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Dornen und Disteln soll er dir tragen: Küsten-Krimi
Dornen und Disteln soll er dir tragen: Küsten-Krimi
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eBook325 Seiten4 Stunden

Dornen und Disteln soll er dir tragen: Küsten-Krimi

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Über dieses E-Book

Drei Leichen im Naturschutzgebiet.
Ein Ackerboden als Geldanlage.
Und Geschosse aus einem Karabiner.

Der zweite Fall für Tom Schroeder, Polizeiseelsorger und Ex-Pfarrer.
Wo die Peene in die Ostsee mündet und nachts wieder der Wolf jagt, ist wirklich Hinterland. Rapsfelder und Windparks prägen diese Landschaft. Drei Moorleichen am Waldrand sind ein Zufallsfund. Waren es russische Zwangs­arbeiter aus den letzten Kriegstagen? Ein heikler Fall für die Greifswalder Kripo und für Polizeiseelsorger Tom Schroeder, zumal hochrangige Kreise darauf drängen,die Akte rasch zu schließen. Aber die neue Hauptkommissarin mit dem festen Händedruck stammt aus der Gegend, und manch einer im Dorf scheint sich zu erinnern.
Nur redet niemand – bis ein Mord geschieht. Und plötzlich nimmt der Fall eine unerwartete Wendung, denn es gibt eine Verbindung zu den Toten im Moor.
SpracheDeutsch
Herausgebercmz
Erscheinungsdatum6. Juni 2019
ISBN9783870622923
Dornen und Disteln soll er dir tragen: Küsten-Krimi

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    Buchvorschau

    Dornen und Disteln soll er dir tragen - Volker Pesch

    verteilt.

    Märchenwald

    Dann kamen die Mücken. Zu tausenden schwirrten sie durch die feuchtwarme Luft. Ihre Flügelschläge verdichteten sich zu einem hellen Sirren, einem bedrohlichen Ton, der sich wie ein Tinnitus über alles legte und immer weiter anzuschwellen schien. Natürlich hatte er nicht an Mückenschutz gedacht, als er überstürzt im Kommissariat aufgebrochen war. Dafür hätte er in den Wiecker Hafen fahren müssen. Denn möglicherweise gab es noch einen Rest an Bord seines Bootes. Aber der Abstecher dorthin hätte einen Umweg bedeutet, und er hatte darauf gebrannt, endlich an den Fundort der Leiche zu kommen.

    Allerdings fuhr er ohne Navi. »Kein Problem«, hatte Tina Effmert gesagt, »du nimmst einfach die Umgehungsstraße bis hinter Anklam, biegst in Neu Kosenow links ab und folgst immer dem Plattenweg, bis du in Bugewitz bist.« Er war mit dieser Beschreibung sichtlich überfordert gewesen. »Viele Dörfer hier enden auf Witz oder Ohweh«, hatte sie schmunzelnd hinzugefügt, »und das ist alles andere als Zufall. Aber du findest das schon, die Gegend ist ziemlich flach, da kannst du weit sehen, bis zum Achterwasser und bei gutem Wetter sogar bis Usedom. Außerdem gibt es Verkehrsschilder.« Er hatte das Örtchen tatsächlich ohne Probleme erreicht, war an der Dorfgaststätte nach links gefahren und hatte nicht weit hinter dem letzten Haus am Straßenrand geparkt. Von dort aus war er über den nächstgelegenen Weg direkt ins Naturschutzgebiet gegangen, genau wie Tina das beschrieben hatte. »Dann siehst du uns schon«, hatte sie noch gesagt, »wir rücken nämlich mit der kompletten Mannschaft an.«

    Er war also auf das vorpommersche Küstenland vorbereitet, aber in keiner Weise darauf, derart tief ins Unterholz vorzudringen. Noch dazu als einziger Warmblüter unter Myriaden von Mücken. Jetzt wedelte er zur Abwehr heftig mit einer Hand vor seinem Gesicht, wahrscheinlich vergebens, das war ihm durchaus klar, aber zu wedeln erschien ihm besser als nichts zu tun. Er bemerkte, wie sich völlig unbeeindruckt eine Mücke auf seinen linken Arm setzte und beinahe im gleichen Moment ihren Stachel durch die Haut bohrte. Beherzt schlug er zu. Die Mücke blieb zerquetscht auf seiner Haut kleben, vielleicht im Schweiß, der mittlerweile aus jeder Pore seine Körpers drang, vielleicht auch in dem kleinen Blutfleck, der vom Stich in Tom Schroeders Arm zeugte.

