, oder besser noch: Hätte er nur nie an ein neues Leben geglaubt. Dann würde sie noch leben. Sie beide würden noch leben.

    Nein, sie drei würden noch leben. Und nur, weil …

    Er schenkt nach und verschüttet dabei den teuren Rum. Bewundernswert, mit welcher inneren Kraft sich die vergossene Flüssigkeit zusammenhält und aufbäumt, wie die Moleküle in unsichtbarer Absprache gemeinsam einen neuen Weg suchen, bis der kahlköpfige Barkeeper kommt, wortlos mit einer routinierten Handbewegung die Theke sauber wischt, das Vergossene tötet und den Lappen wieder über die Schulter schwingt.

    Mit einem Schluck trinkt Paul das Glas leer, verzieht das Gesicht und schenkt diesmal vorsichtiger nach.

    Er hatte an die zweite Chance geglaubt. Ein Leben, ein zweites, mit ihr. Wichtig kam er sich vor, nicht nur wie ein erfolgreicher Chemiker, sondern wie ein Weltverbesserer. Er, der Insider, sie, die unbarmherzige Aufdeckerin. Wie sie mit ihrem Idealismus und ihrer gnadenlosen Energie diesem Skandal nachging, recherchierte, dokumentierte, formulierte, ihn zu dieser Reise überredete mit leuchtenden Augen und Feuer in ihrer Stimme. Und er hatte sie nicht gestoppt. Weil er seine Angst überwinden wollte. Weil er zu feige war, weil er sie nicht enttäuschen wollte. Und weil sie ihm ein Versprechen gab.

    Jetzt ist Nicole tot. Wie Karin. Erneut zwanzig Jahre in einer dämmrigen Höhle verbringen wie in einem nuklearen Winter? Warten, das irgendwas passiert? Atomen beim jahrzehntelangen Zerfall zuschauen? Seinem eigenen Verfall?

    Der Rum versagt ihm diesmal die Unterstützung, trifft keine Entscheidung, so sehr er auch darauf hofft. Er wartet, dass der nächste Schluck im Magen vom Blut aufgenommen und ins Gehirn geschleudert wird, um dort eingeschlafene Synapsen aufzuwecken. Er dreht die Flasche unentschlossen zwischen den Fingern, bis er die Gravur ertastet: »Dictador Solera Reserva 20«. So ein Diktator macht sich das Leben einfach, überlegt er. Der handelt. Rücksichtslos, konsequent. Gegen jeden Widerstand. Aus Eigennutz, machtberauscht, in seinem eigenen Paralleluniversum, fern aller Regeln unserer Welt, auf alle Gesetze und Moralen scheißend.

    Wenn es nur so einfach wäre.

    Mit besoffener Wut schlägt er so hart auf die Theke, dass der Barkeeper erschrocken aufblickt. Paul blickt finster zurück.

    Vielleicht, murmelt er, ist es so einfach.

    Denn diesmal kennt er den Feind.

    4

    Pauls zweites Sterben hatte süß begonnen. Sein Vorgesetzter, Stefan Meininger, hatte an einem Mittwochvormittag zwei Jahre zuvor in seinem Büro gestanden. Zwar einen Kopf kleiner als Paul, aber sein Auftritt, der nie knittrige Anzug und die schnelle Aussprache versprühten die Energie eines Jungbullen, obwohl er nur fünf Jahre jünger war. Er sollte um 13:00 Uhr in den Besprechungsraum »Cordoba« kommen und sich auf einen Vortrag über »Stevia« vorbereiten.

    Schon wieder, wollte Paul fragen, aber Meininger war gegangen, ohne die Bürotür zu schließen. Die Schritte des zierlichen Mannes hallten durch die halbe Etage. Er legte einen Laborbericht zur Seite und wandte sich seinem Computer zu. Das Thema hatte Meininger ein Jahr zuvor an ihn herangetragen, doch auf seine aufwändig recherchierten Unterlagen nie reagiert. Wie so oft.

    Warum jetzt?

    Paul suchte in seiner Dateiablage nach den alten Dokumenten. Schnell etwas zusammenkopieren, ein bisschen was über die Pflanze »Stevia rebaudiana«, deren Anbaugebiete und Formen, chemische Eigenschaften, Nutzungsmöglichkeiten als Ersatz für Saccharose und wie gefährlich sie der Zuckerindustrie werden konnte. Er erstellte eine PowerPoint Datei und kopierte einzelne Folien aus den bestehenden Präsentationen, sortierte sie neu und baute viele Bilder ein. Manager brauchten Charts und Grafiken, keinen langatmigen Text.

