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Endstation Alpenparadies: Roman
Endstation Alpenparadies: Roman
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eBook278 Seiten3 Stunden

Endstation Alpenparadies: Roman

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Über dieses E-Book

Max Berger, ein älterer Auslandschweizer, langjähriger Buchhalter in Paris, hört in der Metro, wie zwei Frauen von einem Alpenparadies Dolce Vita in der Schweiz erzählen, wohin alte Menschen aus ganz Europa geschickt werden. Obwohl Max sich einredet, dass dies nicht sein kann und er selbst noch jung sei, wird sein Alltag immer mehr zum Alptraum. Er verliert seine Stelle, spielt seiner Frau vor, immer noch arbeiten zu gehen, irrt durch Paris. Max sieht nur noch einen Ausweg.

Scheinbar alles nur wilde Fantasterei von Max, der, seit sie einen neuen Mitarbeiter und den neuen Computer haben, keine Arbeit mehr hat und schauen muss, wie er die Bürostunden hinter sich bringt?! Nein, die Realität holt den Alptraum ein.
SpracheDeutsch
HerausgeberMünster Verlag
Erscheinungsdatum1. Apr. 2020
ISBN9783907146903
Endstation Alpenparadies: Roman

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    Buchvorschau

    Endstation Alpenparadies - Markus Michel

    Autor

    – 1 –

    Wieder starrt er in den Hof zum Haus gegenüber. Im Fenster auf gleicher Höhe seines Büros drei Köpfe. Vollständig kahl, grau, jeder Mund eine Grimasse, die Wangen eingefallen, drei Köpfe, Greisenköpfe, jeder auf einen dünnen Stab gespießt. Eine Gänsehaut läuft Max Berger über den Rücken. Hässliche Puppenköpfe. Es sind bloß Puppenköpfe. Dennoch starrt er wie gebannt.

    Kurz nach achtzehn Uhr verlässt er das Büro.

    Max schaut bestürzt seine Schuhe an, wischt so gut als möglich die Sohle an der Bordkante ab, hinterlässt eine stinkende, braune Fußspur. Er verschwindet im Eingang zur Metro.

    Die Frau im Abteil gegenüber spricht auf ihre Sitznachbarin ein. Max stutzt, spitzt die Ohren. Alpenparadies Dolce Vita.

    Plötzlich merkt er, dass er in der falschen Metro sitzt. Das ist ihm seit über dreißig Jahren noch nie passiert! Und alles nur wegen eines Hundedrecks!

    Max steht schnell auf. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als zurückzufahren. Er zwängt sich durch die Menge zur Tür. Eine Treppe hoch, durch einen Korridor, kleine Treppe hinunter, Korridor, Treppe hoch, Korridor … Klänge eines Akkordeons … Korridor, ein paar Stufen hinunter, Korridor, ein Blinder mit Akkordeon, Treppe hoch, Korridor, Treppe hoch …

    Straßenlärm, Benzinschwaden. Max hebt verwundert den Blick. Er steht tatsächlich auf der Straße, hat, anstatt umzusteigen, den Ausgang erwischt!

    Das Gespräch der zwei Frauen. Unsinn! Was ginge es ihn an!

    Grübelnd geht er vorwärts, an der Blumenverkäuferin vorbei, stößt beinahe einen Kübel mit Rosen um. Gut, die Bevölkerung Europas wird immer älter, das ist nicht zu leugnen. Trotzdem. Es lohnt sich nicht, weitere Gedanken daran … Alpenparadies! Jetzt erst merkt er, dass er vor der Comédie-Française steht. Er ist schon eine Ewigkeit nicht mehr hier gewesen. Als Stagiaire hatte er sich manchmal in die lange Schlange vor der Kasse eingereiht. Eigentlich hatte er nur ein Jahr in Paris bleiben wollen, um seine Französischkenntnisse zu verbessern. Seither nennt er sich «Bersche». Ein Jahr; und wie’s so geht … Später besuchte er mit seiner Frau ein paar Vorstellungen im «Français», natürlich auf besseren Plätzen. Das ist schon so weit weg.