    Noch vom Wagen aus war ihm eine weite Wasserfläche aufgefallen. Enten und Möwen schwammen darauf herum, gründelten oder putzten ihr Gefieder. Bestimmt Hochwasser, hatte er sich das zuerst erklärt, allerdings war ihm sogleich eingefallen, dass die Ostsee kaum Gezeiten hat. Außerdem ließen ihn auch einzelne Stümpfe abgestorbener Bäume an dieser Erklärung zweifeln. Er war dann dem einzigen befestigten Weg gefolgt, offensichtlich dem Hauptweg, der außerdem ein Naturerlebnispfad war, wie er auf einem Schild gelesen hatte. An einer Gabelung hatte er sich für den rechten Abzweig entschieden, obwohl der linke der besser befestigte war. Aber Tina hatte ganz sicher gesagt, er solle nach rechts gehen. Oder nicht?

    Mittlerweile war er sich nicht mehr so sicher. Denn der Weg hatte ihn zuerst zwischen Gräben und Dickungen hindurch geführt bis zu einem sumpfigen Wasserloch voller Schilf und Röhricht, war dann nach und nach zu einem Trampelpfad geschrumpft und schließlich in eine Art Brücke über einen trüben Graben gemündet. Oder vielmehr in das, was von dieser Brücke noch übrig war. Deren hölzerne Pfeiler waren stellenweise sichtbar abgesackt, verrottet und verfault, die alten Laufbohlen darüber waren raupenartig verformt. Schroeder hatte an eine gefährliche Echse denken müssen, die in den Wasserlinsen halb verborgen auf Beute lauerte. An den Streben, die einmal das Geländer gewesen sein mochten, war ein beeindruckender fächerförmiger Pilz gewachsen. Das ist ganz sicher nicht der richtige Weg, hatte Schroeder sich gesagt. Aber statt umzukehren und an der Gabelung noch einmal neu anzusetzen, war er mutig über die Brücke balanciert und unter den Zweigen einer Eberesche hindurch ins Halbdunkel des Waldsaumes eingetaucht. Man wird ja die Einsatzfahrzeuge sehen können, hatte er sich gesagt, oder die Kollegen von der Spurensicherung in ihren Schutzanzügen, die leuchten doch immer wie Glühwürmchen in der Nacht.

    Er hatte sich weiterhin rechts gehalten und war jetzt von hohen Adlerfarnen umfangen. Im Schatten der Bäume trieften sie noch von Nässe. Schroeder hatte beide Arme über den Kopf gehoben und war sich kurz vorgekommen wie einer der frühen Entdecker im Dschungel Borneos. Auf eine Art hatte ihm das sogar gefallen, schon als kleiner Junge war er gerne durch die Wälder gestromert. Er war über mehrere kleinere Wasserlöcher und Gräben gesprungen, hatte dicht bei den Wurzeln einiger Erlen Halt und festen Tritt gesucht und sich lange Zeit ganz darauf konzentriert, weiter voran zu kommen. Hinter ihm hatten sich die Farne wieder geschlossen.

    Schroeder wischte die tote Mücke vom Arm und schaute auf seine Armbanduhr. Sie zeigte kurz vor fünf. Wahrscheinlich sind die Kollegen längst wieder weg, dachte er, deswegen habe ich auch niemanden gesehen. So lange konnte das schließlich nicht dauern, eine Moorleiche zu sichern. Jedenfalls nicht, wenn es eine dieser prähistorischen Leichen war. Dann werden die Beamten das Feld schnell den Archäologen überlassen haben, denn für die war das eine Sensation, so hatte er herausgehört, eine Moorleiche war offensichtlich schon seit Jahrzehnten nicht mehr gefunden worden. Schon deswegen wäre er gerne dabei gewesen. Stattdessen stapfte er hier durch Sumpf und Wald und ärgerte sich. Aber er war einfach nicht früher weggekommen. Den ganzen Vormittag und bis kurz nach drei hatte er mit einem jungen Polizisten gesprochen, der nach der Trennung von seiner Freundin als psychisch labil galt. Kollegen hatten Schroeder darum gebeten. Er hatte nur mit einem Ohr zugehört, das andere war ganz auf die hektische Betriebsamkeit ausgerichtet, die der Leichenfund im ganzen Kommissariat ausgelöst hatte. Polizeiseelsorger hin oder her, hatte sich Schroeder eingestehen müssen, du würdest den Mann am liebsten hier sitzen lassen und einfach losfahren. Das fiel ihm jetzt wieder ein, und er war nicht stolz darauf.

