Tod an der Alster
Von Anke Küpper
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Über dieses E-Book
Eine Frau läuft im farbenreichen Spektakel des Feuerwerks über der Alster vor einen Bus. Erst bei genauem Hinsehen entdecken Svea Kopetzki und die Kollegen von der Mordkommission die Stichspuren am Hals. Hat sich die bekannte Schönheitschirurgin aus ihrer nahen Praxis vor einem Angreifer in die Menschenmassen des Alstervergnügens flüchten wollen? Wer hatte sie angegriffen? Ein Einbrecher, ein rachsüchtiger Ex-Patient oder steckte doch etwas ganz anderes dahinter? Hauptkommissarin Svea Kopetzki muss viele Fragen in der ihr verhassten Welt der Neu-Reichen und Neu-Schönen Hamburgs stellen.
»‘Tod an der Alster‘ ist spannend und voll mit Lokalkolorit.« Kerry Rügemer,NDR, 30.07.2021
Anke Küpper
Anke Küpper studierte Germanistik, Romanistik und Medienwissenschaften in Hamburg, Bochum, Poitiers und Bordeaux. Seit über zwanzig Jahren arbeitet sie als Buchautorin. Neben ihren Kriminalromanen, in denen sie ihre Wahlheimat Hamburg zum Schauplatz macht, hat sie mehr als achtzig Sachbücher und Pixi-Geschichten sowie zahlreiche Quizze und Spiele veröffentlicht, darunter einige Bestseller.Sie hat bereits mehrere Krimi-Anthologien herausgegeben, ist in Hamburg als Literaturveranstalterin aktiv und leitet Schreibworkshops. Außerdem engagiert sie sich bei den Mörderischen Schwestern, im Syndikat und im writers’ room Hamburg für andere Schreibende.
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Buchvorschau
Tod an der Alster - Anke Küpper
Zum Buch
Bei Svea läuft es aktuell richtig gut: Freund Alex und sie sind glücklich, im Job klappt alles, und auch mit Hamburg konnte sich die Kommissarin mittlerweile anfreunden. Der neuste Fall führt Svea und ihr Team in die Welt der Schönen und Reichen von Hamburg, eine Welt, mit der die bodenständige Frau so gar nichts anfangen kann. Und auch der Fall an sich ist vertrackter, als es zu Beginn scheint. Verdächtige gibt es viele, doch alle haben auch ein Alibi. Während Svea immer weiter in das Leben der toten Schönheitschirurgin vordringt, muss sie feststellen, dass auch innerhalb ihres Teams der Schein trügt. Die junge Franzi hadert mit ihrem Job bei der Polizei, und Kollege Tamme konnte die Abfuhr seiner Frau noch immer nicht überwinden. Dabei weiß Svea nur zu gut, dass es meist schiefgeht, wenn sich private Probleme mit Beruflichem vermischen …
Zur Autorin
Anke Küpper arbeitet seit über zwanzig Jahren als Buchautorin. In ihren packenden Kriminalromanen macht sie ihre Wahlheimat Hamburg zum Schauplatz. Wenn sie nicht gerade mit Schreiben beschäftigt ist, kümmert sie sich um die Hühner in ihrem Garten, walkt an der Elbe, paddelt auf der Alster oder tauscht sich mit den »Mörderischen Schwestern« aus.
Lieferbare Titel
Der Tote vom Elbhang (Svea Kopetzki, Band 1)
Originalausgabe
© 2021 by HarperCollins in der
Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
Covergestaltung von zero-media.net, München
Coverabbildung von Thomas Grimm / plainpicture
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783959674782
www.harpercollins.de
SAMSTAG, 15.08.2015
PROLOG
Es zischt und knallt. Goldene Sterne explodieren und regnen auf die Außenalster, Leuchtkugeln, rot und grün wie Ampellicht, ziehen glühende Schweife hinter sich her.
Igor Popov stöhnt. Mit einer Hand lenkt er den Doppeldeckerbus über die Fernsichtbrücke, mit der anderen verreibt er den Schweiß, der unter seiner Kapitänsmütze hervorfließt. Es ist nach 22 Uhr und noch weit über 20 Grad warm. Der kurze Regen am Nachmittag hat keine Erfrischung gebracht, eher war es danach noch schwüler.