    Er biegt in die Avenue de l’Opéra. Straßenlärm, Benzinschwaden. Max muss sich an einer der Straßenlaternen festhalten. Nichts anmerken lassen. Es kommt nur darauf an, einen Schritt vor den andern zu setzen, nur weitergehen, weitergehen. Und es geht. Das leichte Schwindelgefühl ist verschwunden. Die nächste Straßenlaterne taucht auf. Dazu da, den Glanz der Lichterstadt im Kutschenzeitalter vorzugaukeln. Und plötzlich packt ihn eine wilde Lust, der Laterne einen Tritt zu versetzen, dieser Laterne! Von der gegenüberliegenden Straßenseite schaut ein Polizist zu ihm herüber. Der Polizist wendet seinen Blick nicht ab! Max dreht sich langsam um, geht zurück, wird immer schneller, muss sich zurückhalten, um nicht zu rennen.

    Eine wohltuende Stille. Nur ein fernes Rauschen unter dem Gurren der Tauben. Max bleibt stehen, atmet tief durch. Der Garten des Palais Royal ist menschenleer. Die Mütter sind mit ihren Kindern, die in den Sandkasten spielten, nach Hause gegangen. Nur eine alte Frau sitzt auf einem wackeligen Stuhl, eine Serviette auf den Knien, und isst ihr Abendbrot. Um sie herum flattern und trippeln unzählige Tauben und Spatzen.

    Diese Alte … Das ist doch der beste Beweis, dass es nur dummes Geschwätz ist, was die beiden Frauen in der Metro erzählten.

    Max wirft einen Blick auf die Armbanduhr. O je! Claire wartet sicher schon mit dem Essen auf ihn.

    – 2 –

    Max Berger trinkt schnell einen kleinen Schluck vom roten Tischwein. Jedenfalls würde er Claire nicht erzählen, was er in der Metro gehört hat. Keinen Zweck. Die Bergers schweigen sich an, wie immer beim Essen.

    Max schneidet wie immer einen Streifen von seinem Steak, schneidet den Streifen entzwei, steckt eine Hälfte in den Mund, kaut, schiebt ein paar Pommes frites nach, kaut. Immer wieder Pommes frites. Richtig fantasielos. Er trinkt einen kleinen Schluck vom roten Tischwein. Er hat beinahe die Hälfte des Steaks und der Pommes frites gegessen, als seine Frau unvermittelt das Schweigen bricht. Im ersten Stock würden neue Mieter einziehen. Zuerst habe man den alten Herrn nicht mehr gesehen, dann sei auch die alte Dame verschwunden, und jetzt würden bereits neue Mieter einziehen.

    Was ginge sie das an! Muss man deshalb mitten im Essen …?!

    Seine Frau schaut ihn an. Das merkt er, ohne den Blick zu heben. Er lässt die Hälfte des Steaks und der Pommes frites stehen.

    Er liegt mit offenen Augen im Bett. Eine Polizeisirene schrillt durch die Nacht. Dreißig Jahre Buchhalter, erledigt gewissenhaft seine Arbeit, oft geht er sogar samstags hin, manchmal auch sonntags für ein paar Stunden.

    Schritte im Treppenhaus. Die Schritte steigen hoch.

    Und wenn es stimmen würde, was er in der Metro gehört hat?

    Die Schritte steigen höher. Nichts mehr zu hören.

    Sie kommen wieder herunter.

    Die Schritte verstummen vor seiner Wohnungstür. Max starrt ins Dunkel des Schlafzimmers.

    Unsinn! Alles Unsinn! Und alles nur wegen eines Hundedrecks! Sonst hätte er nie diese Metro genommen.

    Die Schritte tappen weiter die Treppe hinunter. Dann ist es still.

    Seine Frau neben ihm atmet ruhig und tief. Die hat natürlich ihre Wachskugeln in den Ohren! Soll er sie wecken! Er hat ja gar keinen plausiblen Grund.

    Er ist hellwach. Wenn das, was die beiden Frauen erzählt haben, zutreffen würde, wie könnten sie in der Metro davon sprechen, als wäre es das Normalste der Welt!

    Alpenparadies … Man ist doch kein Tier! Gut, irgendwie muss man die Überalterung in den Griff … Eine europäische Lösung drängt sich auf. Alpenparadies Dolce Vita … Irgendwo in der Schweiz. In den Bergen. Und erst dieser Test … Er ist noch nicht alt. Das leichte Schwindelgefühl heute Abend auf der Straße hat weiter nichts zu bedeuten, übrigens das erste Mal, ganz abgesehen davon leiden darunter Jüngere als er.