    Im gleichen Moment spürte er etwas Nasskaltes am rechten Knöchel. Er hatte in Gedanken nicht auf seine Schritte geachtet und war ins Wasser getreten. Vor ihm lag eine brackige Wasserfläche, aus der die Reste toter Birken und Erlen in den Himmel ragten. Eine Art Waldsee, dachte er, irgendwie märchenhaft. Oder gespenstisch. Oder auch beängstigend, dachte er mit Blick auf seinen nassen Halbschuh aus Segeltuch. Er nahm seine vom Schweiß verschmierte Brille ab und rieb deren Gläser mit dem Hemdzipfel leidlich sauber. Dann suchte er einen toten Ast, fand einen passenden und versuchte, damit die Wassertiefe vor sich zu loten. Der Ast stieß nicht auf Grund, hier konnte er also auf keinen Fall weitergehen. War das am Ende gar kein Menschenweg, dem er bis hierher gefolgt war, sondern ein Wildwechsel? Er drehte sich auf der Stelle und schaute zurück. War er an diesem Baum vorbeigekommen? Oder doch von weiter links, dort drüben vielleicht? Er hatte sich das nicht richtig eingeprägt. Kein Problem, redete er sich gut zu, so groß kann diese Sumpflandschaft ja nicht sein, wenn du nur ein paar hundert Meter in die gleiche Richtung gehst, kommst du mit Sicherheit hier raus.

    Er erinnerte sich an ein Sommerlager der Thälmannpioniere, das musste Ende der Siebziger gewesen sein, da hatten sie eine Art Überlebenstraining gemacht. Brot backen aus Buchenrinde, Fährtenlesen, Orientieren nach Sonne, Mond und Sternen. Es ist fünf Uhr, sagte er sich, wo die Sonne steht ist also ungefähr Westen, ich muss einfach Richtung Süden gehen, dann komme ich wieder beim Wagen aus. Schroeder schaute nach oben durch den Wipfel einer halbtoten Esche in ein diffuses Licht. Eine hochnebelartige Schleierbewölkung hatte die Sonne umfangen. Sie schien warm genug, um bis hinunter auf den feuchten Waldboden eine drückende Schwüle zu erzeugen. Aber ihr Stand war nicht zu erkennen. Kein Lüftchen rührte sich. Jetzt fiel ihm auch die seltsame Stille auf. Kein Vogel zwitscherte, keine Blätter rauschten, kein Reh schreckte. Über allen Wipfeln ist Ruh, fiel ihm dazu ein, in allen Gipfeln spürest du ...

    Er hielt inne und horchte. Aber er hörte nichts. Nichts außer dem Sirren der Mücken. »Na sowas!«, sagte er halblaut vor sich hin, weniger verärgert als vielmehr überrascht von dieser eigenartigen Situation, in die er so unerwartet geraten war. Sie ließ ihn schmunzeln. Suchend schaute er sich um. Bäume, Baumstümpfe, Schilf, Wasser, Farn, Wasser, Wasser. Woher kommt eigentlich das viele Wasser, fragte er sich, weshalb steht hier alles unter Wasser? Vor allem aber fragte er sich, warum es keine Wege oder Schneisen gab, an denen er sich hätte orientieren können. Wo ist denn nur dieser Naturerlebnispfad? Rauchen, fiel ihm dann ein, rauchen hilft beim Nachdenken. Und gegen die Mücken.

