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Taubenzeit: Kriminalroman
Taubenzeit: Kriminalroman
Taubenzeit: Kriminalroman
eBook369 Seiten4 Stunden

Taubenzeit: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Zwei pädophile Verbrecher fahren regelmäßig als Sextouristen nach Tschechien, um sich an minderjährigen Mädchen zu vergehen. Ihre jeweilige Fahrt nennen sie zynisch die 'Taubenzeit'.

Die Privatdetektivin Valerie Leving und ihre an den Rollstuhl gefesselte Freundin Anna-Lena Holland stoßen nur zufällig auf diese Täter, als Anna-Lena im Internet-Chat Stefan kennenlernt. Der macht gemeinsam mit einem Freund Jagd auf Pädophile im Netz. Die Männer schrecken dabei auch vor Selbstjustiz nicht zurück.

Anna-Lena ist sofort Feuer und Flamme, den Tätern das Handwerk zu legen. Valerie jedoch hat zunächst Bedenken, die ehemalige Kripobeamtin ist zu sehr mit dem Adoptionsverfahren für die kleine Zoé beschäftigt.

Erst als die Hamburger Kripo Ermittlungen wegen Selbstjustiz anstellt, lässt sich Valerie von Anna-Lena überzeugen.

Die Zeit drängt, einer der beiden Täter ist ein Sadist und will sich auf der kommenden Fahrt nicht mehr mit Missbrauch und Misshandlungen zufriedengeben.

"Taubenzeit" ist der 1. Band der Leving&Holland Reihe um die Freundinnen Valerie Leving und Anna-Lena Holland. Erschienen sind in folgender Reihenfolge:
1. "Taubenzeit"-Independent-Veröffentlichung,
2. "Tödliche Zeiten"- Knaur Ebook,
3. "Angst macht große Augen"-Independent-Veröffentlichung,
4. "Jahr der Ratten" ( Wie alles begann ) - Independent-Veröffentlichung.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum21. Apr. 2014
ISBN9783847629160
Taubenzeit: Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Taubenzeit - L.U. Ulder

    Hinweis

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    Der Autor ist Mitglied im Autorennetzwerk Qindie. Qindie steht für qualitativ hochwertige Indie-Publikationen. Achten Sie also künftig auf das Qindie-Siegel! Für weitere Informationen, News und Veranstaltungen besuchen Sie unsere Website: http://www.qindie.de/

    Die Figuren und Ereignisse dieser Geschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

    Kapitel 1

    Hamburg, im Mai 2010.

    Die beiden schwarz gekleideten Gestalten drückten sich in den Schutz eines Wohnhauses und warteten geduldig. Die gesamte Umgebung blieb ruhig, nirgends ein Hinweis, dass sie entdeckt worden waren. Geräuschlos setzten sie sich in Bewegung und folgten dem Weg. Sie passierten zwei Torbögen, die lange Häuserzeilen durchschnitten und standen schnell in einer kleinen Straße vor einem schier endlosen, dreigeschossigen Wohngebäude. Die Autos der Bewohner parkten beidseitig halb auf dem Gehweg, längs zur Fahrtrichtung. Die Siedlung war längst schlafen gegangen. Die letzten Nachtschwärmer dürften bereits zuhause eingetroffen sein und bis sich die ersten zur Frühschicht aufmachen mussten, würde es noch eine Weile dauern.

    „Da vorne steht seine Karre."

    „Bist du sicher, dass es die von dem Schwein ist?"

    „Klar, wenn deine Daten richtig waren."

    „Hundertpro. Er hat wieder Schweinereien auf dem Rechner. Hab sogar noch unsere kleine Datei mit der Warnung bei ihm gefunden."

    Der zweite Mann setzte sich in Bewegung, wurde aber von seinem Begleiter zurückgehalten. Er drehte den Kopf und sah, dass der andere systematisch die Umgebung mit seinen Augen abcheckte. Die Straße lag völlig ruhig, weder Gesprächsfetzen noch Musik, noch nicht einmal in der Ferne war ein Auto zu hören. Auch auf den Balkonen der gegenüberliegenden Häuser war kein ruheloser, nächtlicher Raucher zu entdecken.

