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Angst macht große Augen
Angst macht große Augen
Angst macht große Augen
eBook425 Seiten5 Stunden

Angst macht große Augen

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Über dieses E-Book

Durch den Auftrag einer schwangeren Frau, ihren verschwundenen Mann zu finden, gerät die Detektivin Valerie Leving unversehens in eine Abrechnung hochkarätiger Krimineller.

"Sie werden ihn schon erkennen, wenn es soweit ist. Ein altes russisches Sprichwort lautet: U strahá glazá velikí." ( Anm.: Angst hat große Augen. ) Valentin Klein ist sehr zuversichtlich, das Problem schnell lösen zu können.
Klein ist Boss einer Bande russischer Krimineller, spezialisiert auf die Sprengung von Geldautomaten, Blitzeinbrüchen in Juweliergeschäften und der Schleusung von Asylbewerbern, die zum Teil zur Mitarbeit gezwungen werden. Bei einer internen Bestrafungsaktion kann einer der Männer fliehen. Die Polizei ist hinter der Bande her, die über erstaunliche Insiderkenntnisse verfügt. Valerie gerät zwischen die Fronten und in tödliche Gefahr.

"Angst macht große Augen" ist der 3. Band der Leving&Holland Reihe um die Freundinnen Valerie Leving und Anna-Lena Holland. Erschienen sind in folgender Reihenfolge:
1. "Taubenzeit"- Independent-Veröffentlichung
2. "Tödliche Zeiten"- Knaur Ebook
3. "Angst macht große Augen"
4. "Jahr der Ratten" ( Wie alles begann ) - Independent-Veröffentlichung.


Der Autor ist Mitglied im Autorennetzwerk Qindie. Qindie steht für qualitativ hochwertige Indie-Publikationen. Achten Sie also künftig auf das Qindie-Siegel! Für weitere Informationen, News und Veranstaltungen besuchen Sie unsere Website: qindie.de/
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum22. Feb. 2015
ISBN9783738016017
Angst macht große Augen

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    Buchvorschau

    Angst macht große Augen - L.U. Ulder

    1.

    Hamburg, im Frühjahr 2013

    Gedankenverloren betrachtete er die Fotografie, drückte mit den Fingerspitzen die hochgebogenen Ecken in ihre Form zurück und tauchte ein in einen Film, der wie automatisch vor seinem inneren Auge zu laufen begann. Ihm war, als könne er den Geruch ihrer Haut wahrnehmen, ihr dezentes, leicht fruchtiges Parfüm, das bei jeder Bewegung ihrer langen Haare aufwallte und ihn wie ein luftiger Schleier umhüllte. Er spürte ihre weiche, warme Hand, wie sie zum Abschied zärtlich über seine Wange strich.

    Abschied.

    Die Dinge hatten sich nicht so entwickelt, wie sie beide es sich vor einiger Zeit so sehr gewünscht hatten. Er hielt sie in den regelmäßigen Telefonaten hin, so gut er konnte, hoffte, so etwas Zeit zu schinden, Zeit, die vielleicht doch noch alles zum Guten wenden würde. Aber sie hatte ein feines Gespür, an ihren Reaktionen merkte er ihre Verunsicherung. Zu viel Unausgesprochenes lag mittlerweile zwischen ihnen, zu viel Schuld war ihm aufgezwungen worden und es fiel ihm immer schwerer, Zuversicht auszustrahlen. Schon gar nicht nach den Ereignissen vor zwei Tagen. Nicht mehr lange und er würde ihr die Wahrheit sagen müssen.

    Ein laut ausgesprochener Name riss ihn heraus aus seinem Sekundentraum.

    Sein Name.

    „Azamat!"

    Er blickte auf und sah in das bartstoppelige Gesicht des Mannes rechts von ihm. Bulat schob ihm mit seinem typischen Grinsen, das die riesige Zahnlücke im Oberkiefer entblößte, ein bis zum Rand aufgefülltes Glas zu. Wodka schwappte über und hinterließ eine schimmernde Spur auf der Tischplatte. Seufzend legte er das an den Rändern wellige Bild wieder in einen Umschlag, den er sorgfältig in eine rote Plastikhülle steckte. Bevor er den Wodka zu sich heran zog, drehte er sich nach hinten und ließ die Hülle in einem alten Seesack verschwinden.

    Dimi, der jüngste von ihnen, den sie nur den Dicken nannten, begann wieder, Karten auszugeben. Jetzt drängelte er, dabei war er derjenige gewesen, der die wehmütige Stimmung in den Container holte, als er stolz die Bilder seiner jungen Frau und seines Babys herum zeigte. Bulat, wie Azamat Ende Zwanzig, hatte keine Frau, er kramte aus seinen Habseligkeiten die Bilder der Familie, Eltern, Großeltern, Geschwister, Geschwister und nochmal Geschwister.