    Er startete mit einem bildreichen geschichtlichen Abriss. Wie der Zuckerrohranbau im 8. Jahrhundert im Orient begann, die Kreuzritter auf den Süßstoff trafen, Venedig den Zuckerhandel im Mittelmeerraum kontrollierte und damit reich wurde. Wie der Zucker im 12. Jahrhundert nach England kam, die Portugiesen sich 400 Jahre später auf das weiße Gold konzentrierten und in Brasilien die ersten Zuckerrohrplantagen bauten, während die Spanier vergeblich nach dem gelben Gold suchten. Wie durch Tee und Kaffee der Zuckerbedarf weiter stieg. Wie Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. die erste Rübenzuckerfabrik finanzierte und so eine Alternative zum teuren Zuckerrohrimport entwickelt wurde. Ein Liniendiagramm zeigte, wie 1885 der Rübenzucker die Produktionsmenge des Rohrzuckers überholte. Zum Warmwerden, dachte Paul, sind historische Zusammenfassungen und alte Schwarzweiß-Fotos hilfreich. Klingt so nach Tradition und Kultur und nicht nach Milliarden-Gewinnen mit einem ernährungstechnisch überflüssigen Nahrungsmittel.

    Dann eine Darstellung der chemischen Zusammensetzung des Zuckers - ein Molekül Glucose, ein Molekül Fructose, Summenformel C12H22O11 - und dessen Funktion im menschlichen Körper. Das alles kannten die Zuhörer, vermutete er. Genauso wie die frühe Regulierung des europäischen Zuckermarktes. Aber diese guten alten Zeiten waren vorbei. Er fand Prognosen, wie sich die Märkte bereinigen und die Preise weiter fallen würden. Das wäre der Teil der Präsentation, bei dem die Zuhörer nachdenklich auf ihre Notizblöcke schauen würden.

    In einem weiteren Kapitel fasste er die gesundheitlichen Auswirkungen des Zuckerkonsums zusammen. Schaubilder zeigten, wie die Anzahl übergewichtiger Kinder und Jugendlicher seit den 90er Jahren um die Hälfte zugenommen hatte und die stark steigenden Diabetes Typ 2-Erkrankungen. Die Zuckerindustrie hatte verhindert, den Zusammenhang wissenschaftlich beweisbar nennen zu dürfen, die gängige Ausrede beinhaltete beharrlich »fettreiche Ernährung« und »mangelnde Bewegung«.

    Diesen letzten Satz löschte er wieder.

    Mit sanften Überblendungen baute er die Diagramme über Diabetes-Erkrankungen für Deutschland, Europa und die gesamte westliche Welt auf, die neben den Daten des asiatischen Raums jedoch verblassten. Ein weltweites Problem. Er fand das Protokoll einer WHO-Konferenz, auf der festgestellt wurde, dass Übergewicht den Hunger als größtes Ernährungsproblem abgelöst hatte und Diabetes in Afrika mittlerweile dramatischere Auswirkungen als Aids verursachte.

    Auf der Welt gab es mehr Dicke als Hungernde.

    Paul überlegte, wie eine Misereor-Kampagne zu »Übergewicht in den Entwicklungsländern« im Werbespot dargestellt werden würde. Und wer da spenden würde. Kopfschüttelnd schloss er das Kapitel.

    Das zentrale Thema war ja Stevia rebaudiana, einer unscheinbaren hochstängeligen Kulturpflanze in eintönigem Grün, die in Südamerika seit fast hundert Jahren angebaut wurde. Die noch nicht ausgestandene Bereinigung des Zuckermarktes und die stetig wacher werdenden Verbraucher führten zu erhöhter Aufmerksamkeit für jedwede Neuerung im Markt der Süßstoffe. In den USA war der Absatz der zuckergesüßten Limonaden in den letzten fünfzehn Jahren um zwanzig Prozent eingebrochen. Auf vier Folien zeigte er den komplexen chemischen Prozess zur Gewinnung der Süßstoffe aus der Pflanze. Der Weg war lang bis 2011 zur Zulassung der Steviolglycoside als E960 – die Blätter der Pflanze waren als Lebensmittel nicht zugelassen - mit geringen Höchstmengen bei teuren Anpassungen in den Produktionslinien. Ein weiteres »E« in der Zutatenliste, Nährwertkennzeichnungspflicht, und dennoch war ein vollständiger Ersatz von Zucker in gesüßter Ware noch lange nicht möglich. Die massiv höhere Süßwirkung als Zucker bei dramatisch geringerer Nährstoffwirkung formulierte die Marketingabteilung in einer ersten Idee mit »Schlemmen ohne Reue«. Scheiße, die gut riecht, wäre wirklich mal was Neues, überlegte er.