    Schroeder nahm einen Tabaksbeutel aus der Brusttasche seines Leinenhemds, öffnete ihn und entnahm dem kleinen Pappstreifen ein Blättchen. Das vorletzte, wie er bemerkte. Die neue Packung lag offensichtlich noch im Auto. Er maß eine hohle Hand voll Tabak ab, klebte einen Filter ein und drehte die Zigarette. Wo ist eigentlich das Feuerzeug?, durchschoss ihn ein erschreckender Gedanke, aber er fand es nach tastendem Suchen in der rechten Hosentasche. Mit einem scheppernden Geräusch klappte er den Deckel des etwas altertümlichen Modells zurück und entzündete zugleich den benzingetränkten Docht. Davon aufgeschreckt stieß unmittelbar neben ihm ein Eichelhäher ab und flog laut rätschend davon. Schroeder erschrak und lies die Zigarette ins Wasser fallen. Mit halb geöffnetem Mund sah er zu, wie sie im Bruchteil einer Sekunde das Wasser aufnahm und ihre Farbe vom reinen Weiß in ein schmutziges Tabakbraun änderte. Er war zu verwundert um sich zu ärgern.

    Ein Blättchen hast du noch, sagte er sich und fasste erneut an die Brusttasche. Dabei spürte er sein Smartphone, und im ersten Moment spürte er so etwas wie Erleichterung. Aber sollte er wirklich die Kollegen anrufen und um Hilfe bitten? Was sollte er denen sagen? Hilfe, ich habe mich im Wald verlaufen, holt mich hier raus? Er machte sich ja für alle Zeiten zum Gespött des ganzen Kommissariats! Nein, undenkbar. Er könnte allenfalls Tina anrufen und sie um Verschwiegenheit bitten, die würde das nicht herumtratschen, dessen war er sich sicher. Aber wie sollte die allein ihn hier finden?

    Dann fiel ihm aber ein, dass dieses hypermoderne Telefon eine GPS-Funktion haben musste, vielleicht sogar mit Kompass. Daran hättest du auch früher denken können, sagte er sich, das hätte dir diesen ganzen Blindflug hier erspart! Und den nassen Fuß. Er nahm das Gerät aus der Tasche, klappte die Schutzhülle zur Seite und entsperrte den Bildschirm. So, sagte er nachdenklich vor sich hin, wie war das noch? Irgendwo gibt es eine Funktion Datentransfer zulassen. Die musst du aktivieren. Er wischte mit dem Zeigefinger über den Bildschirm, Schritt für Schritt, bis er das richtige Menü gefunden hatte. Er markierte das entsprechende Feld, ein wenig stolz, das Ding auf Anhieb richtig bedient zu haben. Aber zunächst einmal passierte gar nichts. Dann erschien im Display die Anzeige Software wird aktualisiert, gemeinsam mit einem Symbol, in dem sich mit viel gutem Willen eine Sanduhr erkennen ließ. Während er wartete, fiel sein Blick auf die Ladestandsanzeige des Akkus. 14%, las er da, und schlagartig wurde ihm klar, dass sich dieses Telefon in Kürze abschalten würde.

    Sofort wischte er über das Display, um die Datenaktualisierung abzubrechen. Aber das gelang nicht, alle Funktionen schienen durch das laufende Update blockiert zu sein. 12%, las er und wurde etwas nervös. Kurzerhand schaltete er das Gerät ganz aus. Eine Mücke stach ihm derweil in die kleine blanke Stelle am Hinterkopf, die er nicht geschützt hatte, weil er deren Existenz gemeinhin leugnete. Eine Mücke auf der Stirn konnte er durch hektisches Wedeln abwehren. Er schaltete das Telefon wieder ein, gab aber in der beginnenden Aufregung eine falsche PIN ein. Noch 8%. Als er endlich die richtige Nummer eingegeben hatte, suchte er Tina in seinen Kontakten und ließ das Gerät wählen. Er wartete auf das Signal, es tutete einmal, fünfmal, schier endlos, dann endlich hörte er ihre Stimme, sie meldete sich mit »Polizeikommissarin Effmert«. Bevor er irgendetwas sagen konnte, brach die Verbindung ab. Der Akku war leer.

    Schroeder stak ein paar Schritte am Rand des Wassers entlang und ließ sich auf einen umgestürzten Baumstamm sinken. Er wischte noch einmal seine Brillengläser. Die Situation machte ihm langsam Angst. Er saß mitten in einem sumpfigen Wald, ohne Orientierung und ohne irgendwem gesagt zu haben, was er vorhatte und wohin er wollte. Wenn er hier im Morast verschwinden und nicht wieder auftauchen würde, gäbe es keine große Suchaktion. Zumindest nicht hier. Erst einmal würde ihn niemand vermissen, er meldete sich schließlich nirgends an oder ab. Allenfalls seine Zimmerwirtin könnte sich wundern, allerdings erst Anfang nächsten Monats, wenn keine Überweisung auf ihrem Konto einginge. Er fragte sich, ob er mit den Überlebenskenntnissen eines Thälmannpioniers vierzehn Tage lang inmitten eines wenn nicht feindseligen, so doch mindestens gleichgültigen Sumpfgebietes überleben würde.