»Bleibst du wohl sitzen!«, kreischt eine Frauenstimme hinter ihm, als er beim Einbiegen in die Bellevue durch zwei Schlaglöcher rumpelt. Popov blickt mit einem Auge in den Rückspiegel. Im Gang zwischen den Sitzen schwankt ein Mann, mit beiden Händen einen Tablet-Computer vorm Gesicht haltend, und filmt das Feuerwerk. Die Matrone im Vierersitz rechts hinter ihm streckt den Arm nach ihm aus und zerrt an seinem T-Shirt.
»Siegfried!« Ihre Stimme schneidet in Popovs Trommelfell. Der Mann reagiert nicht. Er tut, als würde er nichts merken, oder vielleicht merkt er tatsächlich nichts, solche Leute soll es geben. Glückliche, die alles Störende um sich herum ausblenden und unbeirrt ihr Ziel verfolgen.
Popov sieht nach vorn. Über der Alster schießt eine silbrige Fontäne in die Höhe und öffnet sich zum funkelnden Kelch am Himmel. Früher hat er Feuerwerk gemocht. Seit er hinterm Steuer dieses Busses sitzt, nicht mehr. Aber was soll er machen? Er braucht den Job bei den Stadtrundfahrten, um bei Mila zu sein. Denn wenn Mila zu lange allein sein muss, ritzt sie sich Muster in ihre Unterarme. Nachdem er sie nach einer Portugaltour vor drei Jahren aus der Klinik abholen musste, hat er sofort bei der Spedition gekündigt. Wie hat er es geliebt, tagelang gen Süden zu fahren, nur er und die Straße. Jetzt fährt er acht Mal am Tag um die Alster, bei Feuerwerk noch öfter, und muss alle paar Kilometer anhalten und neue Fahrgäste ein- und austeigen lassen. Hop On Hop Off, heißt das. Kein Wunder, dass ihm nach Feierabend manchmal schwindelig ist.
Im letzten Moment bemerkt er den Smart, der vor ihm aus der Parklücke am Alsterufer schießt. »Pass doch auf!« Ruckartig tritt er auf die Bremse. Der Mann mit Namen Siegfried taumelt zurück auf den Sitz neben seiner Frau, umklammert unbeirrt sein Tablet.
Vom Oberdeck hallen Schreie, Gepolter. Er schaltet die Kamera nach oben um, sieht in schemenhaftem Schwarz-Weiß, wie sich eine Person hinsetzt, die restlichen Fahrgäste hocken brav auf ihren Plätzen. Ist wohl nichts Schlimmes passiert, beruhigt er sich.
Als er anfährt, den Rücklichtern des Smart hinterher, rinnt der Schweiß nicht mehr nur unter der Mütze hervor, sein Rücken klebt am Sitz, in den Armbeugen spürt er Pfützen. Nur ein Unterhemd wäre passend bei diesem Wetter, oder gleich ein nackter Oberkörper, stattdessen muss er Uniform tragen. Fischerhemd, rotes Halstuch und diese lächerliche weiße Kappe mit dem schwarzen Plastikschirm. »Wie ein echter Hamburger Jung«, hat ihm sein Chef erklärt. Popov hat noch keinen Einheimischen getroffen, der so herumläuft. Die Touristen fallen trotzdem drauf herein und wollen am Ende der Tour ein Selfie mit ihm, immerhin gibt das extra Trinkgeld.
Schwungvoll biegt er um die nächste Kurve, tritt aufs Gas, um noch bei Gelb auf die andere Seite der Sierichstraße zu gelangen. Hamburgs bekannteste Einbahnstraße wechselt mehrfach am Tag die Richtung und zwingt ihm ab Mittag einen Sonderschlenker über den Mühlenkamp auf, eine viel zu enge Straße mit teuren Läden und Cafés, in der zwischen Park- und Radfahrstreifen kein Platz für zwei entgegenkommende Pkw ist, geschweige denn für seinen Bus. Erst neulich hat er jemandem den Außenspiegel abgefahren, das ist ihm natürlich von seinem Lohn abgezogen worden.
Und jetzt parkt ein Idiot mit Warnblinker mitten auf der Straße. Popov hupt und bremst ab, zum Glück vorsichtiger als bei dem Smart. Auf dem Oberdeck bleibt es ruhig, lediglich ein paar Aahs und Oohs dringen zu ihm herunter, weil gerade ein goldener Lichtschweif den Himmel entlangsaust.