    Ihm fiel auf, dass er trotz all dieser Fakten seine Essgewohnheiten nicht geändert hatte und noch immer gerne ein Nutella-Brötchen zum Sonntagsfrühstück aß.

    Auf den letzten Folien stellte er die Auswirkungen der Substitution von Rübenzucker durch Steviolglycoside dar. All die dann wertlosen Beteiligungen an Zuckerfabriken in Europa, die Kosten für die Anpassung von Rezepturen und Produktionsstraßen, Marketingbudgets, langwierige Zulassungsverfahren. Das jahrzehntelang abgeschottete Zuckergeschäft brach zusammen und der Ersatz durch Stevia machte es nicht besser, nur teurer. In den USA konnten die Maisfabriken durch die Umstellung auf steuerlich gefördertes Bioethanol den seit einiger Zeit sinkenden Maissirup-Umsatz auffangen, der ohnehin durch den erwarteten massiven Export von Isoglucose in die EU wieder steigen würde. In Europa gab es für die niedergehenden Rübenbauern keinen Ausweg, der Maissirup war einfach zu billig. Die Amis hatten erneut gewonnen.

    Diese eine Tabelle, auf der er vor einem Jahr die Probleme und Kosten zusammengestellt hatte, vermutete er, war der Grund gewesen, dass seine Zusammenstellung ignoriert worden war.

    Warum nun doch? Er blätterte alle Folien durch, es waren über dreißig. Er schaute auf die Uhr. Keine Zeit für Feinschliff. Er zog die Datei auf einen USB-Stick, nahm sein dunkelblaues Reserve-Sakko vom Wandhaken, strich einige Fusseln ab und verließ das Büro.

    Im siebten Stock stieg Meininger zu ihm in den Fahrstuhl und wollte wissen, ob er fertig geworden sei. Paul nickte und fragte, wer sich denn nun für das Thema interessiere. Großes Programm, meinte Meininger und lächelte. Paul blickte zur Seite. Er hasste dieses Lächeln, bei dem der Großteil der dreiundvierzig dafür zuständigen Muskeln steif blieb. Vorstand, zweite Führungsebene, fuhr Meininger fort, und neue Kollegen von Clingo, diesem Pharmakonzern, den sie Anfang des Jahres gekauft hatten. Paul schaute seinen Vorgesetzten wieder an. Ja, sagte Meininger, mit den Pharmakollegen verändere sich für manche Geschäfte der Blickwinkel.

    Im elften Stock ruckte der Fahrstuhl, die Türen öffneten sich. Paul machte lange Schritte, um gleichzeitig mit Meininger den Besprechungsraum »Cordoba« zu erreichen. Die Tür stand offen, Paul sah rund zwanzig Männer leise redend an einem ovalen Tisch sitzen. Halt, nein, eine Frau war dabei. Meininger stellte ihn als Paul Hartmann, Teamleiter F&E und Lebensmittelchemiker vor, während Paul den Stick in den vorbereiteten Laptop steckte, die Verbindung zum Beamer prüfte und die Präsentation öffnete. Dann erst schaute er über den dunkel schimmernden Tisch in die Gesichter der Teilnehmer. Nur wenige kannte er, alle wirkten wie aus einem Genlabor für Führungskräfte. Dunkle Anzüge, dezente Krawatten – selbst die Frau trug ein Halstuch –, weg gefärbtes Grau, bis auf den Vorstandsvorsitzenden am Kopfende, der ihm knapp zunickte und sich zurücklehnte.

    Paul begann nervös, las von den Folien ab, klickte zu schnell und musste mehrmals zurückblättern. Beim Kapitel über Brasiliens Klage als größter Zuckerproduzent der Welt vor der WTO und die vernichtende Entscheidung, dass die EU die Zuckermarktordnung eindampfen musste, hörte er vereinzeltes Stöhnen. In zwei Jahren würde sie auslaufen, keinerlei Schutz mehr durch Zölle, Quoten und Subventionen. Seit Jahrzehnten hatte die EU einen Festpreis für Zuckerproduzenten garantiert, nahezu jedes europäische Land, von Finnland bis Griechenland, baute Zuckerrüben an. Auf Diagrammen zeigte er den sinkenden Zuckerpreis und die einbrechende Anzahl der Rübenplantagen, das Foto aufgebrachter Rübenbauer auf einer Kundgebung »Rettet den Zucker« verursachte wieder vereinzeltes Stöhnen.