    Zeit für eine Bestandsaufnahme: Er war bekleidet mit einer Jeans, leichten Halbschuhen ohne Socken, rechts bereits durchnässt, und einem halbärmeligen Leinenhemd. Er hatte ein Smartphone mit leerem Akku, ein Päckchen Tabak, aber nur noch ein Blättchen, ein Feuerzeug und nichts zu essen. Da waren die Thälmannpioniere eindeutig besser ausgerüstet. Er hatte ja nicht einmal ein Messer. An seinen Fingern zählte er halblaut ab: »Bis sechs, bis sieben, bis acht, bis neun, bis – in fünf Stunden ist es hier stockdunkel.« Und er hatte nichts zu trinken. Doch, fiel ihm dann ein, du hast Wasser! Hier ist überall Wasser. Er bückte sich, um mit der hohlen Hand etwas Wasser zu schöpfen, zuckte aber sogleich zurück. Irgendetwas war da, er hatte es nicht erkennen können, vielleicht eine Schlange. Ringelnattern, erinnerte er sich, sind gute Schwimmer. Es könnte auch eine Kröte gewesen sein, oder ein Molch. Jetzt schien ihm sein Gedächtnis jedes einzelne glitschige Tier hervorzuholen, das sie als Pioniere gefangen und in ihrem Aquarium gehalten hatten, bis es mit dem Bauch nach oben trieb. Irgendwie kriegt man doch im Leben alles zurück, musste er unwillkürlich denken, all das Lachen und eben auch alles, was man sich hat zuschulden kommen lassen. Dabei fielen ihm Blutegel ein.

    Jetzt musste er doch über sich selbst den Kopf schütteln. Diese Situation war so unwirklich. Und so lächerlich. Aber sie war wie sie war. Er saß auf dem umgestürzten Baum, um ihn herum war Stille, eine geradezu schreiende Stille, es war feuchtwarm, drückend schwül, wie vor einem Gewitter, das nicht kommen will. Er war schweißnass. Die Abwehr der Mücken gab er auf, dieser Kampf war verloren. Schroeder drehte sich die letzte Zigarette, steckte sie an und nahm einen tiefen Zug. Wie ein neugieriger Naturforscher betrachtete er die stechenden Insekten auf seinen Armen. Das machte ihm nichts mehr aus, er hatte sich daran gewöhnt. Oder es spielte in seiner Situation einfach keine Rolle mehr. Vor seinem inneren Auge erschien eine schwarz umrahmte Anzeige: Worte wie tragisches Unglück oder viel zu früh las er darin, aber eigenartigerweise beunruhigte ihn das nicht. Er empfand eher so etwas wie eine Gleichgültigkeit, vielleicht sogar eine gelassene Vorfreude. Er lehnte sich zurück, schloss die Augen, döste vor sich hin und zog nur gelegentlich an seiner Zigarette.

    Irgendetwas ließ ihn nach kurzer Zeit aufhorchen. Neben ihm hatte sich eine große braungelbe Libelle niedergelassen und verschlang genüsslich eine Fliege. Sie schien keine Angst vor ihm zu haben, ganz so als wüsste sie, dass sie hier in diesem Lebensraum die Stärkere war. Survival of the fittest, musste er unwillkürlich denken. Das ging ihm dann aber doch zu weit, er rappelte sich auf und warf den Stummel der Zigarette ins Wasser. Du musst in Bewegung bleiben!, ermahnte er sich. Er prägte sich einen besonders skurrilen Baumstamm ein und suchte in der Richtung, die er intuitiv für Osten hielt, einen anderen markanten Baum. So wollte er sich von Punkt zu Punkt hangeln und machte sich mit neuem Elan auf. Allerdings musste er wiederholt ausweichen, mal versperrte ihm ein Graben den Weg, dann dichtes Buschwerk aus Sträuchern und wildem Hopfen. An einer Stelle trat er plötzlich auf einen weichen, schwankenden Boden, der zwar aussah wie eine grüne Wiese, sich aber anfühlte, als schwimme er auf dem Wasser. Eine Art Waldwasserbett, dachte er. Das war ihm nicht geheuer, er ging vorsichtshalber ein paar Schritte zurück und umschlug das Gebiet in weitem Bogen. Nach einiger Zeit kam er irgendwie an dem markanten Baum an, zumindest glaubte er, dass es dieser Baum war, sicher war er sich nicht. Er wollte sich gerade ein neues Ziel aussuchen und die nächste Etappe angehen, als er ein Geräusch zu hören glaubte, zwar nur ein leises Knacken, aber eines, dass in der Stille deutlich hervorstach. Schroeder blieb stehen und horchte. Die Mücken sirrten. Sein Herz schlug von der Anstrengung, aber sonst hörte er nichts. Konzentriert atmete er ein und aus, um seinen Puls zu beruhigen.