»Verpiss dich!« Er flucht leise durch die halb geschlossenen Lippen, das hat er sich angewöhnt im Bus. Er muss Rücksicht auf die Fahrgäste nehmen. Dann drückt er noch mal auf die Hupe und lässt die Faust gleich dort liegen. Er muss sich beeilen, sonst verpasst er das Finale des Feuerwerks auf der Schwanenwikbrücke.
»Sofort anzeigen und abschleppen lassen!«
Popov schreckt zusammen. Der Mann mit dem Tablet ist aufgestanden und steht neben ihm. Popov beugt den Kopf kurz vor, zum Zeichen, dass er verstanden hat. Bloß nicht auf eine Diskussion einlassen, bei dem Kerl zieht er den Kürzeren.
»Bei uns gäb’s das nicht!«
Besserwisser! Popov schnaubt. Keine Ahnung, wo der Kerl herkommt, wahrscheinlich vom Land, vom Hamburger Verkehr versteht er nichts. Popov hupt.
»Stopp!«, kreischt die Frau von hinten. »Hören Sie sofort auf zu hupen!«
Auch das noch! Popov guckt angestrengt auf die Straße, dann hupt er noch mal, dabei spürt er ihren Blick im Nacken; wie ein Dackel, der sich festbeißt.
»Haben Sie mir nicht zugehört?«, schimpft die Frau. Und an ihren Mann gewandt: »Schatz, tu was!«
»Halt die Fresse«, zischt der Mann. Popov zuckt zusammen. So würde er nie mit Mila reden!
Er sieht weiter nach draußen. Links aus einem Hauseingang stürzt ein hochgewachsener Mann in Shorts, er wankt leicht, als er auf den Wagen zueilt, beim Einsteigen hält er sich am Dach fest, dann setzt er schräg zurück, so schwungvoll, dass er krachend an einem Poller landet. Statt auszusteigen und sich den Schaden anzusehen, schießt der Mann vor und fährt mit quietschenden Reifen davon.
Soll er die Polizei rufen? Popov greift in den Ablagekorb auf dem Armaturenbrett und zieht einen Stift und den Ticket-Block heraus. Er setzt an, das Nummernschild des Wagens auf die Rückseite des Blocks zu kritzeln, nach dem zweiten H verwirft er den Gedanken und schmeißt den Block zurück in den Korb. Er hat es eilig.
Dass ein Bild des Mannes ihn bald im Zusammenhang mit einer Straftat aus der Zeitung anblicken wird, ahnt er noch nicht. Er ist nur froh, dass die Straße frei ist. Jetzt schafft er es hoffentlich pünktlich zum Finale an die Alster. Und dann nach Hause zu Mila.
Er fährt schnell weiter, biegt nach wenigen Minuten rechts ab und sieht die Alster voraus. Fährhausstraße. Schöne Aussicht. Die gewohnte Route.
»Das passt hier aber nicht hin«, keift die Frau hinter ihm, nach einer Reihe weißer Villen ist linkerhand die blaue Moschee aufgetaucht.
»Du auch nicht«, murmelt Popov. Schade, dass er sie nicht rausschmeißen darf. Er denkt an Mila, wie er sie auf einer seiner ersten Touren mitgenommen hat. Beim Anblick des türkisfarben gefliesten Gebäudes mit der himmelblauen Kuppel und den prächtigen Minaretten war sie aus dem Schwärmen nicht mehr herausgekommen. Wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht.
Hoppla! Die Haltestelle. Er bremst ab und kommt wenige Meter dahinter zu stehen. Was ist heute nur mit ihm los? Fast hat er den Mann übersehen, der im Schatten des Unterstands wartet.
Er drückt den Türöffner und sucht den Mann im Außenspiegel. Der regt sich nicht, steht immer noch breitbeinig mit dem Rücken zu ihm.
Popov erhebt sich halb aus seinem Sitz und brüllt »Moin Moin« zur Tür heraus.
Der Mann dreht sich um und zieht den Reißverschluss seiner Hose hoch. »Hau ab, Alter«, motzt er und winkt den Bus weiter.
Hätte der Kerl sich keinen anderen Platz zum Pinkeln suchen können? Popov schüttelt den Kopf. Als er wieder anfährt, prasselt ein bonbonbunter Lichterregen auf die Alster nieder.