    Die drei Männer am Tisch der schäbigen Behausung lachten und scherzten wieder, zunächst verhalten, dann immer unbeschwerter. Reichliche Mengen Alkohol spendeten Trost und halfen beim Verdrängen des alten Lebens und des missglückten Neuanfangs.

    Sie spielten Durak, jenes alte russische Kartenspiel, bei dem derjenige verlor, der als Letzter noch Karten in der Hand hatte und damit der Durak, der Dummkopf, war.

    Anfangs hatte sich Azamat noch geziert, ausgerechnet an einem russischen Spiel teilzunehmen. Als sich seine beiden Mitbewohner nicht beirren ließen und zu spielen begannen, fügte er sich in sein Schicksal und beteiligte sich. Ruhe würde er in dem winzigen Raum ohnehin nicht finden.

    Er knurrte leise die Worte „wir sind alle Duraky" und setzte sich mit an den Tisch.

    Jetzt standen Bierdosen und eine halbvolle Wodkaflasche auf dem Tisch. Eine weitere, leere Flasche auf dem Boden wurde gerade von einem unvorsichtig ausgestreckten Fuß umgestoßen. Scheppernd fiel sie auf den schmutzigen Boden und rollte auf eine der Schlafpritschen zu. Sie tranken, um sich zu betäuben, um den Schmerz der Trennung und die Angst vor der ungewissen Zukunft zu verdrängen. Je mehr sie tranken, umso besser gelang es ihnen. Heftig wurden die Karten auf die Tischplatte geknallt. Der Baucontainer, in dem sie saßen, bot lediglich Platz für den Tisch in der Mitte und für vier Pritschen, die längs an die Wände gestellt waren. Am Kopfende des kleinen Raums stand ein Elektroherd, auf dem noch die Reste der letzten Mahlzeit darauf warteten, entsorgt zu werden. Der primitive Raum wirkte ebenso verwahrlost, zahlreiche achtlos zerknüllte Bekleidungsstücke und Fastfoodverpackungen bildeten ein wüstes Durcheinander.

    Die Männer lebten seit mehreren Wochen in der Behausung am Rande des Containerdorfes. Von den Bewohnern der benachbarten Hütten, allesamt Beschäftigte unterschiedlicher Firmen auf der angrenzenden Großbaustelle, waren sie bislang unbehelligt geblieben. Bewegten sie sich zu Anfang mit einer gewissen Vorsicht und Unsicherheit auf dem Gelände, war ihr Aufenthalt mittlerweile längst zur Routine geworden. Niemand schien sich für sie zu interessieren, dafür war das provisorische aufgebaute Hüttendorf zu groß und zu unübersichtlich. Sie konnten kommen und gehen wie sie wollten.

    Azamat schnipste seine letzte Karte auf den Tisch und stand auf. Dimi sah ihn fragend an, nickte aber sofort verstehend, als er mit dem Daumen nach draußen deutete. Er ging durch die Tür, die den Raum mit einem winzigen Flur verband und von dort in die kaum größere Nasszelle. Mechanisch drückte er auf den Lichtschalter. Für einen Sekundenbruchteil flammte das Licht mit einem Zischen auf, danach war es dunkel. Nur noch schwacher Schein drang von draußen durch das Oberlicht und aus dem Flur durch die einen spaltbreit offenstehende Tür hinein.

    Seinen Fluch quittierten die beiden Mitbewohner mit schadenfrohem, kehligem Lachen, dann schloss sich die Tür zum Innenraum, die Toilette drückte er nicht ganz zu, um besser sehen zu können. Während er seine Hose hinab ließ, gewöhnten sich die Augen an das Zwielicht. Bereits sitzend nahm er verwundert ein leises, quietschendes Geräusch wahr. Er drehte den Kopf, um sein Ohr in Richtung der Eingangstür zu wenden. Dieses Geräusch kannte er nur zu genau. Hatte er es vor einigen Tagen noch selbst unnatürlich laut gehört, als er spät zurückkam und die drei schlafenden Mitbewohner nicht stören wollte. Je langsamer die Eingangstür geöffnet wurde, umso mehr quietschte sie. Im ersten Moment nahm er an, Andrej, der vierte Mann im Baucontainer, sei zurückgekehrt. Der war am Nachmittag plötzlich verschwunden, ohne den anderen etwas zu sagen. Aber dieses Schleichen passte nicht zu ihm. Andrej gebärdete sich wie ihr Anführer und in gewisser Weise war er das auch. Wenn er den Container betrat oder verließ, knallten die Türen ohne Rücksicht auf die Tageszeit.