    – 3 –

    Max steht auf, zieht sich leise an, schleicht mit angehaltenem Atem aus der Wohnung. Erst auf der Straße wagt er normal zu gehen, normal zu atmen. Ein kühler Wind streicht durch die Äste der Bäume, treibt die Blätter über den Gehsteig. Etwas später steigt er die Treppen der Metrostation Villiers hinunter. Der Bahnsteig wie ausgestorben. Mitternacht ja schon vorbei. Ein Summen. Das Summen wird lauter. Gegenüber fährt eine Metro ein, fährt gleich darauf weiter. Ein paar Menschen verlassen den Bahnsteig. Max kratzt mit dem Nagel des Zeigefingers über die Kuppe des Daumens.

    Er bemerkt ihn erst, als er direkt auf ihn zukommt. Der Mann mit Dreitagebart, brauner Lederjacke, auf dem Kopf eine Schiebermütze, hinter der die Haare leicht gelockt hervor wuchern, der Mann hat ihn ins Auge gefasst. Zu spät! Max kann nicht mehr ausweichen.

    Dicht vor ihm bleibt der Mann stehen, fragt leise nach der Uhrzeit. Max versteht nicht, schaut nur verstört. Der Mann verneigt sich leicht und verschwindet im Korridor mit der Tafel «Ausgang».

    «Reiß dich zusammen», befiehlt sich Max selbst. «Ein Mann in deinem Alter kann sich doch nicht einfach wegen eines Hirngespinsts aus der Bahn werfen lassen.»

    Er steigt wie immer in «Sentier» aus. Er hat ganz zwangsläufig seinen Arbeitsweg gewählt. Kein Mensch zu sehen. Aus Pappschachteln am Straßenrand quellen bunte Stoffreste. Vor dem Hofeingang zu seiner Firma bleibt er kurz stehen, hastet weiter.

    Beim Seitenausgang des Grand Rex bleibt er wieder stehen, ohne zu wissen, wer der Held ist, der überdimensional von der gemalten Kinoreklame auf ihn herunterschaut, er nimmt ihn gar nicht richtig wahr. Max geht zurück, biegt ab, erreicht nach ein paar Schritten den Place du Caire. Kairo … Vom Morgenland ist selbst in der Nacht nicht viel zu sehen. Trotz Sphinx, Hieroglyphen und Lotosblumen im Schein der Straßenlampen. An der Fassade von Nummer 2. Und reiner Zufall, dass sein Blick darauf fällt. Bereits vorbei, besinnt er sich. Wieder umkehren? Nein. Bereits vorbei. Leise lächelt er in sich hinein.

    Hier war im Mittelalter ein Cour des Miracles, ein Hof der Wunder gewesen, hier ereignete sich jeden Tag neu das Wunder. Max erinnert sich, dies in seinem Reiseführer gelesen zu haben, der damals, während seines Praktikantenjahrs, sein treuer Kompagnon in den Straßen von Paris gewesen war. Jeden Morgen verließen Scharen von Krüppeln, von Blinden, Versehrten jeglicher Art den Hof, um in der Stadt zu betteln. Jeden Abend strömten sie zurück, warfen ihre Krücken, warfen ihre Binden, warfen ihre Holzbeine weg, soffen, schlemmten, feierten Orgien die ganze Nacht. Und das war das große Wunder! Da lohnte es sich, einer Heiligen eine Kerze anzuzünden. Ganze Schafe, Schweine und Rinder wurden am offenen Feuer gebraten, der Wein wurde fassweise angerollt und einmal angestochen, der Hahn nicht mehr zugedreht. Tausende von gut organisierten Landstreichern, Bettlern und kleinen Ganoven hatten hier ihren Unterschlupf, ihr Reservat, ihr Paradies. Sie wählten sogar ihren eigenen König. Die Polizei wagte sich nicht in das Gewirr der Gässchen, Passagen, Sackgassen, ein Labyrinth, das sehr leicht zu verteidigen und dessen Zentrum der stinkende, schlammige Hof war.

    Träum nicht von der guten alten Zeit; einem Generalleutnant der Polizei gelang es schließlich, sie aus ihrem Bau zu verjagen, sie zu massakrieren, und wer noch nicht tot war, wurde gefoltert, bis er krepierte und die Zuschauer vor Freude und Grauen jauchzten.

    Das Gewirr der Gässchen, Passagen, Sackgassen ist längst verschwunden, einfach abgerissen, wegrasiert, es entstanden andere Straßen, Passagen, mit Glasdach überdeckte Galerien, in denen sich, wie im ganzen Viertel von «Sentier», der Stoffgroßhandel niedergelassen hat.