Mist! Ist das schon das Finale? Er sieht auf die Uhr im Armaturenbrett. 22:50 Uhr! Eigentlich hätte er längst auf der Schwanenwikbrücke sein müssen, von dort hat man den besten Blick aufs Feuerwerk.
Was jetzt? Wenn er weiterfährt, ist alles vorbei, lange bevor er dort ankommt.
Doch da vorn ist die Feenteichbrücke. Zwar gibt es nur einen Fahrstreifen, aber egal! Statt wie sonst auf der Straße zu stoppen, fährt er kurzentschlossen auf den Bürgersteig und schaltet den Warnblinker ein. Hauptsache Brücke! Die Fahrgäste kennen sich in Hamburg sowieso nicht aus.
Popov sieht in den Rückspiegel. Der Mann der Matrone hält sein Tablet wieder wie ein Brett vors Gesicht und filmt. Wahrscheinlich könnte man ihm darauf ein Video vom letztjährigen Feuerwerk vorspielen und mit dem Bus sonst wo stehen, er würde es nicht merken und denken, er wäre live dabei.
Dann ist der Himmel schwarz. Im Bus ertönt Klatschen, als wäre ein Ferienflieger gelandet. Das war’s jetzt, könnte man denken, wenn man keine Ahnung von Feuerwerk hat. Popov weiß es besser. Er legt die Unterarme auf dem Lenkrad ab und beugt sich vor, um möglichst gut sehen zu können.
Eine spektakuläre Explosion aus strahlend weißem Licht. Nur für ihn! Die Fahrgäste sind damit beschäftigt, ihre Bilder im Internet zu posten oder Tablets und Kameras in ihren Taschen zu verstauen.
Es knallt noch einmal, danach ist es endgültig vorbei. Er sieht auf die Uhr. 22:58 Uhr. Wenn niemand mehr ein- oder aussteigen will, hat er in einer Viertelstunde Feierabend. Endlich! Er reibt sich den Nacken und gibt Gas.
Er ist höchstens 50 Meter gefahren, als etwas gegen den Bus prallt. Scheiße, was war das?
Instinktiv rammt er den Fuß auf die Bremse. Das Lenkrad stößt gegen seine Rippen, die Kapitänsmütze fliegt vom Kopf, der Ablagekorb macht einen halben Salto. Faltblätter, Tickets, Stifte, alles wirbelt durcheinander, scheppernd rutscht der Korb über den Boden. Popov atmet schwer.
Während um ihn herum Geschrei anschwillt und die Fahrgäste vom Oberdeck heruntertrampeln, blitzt vor seinem inneren Auge der Hirsch auf. Damals bei Salamanca ist er ihm vor den Lkw gelaufen. Popov war ausgestiegen, um nachzusehen, ob das Tier noch lebte. Sekunden später waren die Männer mit ihren Gewehren aus dem Dunkel aufgetaucht. Sie hatten ihn in die Falle gelockt!
Erst jagen sie ein Tier auf die Straße, damit man anhält, dann rauben sie einen aus.
»Machen Sie sofort die Tür auf!« Jemand rüttelt an seiner Schulter. Die Matrone. Als er nicht reagiert, greift sie an ihm vorbei und drückt wild auf die Knöpfe am Armaturenbrett. Der Scheibenwischer quietscht, Wasser spritzt hin und her, schließlich erwischt sie den Türöffner.
Die Fahrgäste strömen auf die Straße, Popov steigt zuletzt aus.
Vor ihm auf dem Asphalt liegt eine Gestalt, die Gliedmaßen unnatürlich verkrümmt, ihr blondes Haar schimmert im Scheinwerferlicht. Das ist kein Hirsch, er hat einen Menschen überfahren.
Eine Frau, erkennt er, als er näher tritt. Blut sickert aus einer Wunde an ihrem Hals, sie starrt ihn an, ihre Lippen beben, als wolle sie etwas sagen. Er kniet sich neben sie, hält sein Ohr dicht an ihren Mund.
»Mörder«, flüstert sie, »I…go…« Dann sackt sie zurück.
Igor? Er zittert. Die ganze Zeit hat er geschwitzt, jetzt wird ihm eiskalt. Wer ist die Frau? Woher kennt sie seinen Vornamen?