    Die Zahlen seines Arbeitgebers waren den meisten Anwesenden offenbar bekannt, er sah vielfaches Nicken, als er aufzeigte, wieviel Millionen Tonnen Zucker WorldFood jährlich einkaufte, zu welchen Preisen und in welchen Produkten er verwendet wurde. Säfte, Cerealien, Milchprodukte, Süßigkeiten, Ketchup, Dosensuppen, Fertignahrung, die Liste war lang. Zu sprunghaft gestiegenen Balken konnte er die Namen der Fabriken und Hersteller benennen, die WorldFood gekauft hatte.

    Als es um die gesundheitlichen Auswirkungen des Zuckerkonsums ging, sich die Diabetes Typ 2-Zahlen aus Asien im Tortendiagramm aufbauten, bemerkte er eine veränderte Stimmung bei den Zuhörern. Sie tauschten Blicke, einige nickten sich zu, schrieben etwas auf.

    Paul blätterte zu den Rübenzucker- und Rohrzucker-Alternativen und zeigte Produktionszahlen des deutlich billigeren »High Fructose Corn Syrup« aus den USA. Es gab Rückfragen, wie denn der europäische Markt davor geschützt werden könne, wenn Brüssel bald die Einfuhrhöchstgrenzen kippen und die Gewinnspanne für Zucker um vierzig Prozent sinken würde. Er blickte hilflos zu Meininger, der wiederum zum Vorstandsvorsitzenden schaute. Brüssel, so dieser, sei in Arbeit. So richtig beruhigend schien das jedoch nicht zu wirken, hier und da hörte er leises Stöhnen.

    Beim Kapitel Stevia wurde es unruhig im Raum. Meininger bedeutete ihm, die Vor- und Nachteile Stevias gegenüber Erythritol, dem in Asien bereits seit längerem aus Strohpilzen genutzten Zuckerersatz, schneller zu übergehen. Den meisten war anscheinend bekannt, dass dieses Zeug eine deutlich geringere Süßwirkung hatte und das günstigste Herstellungsverfahren durch Patente blockiert und so hundertmal teurer als Zucker war.

    Die letzte Folie, eben diese Tabelle mit Vor- und Nachteilen, beziffert in Euro, leuchtete gleich einer blutenden Wunde. Eine kurze Diskussion zwischen dem Finanzvorstand und Meininger über die Anpassungskosten der Produktion konnte er nicht unterbinden. Er setzte sich. Nach einer Weile sprach ihn ein ihm unbekannter Mann an, der auffallend viel notiert hatte. Lokowski, Forschungsleiter Clingo, stellte er sich vor und wollte wissen, welche Tests er mit Stevia bereits durchgeführt hätte. Paul antwortete knapp: Extraktion, Enzymzusätze, Kombination mit Rohrzucker, Messung Prostaglandine. Ob er mutagene Auswirkungen getestet hätte. Nein, solche Untersuchungen seien sehr aufwändig. Sollte kein Problem sein, warf der Finanzvorstand ein. Ob er Steviolglycoside aus genmanipulierten Varianten im Labor nachweisen könne, hakte der Forschungsleiter nach. Paul überlegte kurz. Käme auf die Art der Manipulation und die Mittel im Labor an. Wenn er nicht wüsste, wonach er suchen sollte, könnte er auch nichts finden.

    Der Mann nickte und notierte erneut etwas. Ob er schon andere Extrakte außer Steviosid gewonnen hätte. Paul verneinte und fügte hinzu, bis jetzt sei keineswegs alles probiert worden, was seiner Meinung nach möglich wäre. Der Mann nickte wieder.

    Paul traute sich ihn zu fragen, ob denn Steviolglycoside bei der Behandlung von Diabetes-Erkrankungen oder zu deren Prävention hilfreich seien. Ihm war so, als sei die Stille nach dieser Frage bedeutend. Lokowski schaute auf seinen Block und dann zum Vorstand.