    Sie bekamen ungebetenen Besuch, daran gab es keinen Zweifel und er begann auch zu ahnen, warum.

    Deutlich hörte Azamat, wie sich Schuhe auf dem Linoleum des schmalen Flures bewegten. Ihr Träger war darauf bedacht, so leise wie möglich zu sein, aber auf dem Boden lag viel zu viel Schmutz, um sich mit Straßenschuhen völlig geräuschlos vorwärts bewegen zu können. Langsam, wie in Zeitlupe arbeitete sich der unbekannte Eindringling über den nur wenige Schritte kurzen Flur vorwärts. Im Licht, das durch den Türspalt herein drang, tauchte ein Schatten auf. Azamat saß reglos auf der Toilette und hielt die Luft an. Mit rasendem Pulsschlag sah er die Tür geräuschlos auf sich zukommen und er zog den Kopf tief ein, um nicht im Spiegel der gegenüberliegenden Wand gesehen zu werden. Gleichzeitig ballte er die Fäuste, um seine Haut so teuer wie möglich zu verkaufen. Zu seiner Erleichterung wurde die Tür nicht ganz aufgeschoben, mitten in der Bewegung blieb sie stehen. Der Eindringling schlich zurück, weiter in den Container hinein. Azamat warf einen dankbaren Blick auf die durchgebrannte Lampe unter der Decke. Er atmete, so flach es ging und überlegte verzweifelt, ob er seine Zimmergenossen durch laute Rufe warnen und damit gleichzeitig seinen Standort preisgeben sollte.

                                                                            *****

    Dimi und Bulat hatten ihr Spiel beendet, sie unterhielten sich entspannt, während sie auf ihren Kumpel Azamat warteten, um eine neue Runde zu beginnen. Dass sie plötzlich ungebetenen Besuch bekamen, bemerkte Bulat erst, als der dunkel gekleidete Mann bereits im Raum stand. Er trug eine Schlägermütze und hatte sich ein Tuch bis über die Nase gezogen, mehr als die Augenpartie war vom Gesicht nicht zu erkennen.

    Dimi sah, wie sein Kumpan plötzlich in der Bewegung erstarrte. Er drehte sich um und wollte erschrocken aufspringen, aber der Lauf der auf ihn gerichteten Pistole verhinderte dies nachdrücklich.

    Der Eindringling legte seinen linken Zeigefinger über den Mund und bedeutete ihnen, sich still zu verhalten. Die mit einem Schalldämpfer versehene Waffe bewegte sich von einem zum anderen, während die freie Hand des Mannes drei Finger zeigte und energisch gestikulierte.

    Dimi schaute für einen winzigen Moment zur Wand, hinter der sich die Nasszelle befand, nur kurz, aber lange genug, um unbewusst den Aufenthalt des dritten Mannes zu verraten. Vorsichtig glitt seine rechte Hand vom Tisch herunter, um langsam in Richtung des Einhandmessers zu wandern, das er an seinem Gürtel trug.

                                                                             *****

    Azamat war wieder aufgestanden, kaum dass der Eindringling den Flur verlassen hatte. Hastig zog er sich die Hose nach oben. Dabei beugte er sich zur Toilettentür und lehnte sein Ohr auf die Kunststoffoberfläche, um hören zu können, ob noch jemand in den Container geschlichen war. Erleichtert stellte er fest, dass es völlig still im Flur blieb, es war offenbar nur eine einzelne Person hereingekommen, wenn noch jemand da war, musste er sich draußen befinden. Irritierend war für ihn, dass auch aus dem großen Raum kein einziger Laut an sein Ohr drang. Irgendetwas musste doch gesprochen werden, eine Reaktion seiner Mitbewohner zu dem spätabendlichen Besucher, aber nichts dergleichen passierte. Keine Begrüßung, kein Protest, nur völlige, beunruhigende Stille.

    Was er dann zu hören bekam, ließ ihn wie unter einem Peitschenhieb in Deckung tauchen. Ein Geräusch wie das Ploppen beim Öffnen einer Sektflasche, dezent und unaufdringlich. Ihm folgte ein dumpfes Geräusch, als ob etwas Schweres auf den Boden fiel.

    „Aza.....!"

    Bulats gellender Schrei riss mitten im Wort ab, wieder klatschte etwas Schweres zu Boden, ein Gewicht, das wie zuvor die Planken des Containers bis in die Nasszelle hinein erzittern ließ. Azamat hockte tief, fast auf dem Boden und überlegte fieberhaft, wie er reagieren sollte. Das Oberlichtfenster war viel zu klein und wirkte in seiner Position unerreichbar. Im gleichen Moment klackerte es mehrere Male hintereinander, etwas Hartes schlug gegen einen harten Widerstand. Panisch versuchte Azamat, den Sinn des Geräusches zu erfassen. Als er im fahlen Licht plötzlich Löcher in der Wand zum Aufenthaltsraum wahrnahm, stieß er einen erschreckten Laut aus und sprang er ohne darüber nachzudenken auf.