    Der Mann schaute skeptisch, der Wagen stand ausgerechnet in der Nähe einer der wenigen brennenden Laternen. Andere Pkw waren wesentlich günstiger geparkt. Er zuckte mit den Schultern und nickte seinem Begleiter zu. Beide näherten sie sich dem dunkelblauen Kombi.

    „Ne Familienkutsche", meinte der Zweite verächtlich.

    „Er hat selber drei Kinder, eins ist noch ganz klein. Okay fangen wir an."

    Er ging am Heck des Pkw in die Hocke. Ohne die Handschuhe auszuziehen, ließ er seinen Rucksack auf den Boden gleiten und öffnete ihn. Er holte eine große, längliche Dose aus einer Einkaufstüte hervor, schüttelte sie einmal kräftig und schrak sofort zusammen. Das klackernde Geräusch, verursacht von den Metallkugeln im Innern der Dose, schien die Stille regelrecht zu zerfetzen. Er streckte sich vor und spähte am Auto vorbei, aber sein Kumpan, der auf dem Gehweg neben dem vorderen Kotflügel stand, schien das Geräusch nicht wahrgenommen zu haben. Tief über die Motorhaube gebeugt kratzte er mit einem breiten Stecheisen Buchstaben in den Lack hinein. Weil er dabei sehr langsam vorging und viel Druck ausübte, war das Geräusch, das er verursachte, als leises Schaben nur wenige Schritt weit zu hören. Vorsichtig schob der Mann am Heck die Dose in die Tüte zurück und umwickelte sie mit dem überschüssigen Plastik. Das Klackern war noch genauso laut wie zuvor und könnte sie verraten. Er überlegte kurz und zog seine Jacke aus. Nachdem er Tüte und Dose umhüllt hatte, war das Geräusch der Kugeln endlich gedämpft. Mit kräftigen Bewegungen schüttelte er das gesamte Paket etwa zwei Minuten lang, wobei er sich ständig umdrehte. Als er meinte, dass der Inhalt genügend durchgemischt war, wickelte er den Inhalt aus der Jacke und zog sich wieder an. Er nahm die Schutzkappe der Dose ab und steckte einen durchsichtigen, gut unterarmlangen Plastikschlauch auf die Düse. Tief nach unten gebeugt fädelte er den Schlauch bis zum Anschlag in den Auspuff hinein und drückte das Ventil der Dose nach unten. Sofort ertönte ein leises Rauschen, begleitet von unregelmäßigen schlürfenden Geräuschen, während von vorn, aus Richtung der Motorhaube, weiter das gleichmäßige, unterdrückte Schaben drang. Plötzlich ertönte ein leiser Pfiff. Der Mann blickte vom Auspuff hoch, sein Komplize deutete mit dem Kopf zur Straße vor ihnen. Ein Pkw kam in ihre Richtung gefahren. Als er näher kam, konnten sie im Licht der wenigen Straßenlaternen erkennen, dass es ein Taxi war. Das Schild auf dem Dach war abgeschaltet, es musste sich also ein Fahrgast darin befinden. Hastig zogen sich beide vom Auto zurück und drückten sich in den Schatten einiger Büsche, die vor dem Wohnblock gepflanzt waren.

    Während das Motorengeräusch des Taxis verhaltener wurde und es auf ihrer Höhe ausrollte, starrte er gebannt auf die Dose.

    Sie hing mit dem Schlauch im Auspuffende und baumelte frei schwebend über dem Pflaster, gehalten nur durch den Umstand, dass die durchsichtige Plastikröhre sich durch ihre Länge im Metall verkeilte. Der ausgeströmte Montageschaum vergrößerte im Auspuff sein Volumen stetig weiter. Dabei drückte er langsam, aber stetig den Schlauch aus dem Rohr hinaus. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis das Gewicht der Dose den Reibungswiderstand überwand und sie ganz herausrutschen würde. Mit einem für diese späte Zeit viel zu lauten Scheppern würde sie auf die Straße klatschen.