Als jemand »Mörder!« schreit, explodiert erneut Licht vor seinen Augen, diesmal ist es kein Feuerwerk.
Er wacht erst aus seiner Ohnmacht auf, als die Sirenen näher kommen.
»Wie spät ist es?«, fragt jemand neben ihm.
»Gleich halb zwölf.«
Mila! Er müsste längst zu Hause sein.
»Milaaa!« Er merkt nicht, dass er ihren Namen herausschreit, als die Sanitäter ihn unter den Armen fassen, um ihn zum Rettungswagen zu führen.
***
Das Kanu gleitet ins Wasser, lautlos schwappt eine Welle ans Ufer. Partymusik weht aus einer Villa auf der anderen Seite herüber. Mit einer Hand halte ich das Kanu am Heck fest, mit der anderen ziehe ich es seitlich zu mir heran. Ein langer Schritt, das Kanu schwankt, schnell knie ich mich hin, greife das Paddel und stoße mich vom Ufer ab.
Blätter streifen mein Gesicht, ich bewege mich im Schutz der tief hängenden Weiden. Nach fünfzig Metern hockt ein Haubentaucher auf seinem Nest. Ich steuere in Richtung Kanal und reihe mich ein in den Strom der Paddler und Tretbootfahrer, die zurückkehren zu ihren Bootshäusern und Liegeplätzen.
Keiner wird sich an mich erinnern, ich bin einer von vielen, die sich das Feuerwerk angesehen haben.
Genau so habe ich es geplant.
Ich tauche das Paddel ins Wasser, ziehe es nach hinten durch, hole es aus und wieder vor. Immer im Rhythmus. Eintauchen, durchziehen, ausholen, vorholen. Hin und wieder ein J-Schlag, um das Kanu auf Kurs zu halten. Vor der zweiten Brücke drehe ich nach Backbord in den kleineren Kanal ab.
Das Kanu gleitet durch einen Teppich aus Teichrosen. Ein Blässhuhn quiekt auf, es riecht modrig, heute Morgen im Radio haben sie vor Blaualgen gewarnt. Bei Kontakt kann es zu Ausschlag und Juckreiz kommen. Ich habe nicht vor, nass zu werden.
Die Brücken sind hier so niedrig, dass ich den Kopf einziehe. Nach der zweiten kommt backbord der tote Seitenarm. Beim Einbiegen glitscht das Kanu über den Grund, etwas kratzt am Boden, Steine oder ein Ast, ich weiß es nicht, das Wasser wird immer trüber.
Eintauchen, durchziehen, ausholen, vorholen.
Ich reiße die Augen weit auf, um im Mondlicht den morschen Steg zu erkennen. Meine Schulter schmerzt, als ich das Kanu aus dem Wasser ziehe und an seinem Platz verstaue, Zweige darauf lege, altes Laub und Erde.
Ich habe den Wagen in der Fährhausstraße geparkt, zwischen zwei Laternen. Der letzte Stadtrundfahrtbus ist lange durch. Ich lasse ein Paar mit seinem Hund vorbeigehen, dann springe ich in den Wagen und fahre zurück, dorthin wo ich hergekommen bin. Ich liege gut in der Zeit, niemand wird etwas merken.
Auch sie wird mich nicht verraten können, die Verletzung war tödlich, dumm nur, dass sie weggelaufen ist. Aber wenn ich eins gelernt habe, dann ist das Improvisieren.
1
Hauptkommissarin Svea Kopetzki beugte sich über die Tote auf der Bahre. Die Frau hatte die Augen weit aufgerissen, ihr blondes Haar war blutverschmiert, trotzdem wirkte ihr Gesicht friedlich wie das einer Madonna. Ob es an den gleichmäßig geschwungenen Brauen, der zarten Nase und den herzförmigen Lippen lag? Svea hatte noch nie so ebenmäßige Züge gesehen.
»Kann sie dann weg?« Der Notfallsanitäter knackte mit den Fingern.
»Moment noch!« Svea wandte sich an den Kollegen vom Kriminaldauerdienst, der neben ihr auf der Straße stand. »Irgendwelche Hinweise, wer sie ist?«
»Bis jetzt nicht.« Brandt schüttelte den Kopf. Die Plane der Sichtschutzwand, die den Leichnam vor neugierigen Blicken bewahren sollte, raschelte im Wind.