    Nur raus. RAUS!

    Er riss die angelehnte Tür auf und war bereits im kleinen Flur. Mit zwei, drei großen Schritten nach links war er am Ausgang des Baucontainers. Hinter sich konnte er hören, wie die fast lautlos abgefeuerten Projektile mit lautem Klacken einschlugen. Er schaffte es nach draußen, überrascht, keine weiteren Personen anzutreffen, die ihn an seiner Flucht hindern könnten und widerstand der Versuchung, über den angrenzenden freien Bereich in Richtung der Lichter der Großstadt zu rennen. Stattdessen wandte er sich nach rechts, zwischen den Behausungen der Bauarbeiter hindurch mitten hinein ins Containerdorf. Mehrmals wechselte er die Richtung. Als er das Gefühl hatte, der herausgelaufene Vorsprung sei groß genug, schaute er sich nach allen Seiten um, glitt nach unten auf den Boden und kroch unter einen der Wohnbehälter. Azamat suchte sich Deckung hinter verkeilten Kanthölzern, die das Gebäude über ihm trugen und machte sich so klein wie möglich. Ein faustgroßes Tier wurde durch seine Anwesenheit aufgeschreckt und verschwand fast lautlos in der Nacht.

    Wieder versuchte Azamat, so flach wie möglich zu atmen. Zeitweise hielt er den Atem an, um besser lauschen zu können.

    Niemand schien ihm zu folgen. Hatten sie es aufgegeben oder waren sie in eine andere Richtung gelaufen? Es blieb gespenstisch still, keine hektischen Rufe, keine schleichenden Schritte, die sich vorbei drückten. Aber sie waren dort draußen irgendwo, lauerten auf ihn, daran zweifelte er nicht einen Moment lang. Aus den anderen Behausungen drangen keine Geräusche. Niemand schien das Drama, das sich eben abgespielt hatte, wahrgenommen zu haben.

    Nach Minuten, die ihm endlos vorgekommen waren, hörte er weit entfernt den Motor eines schweren Fahrzeuges. Das Geräusch kam langsam näher, bis es sich seinem Gefühl nach in der Nähe des Containers befand, seines Containers und dem seiner Kameraden. Der Wagen stand, dann erstarb auch das Motorengeräusch. Mehrere Türen klappten, zu schnell hintereinander für eine einzelne Person. Stimmen drangen nicht an sein Ohr, so sehr er sich auch bemühte, er konnte keine Unterhaltung hören. Es dauerte nicht lange, nur wenige Minuten, gefühlt deutlich weniger als die Wartezeit zuvor, dann klappten erneut Türen, der Wagen wurde gestartet und entfernte sich zügig. In der Richtung, in der er wegfuhr, gab es keine Straße, nur eine Brachfläche. Sand und Kies, unebener Boden, nicht befestigt genug für einen Pkw. Nur ein Geländewagen war in der Lage, es hier entlang zu schaffen.