    Bitte nicht, dachte er, nicht jetzt. Warte noch, nur noch ein bisschen. Hin und her gerissen, ob er es riskieren und zum Auto vorspringen sollte.

    Das Taxi stand.

    Er wechselte einen schnellen Blick mit seinem schmächtigen Begleiter, der das Dilemma mit der Dose ebenfalls bemerkt hatte und die Luft anzuhalten schien.

    Aus dem Fahrzeuginneren drangen trotz des Dieselmotors laute Stimmen nach draußen. Eine keifende, weibliche Stimme mischte sich im Streit mit der sonoren Stimmlage eines Mannes. Die hintere linke Tür des Taxis flog auf. Eine große, schlanke Frau in kurzem Rock und mit viel zu hohen Schuhen stieg laut schimpfend auf der Straßenseite aus. Sie musste aus ihrer Position genau auf die baumelnde Dose schauen, keine fünf Meter von ihrem Gesicht entfernt.

    Er hielt den Atem an.

    Schwungvoll knallte die Tür zurück ins Schloss, weil der Fahrer sofort Gas gegeben hatte, kaum dass sein Fahrgast auf der Straße stand. Mit ihrer Handtasche holte die Frau in einem weiten Bogen aus, um den Kofferraumdeckel des Wagens zu treffen, der Schlag aber ging ins Leere. Vom eigenen Schwung wurde sie nach vorn gerissen, sie stolperte und konnte sich im letzten Moment mit der linken Hand abfangen. Der Fahrer schien die ungelenken Bewegungen im Rückspiegel wahrgenommen zu haben. Er drückte zweimal auf die Hupe, es klang wie ein höhnischer Abschiedsgruß.

    Mann, ist die Alte voll.

    Der Beobachter schüttelte den Kopf. Gleichzeitig verspürte er Erleichterung, einem anderen, nüchternen Fahrgast wäre die Dose mit Sicherheit aufgefallen.

    Der andere hielt die Hand vor den Mund und prustete verhalten. Die Frau zischte dem schnell entschwindenden Taxi einen unterdrückten Fluch hinterher, dann stakste sie auf die Eingangstür zu. Am harten Klacken ihrer Absätze ließ sich der Grad ihrer Verärgerung ablesen. Als sich die Tür hinter ihr schloss, kehrte endlich wieder Ruhe in der Wohnanlage ein. Zwei Augenpaare verfolgten die Frau im Treppenhaus auf ihrem Weg nach oben, sie gestikulierte mit ihren Händen und schimpfte mit einer imaginären Person. In der linken Wohnung im zweiten Stock flammte Licht an. Die Lampe im Treppenhaus erlosch, die beiden Männer konnten sich wieder an ihr Vorhaben machen. Der Mann sprang vor und erwischte die Dose, die wie an einem seidenen Faden hing. Gleich darauf fluchte er.

    „Was ist los?"

    „Es läuft nichts mehr raus, aber die verdammte Büchse ist noch halbvoll."

    „Du hast wieder den billigen Mist gekauft!"

    „Der Markenkram kostet dreimal so viel."

    „Dann schüttel mal schön, du weißt ja, wie das geht", rief der andere hämisch.

    Es gelang ihm schließlich doch noch, den restlichen Inhalt herauslaufen zu lassen. Das Fließgeräusch wurde immer unregelmäßiger und lauter und am Ende blubberte nur noch das Treibgas.

    „Wie sieht es bei dir aus?", rief er leise nach vorn, während er die leere Dose in der Plastiktüte verschwinden ließ.

    „Fertig, schau mal."

    Einen kurzen Augenblick standen beide andächtig nebeneinander am Pkw, als bewunderten sie im Halbdunkel die Motorhaube wie ein Kunstwerk. Die einen Zentimeter breiten Kratzer waren durch die Lackschicht und die Grundierung bis auf das Blech gedrungen, deutlich waren die Buchstaben zu lesen.