    Ein paar Sekunden lang blieb es still. Dann knackte es wieder. Schroeder bewegte sich lautlos in die Deckung eines mächtigen Baumes, wie ein Buschmann, der auf Wild pirscht, allerdings ein Buschmann ohne Speer oder Blasrohr. Es knackte. Er beugte sich langsam vor und blieb wie angewurzelt stehen. Direkt vor ihm stand ein grauweißes Tier mit bernsteinfarbenen Augen. Ein Wolf. Ganz ruhig, vielleicht überrascht, hier einen Menschen anzutreffen, aber ohne jede Scheu. Souverän, kam Schroeder in den Sinn. Keine Sekunde lang zweifelte er. Der muskulöse Körper, das Fell, die Augen – das war ein Wolf, und was auch immer neuerdings in den Zeitungen über die Rückkehr des Wolfes geschrieben wurde, ihm machte dieser Wolf Angst. Eine Scheißangst sogar. Von wegen Rotkäppchen lügt! Sie standen sich eine ganze Weile gegenüber. Der Wolf legte den Kopf leicht schräg und äugte ihn an. Was jetzt?, fragte sich Schroeder, aber dann erinnerte er sich, was er an Tipps und guten Ratschlägen für die Begegnung mit Wölfen gelesen hatte. Man solle ruhig bleiben und eventuell mit sonorer Stimme sanft auf das Tier einreden. Also los, sagte er sich, aber ihm fiel im Moment nichts Sanftes ein, was er einem Wolf hätte sagen wollen.

    »Ich bin viel zu alt«, sagte er schließlich und merkte dabei, wie seine Stimme zitterte, »weißt du? Ich gehe schon auf die fünfzig zu. Total zäh. Außerdem übersäuert, vom vielen Rotwein. Das hast du doch nicht nötig, so stark wie du bist. Also lauf, zisch ab, such dir irgendwo ein zartes kleines Mädchen!« Das war zwar seelsorgerisch sicher nicht ganz korrekt, schien aber zu funktionieren. Denn der Wolf machte nach einer langen Sekunde kehrt und verschwand genau so überraschend, wie er aufgetaucht war. Schroeder war perplex und schaute ihm geraume Zeit hinterher. Lieber Herr, gib mir einen fröhlichen Mut, Lust und Freude, fiel ihm ein, und er rezitierte das voller Erleichterung laut und vernehmlich. »Lieber Herr, gib mir einen fröhlichen Mut, Lust und Freude!«

    »Das mache ich doch gerne!«, hörte er eine kräftige Stimme.

    Schroeder erschrak und wäre beinahe gestürzt. Er blickte demütig nach oben. Aber da war nichts. Er schaute umher, sah nur Bäume und Sträucher. Und Wasser.

    »Wenn Sie schon mitten durch mein Revier latschen, sollen Sie wenigstens Lust und Freude haben!«, hörte er.

    Schroeder konnte immer noch nicht ausmachen, woher die Stimme kam. Aber es war eines Menschen Stimme, und bei aller Verunsicherung überwog die Erleichterung darüber, nicht mutterseelenallein in diesem Sumpf zu sein. Wie selbstverständlich und daher ohne weiter darüber nachzudenken ging er davon aus, dass hier kein zweiter Irrläufer unterwegs war, sondern jemand, der sich auskannte. Jemand, der ihm den Weg hinaus und zurück zu seinem Wagen weisen konnte. Plötzlich spürte er etwas in seinem Rücken und drehte sich vorsichtig um. Ein Mann hatte sich völlig lautlos genähert.