    Das, antwortete der Vorstandsvorsitzende, sei eine der Fragen, die zu klären seien. Es gebe längst genug Produkte mit Zuckerersatzstoffen für Diabetiker, leider aber noch keinen Trend, in welche Richtung sich der Markt entwickle. Und wie sich Stevia auf die Erkrankung auswirke oder ob präventiv Diabetes Typ 2 verhindert werden könne, wisse man ebenfalls noch nicht. Was für die Gesundheit der Menschheit hilfreich sei, könne einem Pharmaunternehmen mit einer führenden Marktposition für Insulinprodukte jedoch gefährlich werden.

    An dieser Stelle nickte Lokowski bedächtig. Der Vorstandsvorsitzende schwieg eine Weile, bevor er sich für die kompakte und fachlich gut zusammengestellte Präsentation bedankte. Herr Meininger würde in Kürze mit neuen Aufgaben auf ihn zukommen.

    Paul bedankte sich für die Aufmerksamkeit, zog den USB-Stick vom Laptop und verließ, während höflich auf den Tisch geklopft wurde, den Raum. Er brauchte nur bis zum Fahrstuhl, um das Problem zu begreifen:

    Was tat ein Pharmaunternehmen, das von Diabetikern lebte, in einer Welt ohne Zucker?

    5

    Er wollte diese Frage Meininger stellen, als er am nächsten Tag zu ihm gerufen wurde, aber gerade als Paul vor dem Schreibtisch Platz genommen hatte, begann Meininger umgehend zu reden.

    Wie sich durch die Akquisition von Clingo andere Perspektiven eröffnen würden, bisher unerreichbare Märkte, zusätzliche Geschäftsfelder mit neuen Chancen. Nach einer Weile unterbrach Meininger sich selbst und blickte Paul fragend an.

    »Haben Sie denn Fragen oder einen Standpunkt dazu?«

    Nun, eine Frage gab es da. Doch Paul schüttelte lahm den Kopf, es schien ihm nicht der richtige Moment. Den gab es sowieso nie.

    »Ich bin Lebensmittelchemiker und kann Grillfleisch nach Kaffee riechen lassen, aber für das sogenannte Business Development oder Product Management sind andere zuständig, oder?«

    Meininger lehnte sich vor, selbst im Gegenlicht konnte Paul die roten Flecken in seinem Gesicht sehen.

    »Herr Hartmann, Sie sind einer der wenigen Lebensmittelchemiker in diesem Konzern mit weltweit immerhin 130.000 Angestellten. Also gewissermaßen Mitglied einer Elite. Ihre Aufgabe ist nicht nur das Forschen und Entwickeln nach Auftrag, sondern auch die aktive Mitarbeit an strategischen Entwicklungen!«

    Er lehnte sich wieder zurück und fuhr mit der Hand durch die Luft.

    »Diese Präsentation hätte ich ja sonst von einem Werkstudenten halten lassen können, war eh grad mal das Niveau einer Klassenarbeit in der Realschule.«

    »Naja«, warf Paul leise ein, »ich hatte ja nur wenige Stunden Zeit und …«

    Meininger unterbrach ihn mit einer Handbewegung, stand schwungvoll auf und drehte sich zum Fenster.

    »Darum geht es nicht.« Er sprach, ohne Paul anzublicken. »Wie lange arbeiten Sie schon für WorldFood?«

    »Acht Jahre«, antwortete Paul.

    Meininger nickte. »Seit wann bin ich Ihr Vorgesetzter?«

    »Seit knapp drei Jahren.«

    Meininger nickte wieder.

    »Und wie lange, glauben Sie, werde ich Ihr Vorgesetzter bleiben?«

    Paul zuckte mit den Schultern und schwieg. Meininger drehte sich vom Fenster weg und schaute Paul an. Die roten Flecken hatten sich aufgelöst.

    »Vielleicht weitere drei Jahre, länger nicht«, sagte er. »Ich habe andere Ziele als immer nur den gleichen Job, immer nur im gleichen Büro, immer nur das gleiche Geld. Doch dazu müssen Dinge ständig neu gedacht werden und auch mal quer und auch mal falsch rum.« Seine Stimme wurde lauter. »Was haben Sie denn an echten Innovationen in den letzten sechs Jahren in dieser Abteilung entwickelt?«

    Paul zuckte zusammen. »Nun«, antwortete er nach kurzem Überlegen, »der von mir entwickelte Aromawert-Index hat dazu beigetragen, dass unsere Apfelsäfte bei

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