    Der Breitere von ihnen stieß seinen Begleiter mit dem Ellenbogen an und drehte sich um. Es wurde Zeit, dass sie verschwanden, sie sollten ihr Glück nicht zu sehr strapazieren. Er kam nur zwei Schritte weit, ein lautes Zischen ließ ihn herumwirbeln. Sein Kumpan hockte neben dem Vorderrad auf dem Boden und war gerade im Begriff, wieder aufzustehen. Aus seiner Faust ragte eine schmale Klinge heraus. Es konnte sich nur um das Einhandmesser handeln, das er am Gürtel trug, wenn sie ihre nächtlichen Aktionen durchführten. Mit einem Riesenschritt stand er vor ihm und drückte ihn gegen den Wagen. Der senkte sich auf der Gehwegseite langsam ab. Das Zischen schien endlos zu sein und immer lauter zu werden.

    „Bist du nicht ganz dicht, Net?"

    „Ist doch egal, was wir kaputtmachen. Das war richtig geil, Mann. So muss es sich anfühlen, wenn ich dem alten Schwein das Messer zwischen die Rippen ramme."

    Der Besonnenere versuchte vergeblich, den Blick des Freundes zu fixieren.

    „Komm wieder runter, Mann. Halt dich an die Absprachen. Komm jetzt, wir müssen hier endlich verschwinden."

    Er schob ihn vom Auto weg und ließ seinen Blick ein letztes Mal prüfend durch die Umgebung wandern. Beide machten sich auf den Weg durch die Siedlung. Sie holten ihre Fahrräder aus dem Versteck und verschwanden sie genauso lautlos, wie sie gekommen waren. Die Plastiktüte mit der leeren Dose landete, weit entfernt von ihrem Verwendungsort, im Müllcontainer eines Mehrfamilienhauses.

    Kapitel 2

    Mit der linken Hand schloss Valerie umständlich die Tür auf und drückte sie schwungvoll in den Flur hinein. In der rechten Hand trug sie zwei volle Einkaufstüten und war froh, sie an der Wand neben dem Eingang zur Garderobe abstellen zu können.

    „Anna?"

    Keine Antwort.

    Wo steckte sie, wenn man sie schon mal brauchte?

    Valerie hatte Zoè in den Kindergarten gebracht und war auf der Rückfahrt schnell in den Supermarkt gehetzt, um sich einen zweiten Weg zu ersparen.

    Mit einer Handbewegung warf sie ihre Jacke um die Ecke auf einen Haken, nahm mit beiden Händen die Tüten auf und ging in die Küche. Mit hastigen Bewegungen sortierte sie nur die Lebensmittel heraus, die dringend gekühlt werden mussten, der Rest verschwand in einem Schrank. Darum würde sie sich nach dem Besuch kümmern.

    „Anna, wo steckst du?"

    Wieder keine Antwort. Valerie ging zurück in den Flur. Durch den Zugang des vom Wohnzimmer abgetrennten Arbeitsbereiches konnte sie sehen, dass der Computer auf dem Schreibtisch eingeschaltet war.

    „Hier steckst du. Warum antwortest du nicht?"

    „Ach, du bist wieder zurück? Hab dich gar nicht gehört."

    Valerie war nicht entgangen, dass sich die Grundfarbe des Bildschirmes abrupt verändert hatte, als sie nähergekommen war.

    Sie schüttelte den Kopf und drehte ab, um im Bad zu verschwinden. Vor dem Spiegel kontrollierte sie schnell ihre Kleidung und den Sitz der Hochsteckfrisur. Beim Verlassen des Badezimmers fiel ihr Blick auf das Bild mit dem kleinen Mädchen im blauen Mantel. Der rotzige Blick, das selbstbewusste Auftreten der Stiefel. Sie war froh, den Kroyer an diesem zentralen Punkt im Flur platziert zu haben. Er strömte Ruhe aus und Familie. Wie keinen anderen Gegenstand verband sie ihn mit behüteten Kindheitstagen, mit Sonne und Ferien am Strand. An manchen Tagen meinte sie sogar, das Salz des Meeres auf ihren Lippen schmecken zu können.

    Heute nicht.