    Während draußen die Stille zurückkehrte, schaffte er es, seine Nerven zu beruhigen, die Atmung normalisierte sich. Nur kühl kalkulierend würde es ihm gelingen, diese Situation zu bestehen. Auch seine andere Sinne meldeten sich zurück und er nahm den Verwesungsgeruch wahr, der in seinem Versteck herrschte. Je länger er ihn roch, umso penetranter wurde er. Deshalb also war die Ratte unter die Behausung gekrabbelt, irgendwo hier unten verrottete ein totes Tier, er hatte sie um ihre Mahlzeit gebracht. Weil er nichts sehen konnte, bemühte er sich, so bewegungslos wie möglich zu bleiben und nicht mit dem Kopf an den Untergrund zu stoßen. Während er nach einiger Zeit überlegte, ob er es wagen könnte, bereits das Versteck zu verlassen, drangen wie aus dem Nichts aufgeregte Schreie an seine Ohren. Jemand brüllte aus Leibeskräften und schlug dabei mit einem harten Gegenstand wieder und wieder gegen Containerwände. Laut hallten die metallischen Geräusche durch die schlafende Behelfssiedlung. Die Schreie weiterer Personen kamen schnell hinzu. Eine Sirene ertönte. Wie bei einem Weckruf schienen die Bewohner in den Hütten ringsherum aus dem Schlaf gerissen zu werden. Türen klappten, es wurde lauter, irgendetwas schien die Männer in Hektik zu versetzen. Auch über sich hörte er Schritte, die Bewohner über seinem Versteck kamen herausgerannt. Er sah schwere Stiefel die Treppenstufen herunterkommen und in die Richtung seines Containers laufen. Dem ersten Impuls, sich unter die herumlaufenden Männer zu mischen, widerstand er noch. Als sich Sirenengeheul näherte und Blaulicht zu sehen war, hielt er es nicht mehr aus. Vorsichtig, um nicht mit dem verwesenden Tier in Berührung zu kommen, schob sich Azamat bis an den Rand seines Verstecks. Als er sicher war, dass niemand in direkter Nähe war, der ihn sehen konnte, wand er sich schnell heraus und war auf den Beinen. Unsicher ging er zwischen den Hütten hindurch. An der nach außen offen stehenden Tür einer der Baubuden hing eine gelbe Regenjacke. Sich nach allen Seiten umschauend griff er sie sich im Vorbeigehen und zog sie über sein Shirt. Den Kragen hochgestellt, mit eingezogenem Kopf, mischte er sich unter eine größere Gruppe von Arbeitern, die in sicherer Entfernung zusahen, wie der Container, in dem er mehrere Wochen lang gelebt hatte, abbrannte. Mit ihm verbrannten seine wenigen Habseligkeiten und die Erinnerungen an sein bisheriges Leben. Und nach allem, was er unmittelbar vor seiner hektischen Flucht aus der Hütte gehört hatte, auch seine beiden Mitbewohner.

    Die Feuerwehrleute trafen fast gleichzeitig mit ihm ein. Sie drängten die Schaulustigen zurück. Obwohl sie massiv gegen das Feuer vorgingen, konnten sie nur noch verhindern, dass der Brand nicht auf die benachbarten Behausungen übergriff.

    Azamat beherrschte die deutsche Sprache mittlerweile ausreichend, um sich zu verständigen zu können. Während er ungläubig und mit weit aufgerissenen Augen auf die Flammen starrte, schnappte er Wortfetzen der umstehenden Männer auf. Die waren sich einig, je länger sie in dieser großen Runde darüber austauschten, dass man wohl ab und an jemanden hineingehen oder herauskommen sehen hatte, aber niemand die Bewohner gekannt hatte, geschweige denn die Firma, für die sie tätig gewesen waren.

    Azamat zog den Kopf noch weiter ein, vermied jeden Blickkontakt und drückte sich in den Schatten. Geduldig wartete er ab, bis der Brand endlich gelöscht war. Von den Wänden waren nur noch Gerippe übrig geblieben, das Dach fehlte komplett. Einer der Feuerwehrmänner betrat schließlich, mit einer langstieligen Harke bewaffnet, die Ruine. In seinen schweren Stiefeln watete er durch das knöcheltiefe Löschwasser, während ihm ein Kamerad mit einem starken Scheinwerfer von draußen Licht spendete. Bedächtig zog er mit den Spitzen seines Werkzeugs undefinierbare Klumpen auseinander. Als Azamat ihn rufen hörte, dass nur verbrannter Müll herumlag und keine Menschen zu Schaden gekommen seien, wandte er sich ab und verschwand in der Nacht.

    2.

    Zwei Tage zuvor.

    „Was denn nicht noch alles? Nimm doch gleich den ganzen Hausstand mit. Oder ist das etwa schon der Umzug?"

    Valerie war lautlos und unbemerkt durch den Flur gekommen. Jetzt lehnte sie mit vor der Brust verschränkten Armen in der Tür zu Anna-Lenas Zimmer und sah der Freundin beim Packen zu. Die saß in ihrem Rollstuhl neben dem Bett, auf dem ein aufgeklappter Koffer lag, der locker für zwei Personen gereicht hätte und packte ein Kleidungsstück nach dem anderen hinein.

    Als die Freundin sich umdrehte, lag in ihren Augen ein Hauch von Traurigkeit. Der gleiche wehmütige Blick, mit dem sie die Segler auf der Alster immer beobachtete.

    „Also doch. Du willst gar nicht, dass wir fahren. Ich habe mir schon die ganze Zeit gedacht, dass dir hier allein alles zu viel wird."

    Valerie biss sich auf die Lippe, sie merkte sofort, wenn sie es übertrieben hatte. Eigentlich wollte sie die Freundin nur ein wenig aufziehen, aber die hatte heute anscheinend beschlossen, ihren empfindlichen Tag zu haben.

    „Quatsch, ich wollte dich nur ein bisschen ärgern."

    Sie trat an Anna-Lena heran und legte ihr die Hand auf die Schulter.