    Krüppel, Blinde, Versehrte jeglicher Art sind geblieben, geht Max durch den Kopf. Nur das große Wunder bleibt aus.

    Er tritt durch das halboffene Gittertor in die um diese Zeit düstere Galerie du Caire, hat bereits die Hälfte der Passage hinter sich, als er erstaunt feststellt, in welch dunklen Gang er geraten ist. Glas. Auf beiden Seiten und über ihm. Glasscheiben. Er schaut zurück, späht vorwärts in die unbeleuchtete Galerie. Als er endlich den Ausgang, eine helle Scheibe am Ende des Tunnels, wahrnimmt, beschleunigt er seine Schritte. Das Gittertor ist geschlossen. Das Gefühl beschleicht ihn, in eine Falle geraten zu sein. Trotzdem nähert er sich, wenn auch langsamer. Das Tor lässt sich ohne Mühe aufstoßen. Max stolpert erleichtert hinaus auf einen kleinen Platz mit Bäumen. Zwischen den Schornsteinen ein zerbeulter Mond.

    Die Gegend um Strasbourg St-Denis gilt nicht umsonst als verrufen, besonders in der Nacht. Das ist kein Hirngespinst. Selbst all die heiligen Straßennamen könnten nicht helfen.

    Er geht weiter durch die enge Rue St-Foy mit ihren schiefen Häusern.

    Plötzlich steht Max in einer Straße, in der für diese frühe Stunde noch außergewöhnlich viel Betrieb herrscht. Eine Autoschlange schleicht vorwärts, auf beiden Seiten strömen Menschen über den Gehsteig, hauptsächlich Männer. Die Damen lehnen sich an die Hauswände, stehen in schmalen Hoteleingängen Spalier, sitzen auf geparkten Autos und lassen lange Beine pendeln, tragen bis zu den Hüften aufgeschlitzte Röcke, hüllen sich nur in einen Pelz.

    Und wie sie ihn locken, ihm zuflüstern! Er wechselt rasch die Straßenseite. An der nächsten Ecke streicht er um eine große Bar Tabac, linst so unauffällig wie möglich hinein. An der Theke drängt sich ein Volk von Nachtbummlern, Zuhältern, Huren.

    Max biegt in die stille Rue St-Sauveur ein. Ein Mann stiefelt auf und ab. Als dieser Max erblickt, gibt er ein Zeichen. Was hat dies zu bedeuten? Max beschleicht erneut ein ungutes Gefühl.

    Hinter einem geparkten Auto taucht eine Frau auf, zieht etwas unter dem Rock hoch. Max schaut erst in einiger Entfernung zurück. Das Paar ist verschwunden. Die Straße wird enger, eine düstere, mittelalterliche Dorfgasse. Hier liegt alles in tiefstem Schlaf! Nur eine einzige Heilige steht in der Ecke, eine Echte, aus Gips, in der Nische auf Höhe des ersten Stocks über einem geschlossenen Restaurant. «Plat du jour: Fricassée de poulet». Mit Kreide auf die Frontscheibe geschrieben.

    Der traurige Gefährte, der alte Kumpel der Melancholie, der gute Gesell, eben noch mit einer Beule im Himmel oben, ist nicht mehr zu sehen.

    Und was hat er, Max Berger, hier mitten in der Nacht verloren? Er kommt sich vor wie ein richtiger alter Knacker mit einem richtigen Knall, wie sie zu Tausenden durch Paris wandeln.

    Es fing damit an, dass er in der falschen Metro saß. Aber er ist noch jung, jünger als viele andere! Da haben die paar weißen und die grauen Haare nichts zu bedeuten.

    Am Straßenrand ein Peugeot, die rechte Vordertür weit offen. Niemand darin. Max schaut verwundert. Er hört ein sich näherndes Motorengeräusch. In seinen Augenwinkeln sieht er einen Kastenwagen der Polizei heranfahren. Es ist besser, wenn er von hier verschwindet. Zu spät! Zwei Polizisten springen auf die Straße.

    – 4 –

    Ein fernes Rauschen. Wie konnte ihm das nur passieren! Seit über dreißig Jahren erledigt er gewissenhaft …

    Max steht am Fenster in seinem Büro. Er trägt ein hellblaues Hemd, wer hätte sagen können, ob ein anderes Kleidungsstück während einer Wäsche nicht leicht abgefärbt hat, ein Hauch von hellblau, ferne Ahnung von Himmel, am Kragen ein dunkler Tupfen.