    Die Sorge um Zoés Zukunft schnürte ihr förmlich die Luft ab. Die Gedanken kreisten in ihrem Kopf, dass sie am liebsten zehn Dinge auf einmal erledigen wollte.

    „Anna. Hast du den Frühstückstisch abgeräumt?"

    Wieder blieb die Antwort aus. Ärgerlich sog sie die Luft durch die Nase. Mit großen Schritten hastete sie durch den langen Flur, links vorbei an der Küche. Beim Vorbeigehen an dem schmalen Durchgang registrierte Valerie aus den Augenwinkeln, wie sich erneut der Computerbildschirm veränderte. Die dominierende Farbe wechselte von einem verwaschenen Grün zu grellem Weiß.

    Zum zweiten Mal!

    Irritiert zog sie die Augenbrauen hoch, war aber viel zu angespannt, um sofort zu reagieren. Sie ging einige Schritte in den Essbereich hinein und stellte erleichtert fest, dass der Tisch aufgeräumt war, sogar die mit dunklem Leder bezogenen Stühle standen ordentlich an ihren Plätzen. Vorsichtshalber bückte sie sich und entdeckte auf dem Teppich unter Zoés Stuhl einige Cornflakesbrösel, die sie mit spitzen Fingern aufnahm, um nichts zu zerdrücken. Ein letzter prüfender Blick in die Runde und sie begab sich zurück in die Küche, um die Krümel zu entsorgen. Am schmalen Durchgang zum Arbeitsbereich wechselte wieder schlagartig die Farbe.

    Laut fragte sie über die Schulter, während sie in die Küche abbog:

    „Was war das gerade eben?"

    „Nichts."

    Das i kam so unnatürlich lang gezogen, dass aus dem winzigen Wörtchen eine kleine Melodie entstand.

    Niiiiiiiiiiiiichts.

    „Du schaltest jedes Mal, wenn ich vorbeigehe, eine Seite weg, ich bin doch nicht blind oder blöd."

    „Ach was."

    Nun wurde das a länger und länger.

    Valerie sagte nichts. Noch hielten sich Stress und Ärger die Waage. Ihre ganzen Gedanken kreisten nur um den kommenden Termin. Jeden Augenblick musste die Klingel schrillen. Und obwohl sie schon die ganze Zeit gerade auf diesen einen Moment wartete, wusste sie genau, dass sie vor Schreck zusammenzucken würde. Trotz der Anspannung nahm sie sich die Zeit und war mit ein paar schnellen Schritten im Büro.

    „Wieder! Du hast wieder etwas weggeblendet!"

    „Was du auch immer hast. Ich schaue mir verschiedene Seiten an, da wirkt das schon mal so, als würde ich etwas wegschalten."

    „Ich weiß doch, was ich sehe. Du warst wieder auf dieser versifften Chatseite."

    „Und wenn. Verboten ist es nicht."

    „Nein, verboten ist es nicht. Aber jeden Moment bekommen wir Besuch, du weißt das. Frau Berger vom Jugendamt. Wir müssen ein glückliches Paar vorspielen, wenn es keine Schwierigkeiten mit der Adoption geben soll."

    „Und. Sind wir das nicht?"

    Der süffisante Unterton ließ Valeries grüne Augen zu gefährlichen Schlitzen werden.

    „Du nimmst mich nicht Ernst. Dabei weißt du genau, wie wichtig es ist."

    Bevor Valerie weiter über den Dialog nachdenken konnte, klingelte es. Wie erwartet zuckte sie zusammen. Mit klopfendem Herzen eilte sie zur Tür.

    Frau Berger war eine Frau von irgendwo zwischen Anfang und Mitte fünfzig mit untersetzter Figur. Sie trug Jeans und Strickjacke.

    Erleichtert schaute Valerie an ihrer eigenen Jeans herunter.

    Helle, kritische Augen musterten Valerie von oben bis unten, der Blick verriet Skepsis. Valeries sportlich legeres Äußeres schien nicht so recht zur eleganten Wohnung im noch eleganteren Stadtteil Rotherbaum zu passen. Was hast du erwartet? Ein Luxusweibchen im Chanelkostüm?