    „Ich weiß doch, wie schräg du drauf bist und wie du reagierst. Aber mal im Ernst, früher haben uns für eine Woche Dänemark ein paar T-Shirts und eine Regenjacke gereicht. Mit chic Ausgehen ist da nichts."

    „Sei mal ganz ehrlich. Du würdest doch am liebsten mit uns mitkommen, mitsamt der Kleinen."

    „Das ist Blödsinn. Erstens muss Zoé zur Schule und zweitens tut uns eine kurze Trennung mal ganz gut. Wir leben ja schon wie ein altes Ehepaar zusammen, auch wenn du deinen Stefan hast."

    „Na und? Nimm die Kleine für eine Woche aus der Schule raus. Masern, Röteln, was weiß ich. Die eine Woche wird ihr nicht wehtun und im neuen Haus ist bis dahin auch noch nichts zu tun. Und regnen soll es hier auch noch für die nächsten Tage, fängt heute Abend an."

    Das neue Haus.

    Die Detektivin überschlug, wie lange Anna-Lena und sie bereits gemeinsam in der komfortablen Wohnung lebten. Waren es vier oder bereits fünf Jahre? Die Zeit jedenfalls schien wie im Zeitraffer vergangen zu sein, seit sie mit Zoé im Anschluss an die schrecklichen Ereignisse in Italien in die Hansestadt zurückgekehrt war und sie Anna-Lena nach deren Entlassung aus der Rehaklinik zu sich holte. Für die Adoption der Kleinen hatten die Freundinnen, anwaltlich unglücklich beraten, dem Jugendamt eine lesbische Lebensgemeinschaft vorgespielt. Und ausgerechnet in dieser Zeit verliebte sich Anna-Lena in Stefan, dem Streifenpolizisten aus Niedersachsen. Als wären die damaligen Lebensumstände nicht turbulent genug, schleppte der seinen Kumpel Net mit an, mit dem er zusammen Pädophile im Internet aufspürte. Net, der Computer- und Technikfreak war, vorsichtig ausgedrückt, ziemlich schräg.

    Mit einer Gesichtsblindheit geschlagen, die ihn an seiner eigenen Mutter vorbeilaufen lassen würde, verabscheute er jegliche Nähe von anderen Menschen. Dafür war er in technischen Dingen höchst versiert und seine Arbeit bei einem Provider machte ihn unersetzlich, was das Beschaffen von Daten und das Aufspüren von Handys und deren Besitzer anging. Das hatte er in der Vergangenheit mehrfach unter Beweis stellen können.

    Und jetzt bahnte sich ein Einschnitt an.

    Für Zoé waren Valerie und Anna-Lena gleichwertige Angehörige, wie große Schwestern, eine Trennung dieses Dreiergespanns völlig undenkbar. Deshalb zerbrach sie sich schon, kurz nachdem Anna-Lena und Stefan zusammengekommen waren, den Kopf, wie es weitergehen würde. Und nun war es fast soweit, es sollte ein neuer Lebensabschnitt beginnen.

    Vor gut einem Jahr von Stefan als Gedankenspiel in den Raum geworfen, standen sie jetzt kurz davor, von Rotherbaum nach Othmarschen umzuziehen. Jede der Freundinnen bekam seine eigene Haushälfte. Stefan konnte endlich mit Anna-Lena zusammenziehen und Zoé würde die Trennung überhaupt nicht als solche wahrnehmen.

    „Nein. Auf keinen Fall nehme ich sie aus der Schule raus, um dann mit ihr Urlaub zu machen. Was für ein Zeichen würde ich da für ihre Erziehung setzen."

    „Puuuh, preußisch, praktisch, gut. Du wirst wohl nie über deinen Schatten springen. Mit der Einstellung konntest du auch nur Beamtin werden."

    „Das bin ich nicht mehr. Aber was Zoés Erziehung angeht, verstehe ich keinen Spaß."

    „Ach, denk lieber daran, was du versprochen hast?"

    „Was habe ich denn versprochen?"

    „Keine schwammigen Aufträge anzunehmen und keine Alleingänge, solange ich nicht da bin."

    „So, hab ich das?"

    „Ja, auf die letzte Flasche Sangiovese, die wir geleert haben. Macht euch eine schöne Zeit. Lade doch mal Net zum Essen ein."

    Valerie lachte.

    „Was soll ich denn mit dem schrägen Vogel?"

    „Er ist immerhin dein freier Mitarbeiter."

    „Täusche ich mich oder geht da schon wieder irgendetwas quer in deinem Kopf? Du hast das 'freie' so betont."

    Anna-Lena winkte Valerie dichter zu sich heran und sprach leiser als zuvor weiter, obwohl sich sonst niemand in der Wohnung befand.