    »Können Sie mir mal erklären, was Sie hier zu suchen haben?«, fragte der bestimmt und hörbar verärgert. »Warum nehmen Sie nicht den ausgewiesenen Weg?«

    Schroeder sah in stahlgraue Augen, die nicht eben freundlich wirkten. Sondern eher stechend, wie Bajonette. Außerdem hielt der Mann ein Gewehr in den Händen. Dessen Lauf war zwar seitlich auf den Boden gerichtet, aber Gewehre flößten Schroeder immer Respekt ein. Er wich dem Blick aus und bemerkte dabei, was für eine seltsame Kluft der Mann trug. Geschnürte Leinengamaschen über einer uralten Lederhose, dazu eine veraltet wirkende Uniformjacke in zweierlei Grüntönen mit geflochtenen Epauletten. Schroeder fragte sich kurz, aus welchem Jahrhundert die stammte. Den verbeulten Hut, dessen eine Krempe streng nach oben geklappt war und an dem diverse Abzeichen staken, konnte er sich gut in einem Museum für Völkerkunde vorstellen. An den meisten anderen Männern hätte die ganze Kluft äußerst lächerlich gewirkt und ihnen jegliche Autorität genommen. Aber bei diesem Mann waren die Augen die Autorität, unterstützt von einem kräftigen roten Bart. Das Gewehr war da eigentlich nicht nötig. Außerdem musste Schroeder seinen Kopf deutlich heben, um ihm ins Gesicht zu sehen. Der Mann war mindestens einen Kopf größer. Er spürte den Stich einer Mücke in seine rechte Wange, wagte aber keine hektische Bewegung.

    »Sie glauben gar nicht, wie viel ich darum geben würde, endlich über ausgewiesene Wege zu gehen«, sagte er freundlich lächelnd und legte auch Erleichterung in seinen Tonfall, »ich hatte schon befürchtet, hier übernachten zu müssen.«

    Der Mann zeigte keine Regung, seine Augen blieben stechend auf ihn gerichtet. Schroeder fühlte sich regelrecht durchleuchtet. Oder vielmehr aufgespießt.

    »Tom Schroeder mein Name«, sagte er und streckte dem Mann die Hand entgegen.

    Der schlug nicht ein.

    »Es tut mir leid, wenn ich Ihnen hier irgendwie in die Quere gekommen bin«, versuchte es Schroeder erneut, »das war keine Absicht. Ich hatte wirklich nicht vor, mich hier im Wald zu verlaufen und von den Mücken aussaugen zu lassen. Das können Sie mir glauben!«

    Er wartete auf eine Reaktion.

    »Ich bin bei der Polizei«, erklärte er dann, »das heißt, eigentlich nicht direkt ... also ich bin ... Seelsorger.«

    Der Mann runzelte die Stirn und blickte zweifelnd, vielleicht auch ein wenig mitleidig, da war sich Schroeder nicht sicher. Jedenfalls war das eine erste Regung, und das hielt er für ein gutes Zeichen.

    »Genauer gesagt Polizeiseelsorger des Landes Mecklenburg-Vorpommern«, fuhr er fort, »und ich wollte eigentlich zum Fundort der Leiche.«

    »Was für eine Leiche?«, fragte der andere.

    »Eine Moorleiche«, antwortete Schroeder, »hier ist doch eine gefunden worden, ich wollte dahin und muss irgendwie falsch gegangen sein.«

    »Deswegen die vielen Autos«, sagte der Mann nachdenklich und wie zu sich selbst. Er schaute Schroeder noch einmal direkt an, seine Gesichtszüge hatten sich merklich entspannt. Dann griff er in seine Jackentasche, zog eine Flasche Ballistol hervor und reichte sie Schroeder. »Ich dachte schon, Sie sind so ein Geo-Cacher oder wie die sich nennen«, sagte er dabei.

    Schroeder nahm die Flasche dankbar an und begann sogleich, seine Unterarme einzureiben. Die kühle Flüssigkeit tat gut und linderte etwas das Jucken der längst unzählbaren Stiche.

    »Geo-Cacher?«, fragte er. »Sind das die, die im Wald Tupperdosen verstecken und deren Position dann ins Internet stellen?«

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