    Schleichend trat die Frau ein, als beträte sie einen Tatort, an dem sie selber keine Spuren hinterlassen wollte. Die Augen wanderten unruhig und prüfend hin und her und schienen das Umfeld zu scannen.

    Der Computer!

    Valeries Puls jagte in die Höhe. Sie ging vor und wurde unwillkürlich schneller, als könnte der mickrige Vorsprung reichen, das befürchtete Unglück zu verhindern. Sie erreichte den kritischen Bereich und hielt vor Aufregung den Atem an. Der Bildschirm war dunkel. Erleichtert atmete sie aus. Anna hatte den Computer ausgeschaltet, war an den Esstisch herangerollt und tat so, als blättere sie interessiert in der Tageszeitung.

    „Darf ich vorstellen? Anna-Lena Holland, meine Lebensgefährtin, und das ist Frau Berger vom Jugendamt."

    Anna setzte ihr strahlendstes Lächeln auf und reichte brav die Hand.

    „Ich würde gern aufstehen, aber", wie entschuldigend zeigte sie auf den Rollstuhl. Ihre dunklen Augen funkelten dabei unternehmungslustig, sie konnte es einfach nicht lassen.

    Valerie atmete tief durch. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie auf Anna aufpassen musste. Sie setzte sich links neben die Freundin und legte ihre linke Hand auf Annas rechte, als könnte sie sie damit an die Leine legen.

    Unsere Nagellacke passen nicht zusammen, wenn man die Hände nebeneinanderlegt. Die Rottöne harmonieren nicht miteinander.

    Merkwürdig, dass mir das nicht vorher aufgefallen ist.

    Was für idiotische Gedanken mir durch den Kopf gehen, erschrak sie sofort.

    „Verheiratet sind Sie beide nicht miteinander?", kam auch schon die erste, zuckersüß gestellte Frage.

    „Nein, dafür hatten wir noch keine Zeit. Wir sind beruflich zu stark eingespannt."

    Valerie blieb die Luft weg. Worte wie eine Faust, die sich tief in die Magenkuhle gräbt. Wie lange hatte sie die Freundin auf dieses Gespräch vorbereitet. Am liebsten wäre sie aufgesprungen, hätte Anna gepackt und ordentlich durchgeschüttelt.

    Stattdessen musste sie die Situation irgendwie retten. Valerie umarmte Anna und zog sie an sich, bis sich ihre Wangen berührten. Deutlich spürte sie den Widerstand, den die Freundin aufbaute.

    „Zu stark angespannt ist nicht das richtige Wort. Ich bin selbstständig tätig und Frau Holland unterstützt mich dabei, aber von hier, von zu Hause aus. Es ist nicht so, dass wir ständig unterwegs sind. Vieles kann ich vom Computer aus erledigen. Und einen Trauschein haben wir bislang nicht gebraucht, um glücklich zu sein."

    Die Jugendamtsmitarbeiterin notierte sich alles mit einem Kugelschreiber, der sich ähnlich widerspenstig anstellte wie Anna. Das Kratzen der Spitze auf dem Papier war für einen endlos wirkenden Moment das einzige Geräusch im Raum.

    „Durch ihre, angestrengt suchte sie nach einem passenden Wort, die dadurch entstehende Pause wirkte peinlich, aber es fiel ihr einfach nichts Eleganteres ein, „durch ihre Behinderung ist Frau Holland, also Anna, an das Haus gebunden. Jeden Vormittag kommt eine Physiotherapeutin, um mit Anna zu trainieren. Es ist eigentlich immer jemand hier.

    Valerie spürte, wie eine unangenehme Hitze langsam in ihr hochstieg und sie sich verhaspelte wie in einer schlecht vorbereiteten mündlichen Prüfung.

    Reiß dich bloß zusammen, kein legasthenisches Gestammel.

    Für einen winzigen Moment meinte sie Ablehnung im prüfenden Blick der Besucherin zu erkennen, oder bildete sie sich das nur ein?

    „Entschuldigen Sie, wenn ich so direkt frage ..."