»Mila!« Ein Schrei wehte herüber.
Svea trat zur Seite und blickte sich um. Die Frau mit dem grauen Lockenhelm war ihr bereits bei der Ankunft am Unfallort aufgefallen. Während die anderen Fahrgäste des Busses schweigend auf dem Fußweg am Alsterufer herumgestanden hatten, Entsetzen auf den Gesichtern, hatte die Frau ohne Pause auf den Mann an ihrer Seite eingeredet. Worum es ging, hatte Svea nicht verstanden, im Blaulicht der Einsatzfahrzeuge waren die hin und her wedelnden Arme der Frau aufgeflackert, als würde sie einen Kriegstanz aufführen.
»Sie heißt Mila!«, rief die Frau jetzt erneut, die Finger um das Absperrband gekrallt, das zwischen Fußweg und Unfallstelle gespannt war.
Ein Schutzpolizist trat zu ihr. Gut hörbar ermahnte er sie, die Arbeit der Polizei nicht zu behindern und von der Absperrung zurückzutreten. Wenn die Mordbereitschaft später die Zeugen befragte, wäre noch genug Zeit, ihre Eindrücke zu schildern.
Svea befürchtete, die Frau würde das Absperrband durchreißen, aber sie nickte nur heftig, als hätte sie verstanden – und stürzte sich keifend auf ihren Mann.
»Die spinnt ein bisschen.« Brandt war neben sie getreten und fasste sich an die Stirn.
»Wie kommt sie auf Mila?« Die Frau war ihr unsympathisch, verrückt wirkte sie nicht.
»Weil der Busfahrer Mila geschrien hat, als die Sanitäter ihn aufgesammelt haben.«
»Dann kannte er die Tote?« Der Busfahrer lag in einem zweiten Rettungswagen und bekam eine Infusion, er stand unter Schock, womöglich konnten sie ihn heute nicht mehr befragen.
»Glaube ich nicht, er ist nur durcheinander. Man überfährt ja nicht alle Tage jemanden.«
Brandt hatte ihr bereits am Telefon berichtet, dass die Frau direkt vor dem Bus auf die Straße gelaufen und durch den Aufprall meterweit durch die Luft geschleudert worden war. Umgebracht hatte sie laut Notarzt allerdings etwas anderes.
Deshalb hatte Brandt die Mordbereitschaft angefordert. Und die Spurensicherung, die kurz nach Svea eingetroffen war; Freder Birk und seine Mitarbeiter waren noch dabei, ihren Transporter zu entladen. Daneben schlüpfte gerade Sveas Mitarbeiterin Franzi mit ihrem Fahrrad unter dem Absperrband hindurch. Fehlte nur noch Tamme. Wie lange er wohl diesmal brauchte?
»Hi«, hauchte Franzi wenig später, eine Hand am Lenker, mit der anderen strich sie sich eine Strähne ihres langen blonden Haares hinter die Ohren. »Ich musste das Auto stehen lassen, alles dicht wegen des Feuerwerks.«
Svea bemerkte das Funkeln in Brandts Augen, wie so viele Männer reagierte er reflexhaft auf Franzis modelmäßiges Äußeres. Aber zum Glück hatte die junge Kollegin weit mehr zu bieten als nur eine schöne Hülle. Svea hielt große Stücke auf Franzis kriminalistische Fähigkeiten, zumindest bis vor Kurzem.
»Moin, Frau Grüner.« Brandt wies zur Seite, wo erste Kreidespuren auf der Fahrbahn schimmerten. »Dort hat der Leichnam gelegen.«
Ein Mitarbeiter des Verkehrsunfalldiensts zeichnete gerade den Reifenstand des Busses nach. Vor den gestrichelten Linien für die Bremsspur erkannte Svea das X für den Körpermittelpunkt der Toten. Rechts und links davon, jeweils in einem unnatürlichen Winkel abgeknickt, das O für den Kopf und das U für die Füße. Die neutrale Markierung sollte die Angehörigen von Verkehrsopfern schonen, falls diese später den Unfallort aufsuchten. Bei Svea befeuerten die abstrakten Symbole erst recht die Fantasie.
»Zahlreiche Knochenbrüche«, hörte sie Brandt sagen und löste ihren Blick von der Straße.