    „Ich merke doch, dass er auf dich steht. Und außerdem, er ist doch mit seiner Gesichtsblindheit der ideale Lover-to-go. Er erkennt dich hinterher nicht mehr. Wenn du mal keinen Bock mehr auf ihn hast, tust du einfach so, als wärst du jemand Fremdes."

    „Geht es dir nicht gut? Mir fehlen jetzt wirklich die Worte. Ich glaube, wenn dein Stefan wüsste, was hier drin vor sich geht, sie tippte der Freundin auf die Stirn, „der würde schreiend weglaufen.

    „Bei mir geht wenigstens überhaupt noch etwas vor", winkte Anna-Lena ungerührt ab und wandte sich wieder ihrem Koffer zu, als hätte es die Unterhaltung nie gegeben.

    „Was meinst du, soll ich diese Jacke mitnehmen?"

    Sie hielt ein Kostümjäckchen in die Luft, das zu jeder Premierenveranstaltung gepasst hätte.

    „So ein Quatsch. Wo willst du denn das anziehen? Nimm eine dünne Jacke, falls es warm wird und eine Regenjacke mit. Und tue mir bitte einen Gefallen."

    Valerie stand genau vor der Freundin. Sie beugte sich vor und fasste auf beide Schultern.

    „Mach dir nicht unnötig das Herz schwer. Fahr nicht nach Klitmöller oder zu irgendeinem anderen Surfspot."

    „Ach was."

    Anna-Lena drehte sich zur Seite.

    Wie oft waren die Freundinnen gemeinsam zum Surfen in Dänemark gewesen. Nicht unter Extrembedingungen, dazu fehlte ihnen die Erfahrung. Sie waren Soulsurferinnen, den Begriff hatte die Freundin irgendwo aufgeschnappt. Aber wann immer sich die Gelegenheit bot, waren sie zu den Hardcorespots wie Klitmöller gefahren und hatten den richtigen Surfcracks in den Wellen zugesehen. Wenn Anna-Lena schon den Seglern in ihren Nussschalen auf der Alster sehnsüchtig hinterher starrte, wie sehr würde ihr der Anblick der Surfer wehtun.

    An der Eingangstür klapperte es, Zoé kam von der Schule zurück. Gerade rechtzeitig, um die trübe Stimmung zu vertreiben. Mit weit ausgebreiteten Armen kam sie in Anna-Lenas Zimmer gelaufen und stutzte, als sie den Koffer auf dem Bett liegen sah.

    „Fährst du weg?"

    „Na klar. Darüber haben wir doch gesprochen, dass Stefan und ich eine Woche Urlaub machen. Hast du gedacht, wir machen nur Spaß?"

    Dem enttäuschten Gesicht war anzusehen, dass sie genau das gedacht haben musste.

    „Au Mann, ihr macht es mir wirklich nicht leicht. Mit zwei Spaßbremsen in einer Wohnung, es wird Zeit, dass wir umziehen. Hör mal, Zoé."

    Verschwörerisch zog sie das achtjährige Mädchen ganz dicht zu sich heran und senkte den Ton.

    „Du bist jetzt die Chefin hier, wenn ich nicht da bin. Du musst mir versprechen, auf Valerie aufzupassen, solange ich weg bin. Keine Aufträge, während ihr allein seid, ist das klar? Ruf mich sofort an, wenn Valerie etwas Schwammiges macht."

    Die Kleine nickte so energisch, dass ihre blonden Zöpfe hin und her sprangen.

    3.

    Der Mann kam gebückt von der kleinen Kreuzung her angelaufen. Weiche Sportschuhsohlen verursachten bei jedem Auftreten auf der nassen Fahrbahn ein schmatzendes Geräusch. Er drückte sich an der Hauswand entlang, bis er im Schatten des etwa zwei Meter aus dem Gebäude hervortretenden Eingangs stand. Für jemanden, der zufällig vorbei fuhr und nur flüchtig herüber schaute, war er nicht mehr zu sehen. Der Mann trug eine schwarze Regenjacke. Die Kapuze war tief in das Gesicht gezogen, obwohl der Regen endlich aufgehört hatte.

    Der Kapuzenkopf wanderte bedächtig von links nach rechts. In dem einzigen bewohnten Haus, das direkt gegenüberstand, brannte kein Licht mehr, die Bewohner waren schon vor Stunden schlafen gegangen. Die Häuser rechts und links davon waren in den oberen Stockwerken mit Büros belegt, deren gardinenlose Fenster wie dunkle Höhlen wirkten. Die Schaufenster der ebenerdigen Geschäfte leuchteten nur schwach. Die Straße wirkte wie ausgestorben.