    „Sie können alles direkt fragen, fiel ihr Anna ins Wort. „Damit haben wir überhaupt kein Problem. Was genau wollen Sie wissen?

    Die Frau tippte mit dem Kugelschreiber in Richtung Rollstuhl.

    „Sind Sie von Geburt an an den Rollstuhl gefesselt?"

    „Nein."

    Nur ein kurzes Nein, keine Erklärung, nichts.

    Valerie schaute hilfesuchend nach oben, als suche sie Beistand bei einer höheren Macht.

    Wieder atmete sie tief ein, es ging los.

    „Anna-Lena sitzt erst seit zwei Jahren im Rollstuhl, sie wurde, sie hatte ..."

    „Ich hatte einen Unfall, vor zwei Jahren. Ich wäre beinahe ertrunken und habe zu wenig Sauerstoff bekommen. Seitdem kann ich meine Beine nicht mehr kontrollieren, weil im Gehirn der Bereich der Motorik betroffen war. Alles andere ist nicht geschädigt worden. Oder? Habe ich einen Schaden?"

    Beinahe verschlagen der Blick, den sie Valerie zuwarf.

    „Nein, natürlich nicht", obwohl die etwas ganz anderes auf der Zunge hatte.

    „Kannten Sie sich damals schon?"

    „Aber natürlich, was zunächst nicht einmal gelogen war, aber dann. „Damals waren wir auch schon zusammen.

    Eifrig schrieb die Dame mit.

    „Warum wollen Sie ausgerechnet dieses Kind adoptieren?"

    „Sie ist die Tochter eines Freundes, der verstorben ist. Sie hat sonst niemanden mehr außer mir, außer uns. Ihr Vater hat es in seinem Testament so verfügt."

    Die Frau ließ sich lange Zeit, in den Unterlagen zu blättern und sprach dabei wie zu sich selbst.

    „Fünf Jahre alt, britische Staatsangehörige, die Mutter bei der Geburt gestorben, der Vater 2008 in Rom verstorben. Was für ein Schicksal für so ein kleines Würmchen. Die britischen Behörden haben einer Adoption bereits zugestimmt."

    Endlich schien sie zugänglicher zu werden.

    „Sie spricht nur ein paar Brocken englisch. Als ihr Vater starb, war Zoè drei Jahre alt. Ich habe sie zu mir nach Den Haag geholt, während ich gleichzeitig über einen britischen Anwalt das Adoptionsverfahren angestrengt habe. Wir waren eine Zeitlang zusammen in Den Haag und kurz in Southampton, bevor wir nach Deutschland zurückkamen. Für eine zweisprachige Erziehung war sie meiner Meinung nach zu jung, also haben wir deutsch gesprochen und sie war in der ganzen Zeit in einem deutschen Kindergarten. Wenn sie zurück nach England müsste, könnte sie sich dort nicht verständigen."

    „Was machen Sie eigentlich genau beruflich, Frau Leving?"

    „Ich bin Privatermittlerin und Frau Holland bekommt eine Rente."

    „Privatermittlerin? Im Kaufhaus?"

    „Nein, natürlich nicht."

    Wieder kratzte die Mine über das Blatt.

    Privatermittlerin!

    Kann eine Mine spöttisch klingen?

    Valerie kam sich vor, als säße sie auf einer immer heißer werdenden Herdplatte. Unruhig rutschte sie auf dem Stuhl hin und her.

    Die Brille der Besucherin war weit auf der Nase nach unten gerutscht. Eigentlich sah die Frau ganz freundlich aus, vor allem, wenn sie lächelte, auch wenn durch die Fragen der Eindruck entstand, dass dies eher versehentlich geschah. Die heruntergerutschte Brille ließ Valerie an ihre Schulzeit zurückdenken. Ihr unbeliebter Physiklehrer hatte sich einen Spaß daraus gemacht, seine mehr oder weniger unschuldigen Opfer mit stechendem Blick über die dicken Gläser hinweg zu fixieren und paralysieren. Nach einer kurzen Pause holte er dann zur nächsten Frage aus.