    Ja, er wurde gestern in der Nacht von der Polizei angehalten. Die benahmen sich ganz korrekt, schließlich war nicht auszuschließen, dass er das Auto … Und so spät durch die Straßen! Strasbourg St-Denis. Das Viertel bekannt. Zwar sein Arbeitsort in der Nähe. Am Tag ist das etwas anderes. Eine andere Welt. Er hat sich bisher nicht umsonst gehütet, nachts hierher zu kommen.

    Vielleicht hätte er die Autotür schnell schließen sollen. Wenn sie es gesehen hätten, wäre der Verdacht erst recht auf ihn …

    Die Polizisten befahlen ihm, die Hände hochzunehmen. Einer kam näher, Max wurde abgetastet, musste mit in den Kastenwagen der Polizei, das war ihm noch nie passiert, zum Glück kein Mensch weit und breit, er hätte gleich alles zugegeben, alles, was von ihm verlangt worden wäre, ein kalter Schweiß unter seinem Hemd. Nein, vielleicht hätte er sie sogar hinters Licht geführt. Gab ja leider nichts. Er wurde aufgefordert, die Taschen zu leeren. Sie prüften wortlos seinen Ausweis. Ließen ihn laufen, ohne ein Wort der Entschuldigung. Zum Glück kein Mensch weit und breit.

    Er starrt in den Hof zum Haus gegenüber. Im Fenster immer noch die aufgespießten Puppenköpfe. Erneut muss er an das Gespräch der beiden Frauen in der Metro denken. Oder hat er das letzte Nacht nur geträumt?

    Max öffnet missmutig die Schreibtischschublade, zieht unter einem Stapel Rechnungen ein schmales Buch hervor: «Die Alpenwelt», blättert kurz darin. «Alpenglöckchen, Bärtige Glockenblume …» Er lässt das Büchlein gleich wieder verschwinden.

    Punkt zwölf steht er auf, schiebt den Drehstuhl ans Pult, knipst das Licht aus, das trotz strahlenden Herbsthimmels den ganzen Tag in seinem Büro brennt. Die hohen Mauern der umliegenden Häuser lassen zu wenig Tageslicht herein. Max schließt hinter sich die Tür. Er steigt die Treppen hinunter, durchquert den Hof, tritt auf die Straße. Beim Grand Rex vorbei, dem Größten, an der Ampel warten, bevor er den Boulevard kreuzen kann. Das Theater Gymnase kündet wie immer irgendein Boulevardstück an. Etwas weiter vorne würfeln vier, fünf Araber und drei Schwarze auf zwei aufeinander gestellten Pappschachteln um Geld. Ein Straßenfotograf versperrt ihm den Weg, gibt Zeichen, Max solle stehenbleiben, hantiert mit großen Gesten an einer Polaroid Kamera herum. Hält man ihn jetzt für einen Touristen! Nom de bleu! Aber bei denen ist bestimmt nicht mehr so viel zu verdienen. Die mit ihren Selfies. Um trotzdem Kunden anzulocken, hat der Fotograf eine Holztafel, worauf die Sehenswürdigkeiten von Paris in kitschigsten Farben gemalt sind. Und mitten darin ein rundes Loch, durch das der Tourist seinen Kopf strecken kann.

    Ein Vogelschwarm fliegt in hoher Geschwindigkeit über die Hausdächer.

    Beim Self Service Bonne Nouvelle steht die Schlange bis hinaus auf den Gehsteig, wie immer um diese Zeit. Er stellt sich wie immer seufzend hinten an. Die Schlange rückt ein paar Schritte vor, stockt, rückt ein paar Schritte vor, stockt, rückt vor, jetzt ist er bereits bei der Eingangstür, jetzt kann er bereits ein Tablett, Messer, Gabel, Papierserviette nehmen, sich einen Teller mit panierten Fischstäbchen und Pommes frites auf das Tablett stellen, daneben eine kleine Schale mit Kopfsalat, eine kleine Flasche mit rotem Tischwein, da fällt ihm ein, dass zu Fisch eigentlich Weißwein angebracht wäre, zu spät, der Hintermann stößt ihn in den Rücken, er muss vorrücken. Das Tablett mit beiden Händen verkrampft festhaltend, schlängelt er sich zwischen Tischen und Stühlen hindurch,

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