    Auf dem Parkplatz schräg gegenüber des Eingangs stand seit einigen Minuten ein schwarzer BMW Kombi. Im Inneren flammte dreimal ein Feuerzeug auf, durch die Regentropfen auf den Scheiben bizarr verzerrt.

    Der Mann am Eingang nickte, obwohl das niemand sehen konnte. Er trat einen Schritt vor, kam aus dem Dunkel heraus und schob mit der linken Hand eine EC-Karte in den elektronischen Türöffner. Mit leisem Surren glitten die beiden Glasflügel auseinander. Während er in den SB-Bereich der Bank hinein ging, schüttelte seine rechte Hand eine Farbspraydose.

    Keine dreißig Sekunden später tauchte er wieder bei den Glastüren auf. Diesmal blieb er stehen und verhinderte so, dass sie sich wieder schließen konnten. Am BMW öffneten sich die Türen.

    In diesem Moment bog ein Kleinwagen in die Straße ein, wurde langsamer und fuhr auf den Parkplatz der Bank. Seine Scheinwerfer tasteten beim Einfahren in eine der Parkboxen den weiter links stehenden BMW ab. Als er stand, leuchteten sie genau in die Ecke, in die sich der Kapuzenmann geflüchtet hatte. So flach es ging, drückte der sich an die Wand. Mit lautem Scheppern rutschte ihm dabei die Farbspraydose aus der Tasche. Sie rollte quer über die Pflasterung des Gehweges und blieb erst an einem Fahrradständer hängen. Gleichzeitig flog die Fahrertür des kleinen Autos schwungvoll auf. Ein junger Mann in Jeans und weißen Sportschuhen stieg aus. Er trug eine Baseballkappe und strebte mit tänzerischen Bewegungen auf den Eingang zu. Er schaute nicht nach links und nicht nach rechts und schien seine Umgebung nicht wahrzunehmen. Nur bei genauerem Hinsehen ließen sich die weißen Minikopfhörer in seinen Ohren entdecken.

                                                                           *****

    Hermann Radtke, seit mehr als zehn Jahren im Ruhestand, schlief schon seit einigen Tagen unruhig, weil ihm das Kniegelenk Probleme bereitete. Ein tauber, undefinierbarer Schmerz trieb ihn immer wieder in der Nacht aus dem Bett. Er hatte das Gefühl, dass es ihm Linderung brachte, wenn er sich bewegte und einige Runden in seiner Wohnung drehte. Seine Ehefrau, die von diesen Touren regelmäßig geweckt wurde, zog dann genervt die Bettdecke bis über die Ohren.

    Während Hermann in seiner gestreiften Schlafanzughose und dem Baumwollunterhemd vom Wohnzimmer durch den Flur bis in die Küche ging, blieb er immer wieder stehen, hob den Fuß und vollführte die Bewegungen, die ihm der Therapeut gezeigt hatte. Beleuchtung benötigte er dabei nicht. Von den Straßenlaternen drang genügend Licht durch die Gardinen der vorhanglosen Fenster.

    Wenn er bei seinen Runden in der Küche ankam, schaute er jedes Mal hinter der feinen Gardine aus dem Fenster. Der dunkle BMW, der vor der Bank auf der anderen Straßenseite parkte, war ihm sofort aufgefallen.

    Bei seiner zweiten Runde stand auf einmal ein weiteres Auto, ein silberner Kleinwagen auf dem Parkplatz.

    Die Aktivitäten dort unten nahm er jedoch zunächst nicht wahr. Immer, wenn er hinunterschaute, herrschte gerade Ruhe.

    Als nach seiner nächsten Runde beide Pkw immer noch dort standen, ging er beunruhigt ins Schlafzimmer.

    „Dort unten parken schon wieder Autos, zwei Stück, schon ganz schön lange. Ich glaube, ich sollte die Polizei anrufen."

    Wie selbstverständlich ging er davon aus, dass seine Frau von seinen nächtlichen Aktivitäten wach geworden war.

    „Das lässt du schön bleiben, knurrte sie folgerichtig unter der Bettdecke hervor. „Du weißt doch noch, was dir der Beamte beim letzten Mal gesagt hat.

                                                                            *****

    Der musikhörende junge Mann kehrte zurück. Ohne ein Anzeichen, dass ihm etwas aufgefallen war, ging er wippend auf sein Auto zu und stopfte dabei Geldscheine in ein Portemonnaie. An seinem Wagen blieb er stehen und fummelte, ohne seine Tanzbewegungen zu unterbrechen, das Portemonnaie in die rechte Gesäßtasche. Er stieg in sein Gefährt ein und wippte weiter mit dem Kopf. Schließlich fuhr er davon, innerhalb von

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