    Die Augen der Besucherin wanderten durch das großzügig dimensionierte Wohnzimmer. Vom riesigen Fernseher glitten sie über das Designersofa und blieben an einer Bilderserie hängen, die Zoè schwarzweiß und lebensgroß in verschiedenen Posen zeigte.

    „Finanziell scheinen sie ganz gut dazustehen."

    Sie ließ offen, ob dies eine Frage oder eine Feststellung war.

    Valerie sah Anna unsicher an, bevor sie antwortete.

    „Ich habe eine Erbschaft gemacht, mein Vater war ein sehr erfolgreicher Rechtsanwalt. Deshalb bin ich finanziell unabhängig. Früher war ich bei der Kriminalpolizei, nach meiner Hospitation bei Europol in Den Haag habe allerdings gekündigt, um mich um Zoè kümmern zu können. "

    Früher, das klang so, als wäre sie schon uralt. Aber genauso kam es ihr vor, als wäre alles ganz weit weg und konnte sie nicht mehr erreichen.

    „Sie haben also Ihren sicheren Beruf aufgegeben, um für das Kind da zu sein."

    Frau Berger vertiefte sich in ihren Notizblock. Valerie fragte sich, ob die Feststellung gut oder schlecht für sie war.

    „Sind Sie denn in der Lage, sich um ein Kind zu kümmern?", fragte Frau Berger an Anna gewandt und meinte doch nur den Rollstuhl.

    „Natürlich. Auf Rädern bin ich wesentlich schneller als früher zu Fuß".

    Anna hatte die Frage sofort durchschaut.

    Valerie schnaufte. Wie lange hatten sie über diesen Tag diskutiert, sie hatte gehofft, dass die Positionen klar waren. Aus Erfahrung wusste sie zur Genüge, wann es Anna reichte und sie die Kratzbürste auspackte. Schnell sprang sie ein.

    „Wir haben eine Haushaltshilfe, die uns entlastet. So haben wir mehr Zeit für Zoè."

    Wieder der Kugelschreiber, kratz, kratz, kratz.

    „Brauchen Sie tägliche Pflege? Muss sich Frau Leving um Sie kümmern?"

    Annas Augen wurden größer, erst auf Valeries Blick hin schluckte sie tapfer die Antwort herunter und blieb stumm.

    „Anna ist vollkommen selbstständig, bis auf die Physiotherapeutin benötigt sie niemanden."

    „Mit Männern wird das Kind in seiner Entwicklung nicht in Berührung kommen?"

    Valerie wurde noch wärmer im Nacken.

    Warum gibt es keinen Fragenkatalog für den Besuch von Jugendamtsmitarbeiterinnen, so wie es die Führerscheinfragen schon vorher zu lesen gibt?

    „Wir haben natürlich auch männliche Bekannte, die gelegentlich zu Besuch kommen."

    „Die sind dann aber eher schwul, ja?"

    Kratz, kratz.

    Valerie starrte die Frau an. Zu gern hätte sie gewusst, was sich in diesem Moment hinter dieser Stirn abspielte. Ein Bild altrömischer Gelage schoss ihr durch den Kopf, wild kopulierende Männer und Frauen, wie in dem alten Caligulafilm. Und Zoè tapste, mit hasenängstlichen Augen, den Rücken an der Wand, durch diese Szene.

    „Nicht nur, manche schon", hörte sie sich sagen.

    „Mein Vater kommt regelmäßig vorbei. Er ist für Zoè ein wunderbarer Opa. Die beiden verstehen sich prima, und er ist nicht schwul, jedenfalls nicht, dass wir es wüssten."

    Annas Tonfall war noch eine Nuance streitsüchtiger geworden. Valeries Gedanken rotierten.

    „Wir haben auch einige männliche Mitarbeiter, die den Außendienst machen, sozusagen."

    Jetzt wurden Annas Augen kugelrund, sie schaute für einen winzigen Moment erstaunt, dann hatte sie sich wieder im Griff und lächelte freundlich. Jedenfalls hätte ein Nichteingeweihter es für freundlich halten können..

    „Kann ich mal das Zimmer des Kindes sehen?"

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