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Siebenmeilenstiefel: Roman
Siebenmeilenstiefel: Roman
Siebenmeilenstiefel: Roman
eBook355 Seiten4 Stunden

Siebenmeilenstiefel: Roman

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Über dieses E-Book

Andrea stellt sich vor, auf dem Rücken eines Drachens über ihrem Dorf zu fliegen. Sie ist Anfang zwanzig, ihre Mutter hat die Familie vor zehn Jahren verlassen, der alkoholabhängige Vater bezieht Invalidenrente. Über solche Dinge wird zu Hause lieber geschwiegen, und Andrea erfährt am eigenen Leib: Wer über alte Geschichten nicht spricht, der wird sie auch nicht los.
Für ihren Bruder Michl, der lieber Rockmusiker als ein dorfbekannter Schulversager wäre, denkt Andrea sich eine Fluchtgeschichte aus. Als sie ihren Vater und seine Schwägerin bei einem Annäherungsversuch erwischt, merkt sie: Michls Fluchtgeschichte muss auch ihre eigene werden. Zwei Tage später sitzen die Geschwister im Pick-up des Onkels und suchen das Weite.
Andrea erzählt, erinnert, und sie erfindet. So auch eine kühnere Version ihrer selbst namens Ariane, die sie ermutigt, im wirklichen Leben über sich hinauszuwachsen – wenn sie sich, einmal in Basel, auf die Suche macht nach dem, was von ihrer Familie übrig ist. Und ein junger Mann namens Bastian auf dem Fahrrad um die Ecke kommt.
Klug, dialogstark und mit vergnüglicher Fantasie lässt Simon Deckert uns eine Reise miterleben, die die Vergangenheit einholt und die Zukunft mit Händen greift. Ein überraschendes Debüt!
SpracheDeutsch
HerausgeberRotpunktverlag
Erscheinungsdatum9. Sept. 2020
ISBN9783858698940
Siebenmeilenstiefel: Roman

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    Buchvorschau

    Siebenmeilenstiefel - Simon Deckert

    5Geisterfahrt

    1

    Landkarte der

    Traurigkeit

    1

    Der Mann mit dem Afro hat ein Geheimnis, so viel ist sicher. Fünfmal die Woche warte ich morgens vor dem Dorfladen auf den Pendlerbus, viermal beobachte ich genau dieselbe Szene. Ich lehne am Pfosten mit dem zerkratzten Haltestellenschild, hinter mir das Geräusch eines Schlüssels im Schloss, das Quietschen einer Tür. Der erste Bus, der ein paar Minuten vor meinem kommt, hält am Straßenrand und gibt ein ungeduldiges Schnauben von sich. Rechts von der Mitteltür sitzt der Mann mit dem Afro, am Gang, der Fensterplatz neben ihm leer – viermal die Woche auf demselben Platz. Ein paar verwahrloste Bartkrausen unter dem Ohr und am Kinn, die milchkaffeebraune Haut im Gesicht voller Muttermale, um den Hals die grünen Kopfhörer. Sein Haar ist am Hinterkopf von einem Gummiband zusammengenommen und quillt daraus hervor wie ein üppiger Blumenstrauß, wo bei anderen nur ein müder Pferdeschwanz baumelt.

    Das Geheimnis könnte in der Regelmäßigkeit seines Auftauchens liegen, auch wenn es etwas geben muss, das ihn von den anderen Pendlern unterscheidet. So wäre es denkbar, dass er in einer Zeitschleife gefangen ist, in einem sich endlos wiederholenden Fluchtversuch. Jeden Morgen steigt er in den Pendlerbus und flieht so weit aus dem Dorf, wie er mit dem öffentlichen Verkehr an einem Tag kommt. Am Abend legt er sich hinter einem Heuschober schlafen oder auf der Bank von einem Haltestellenhäuschen, und wenn er am nächsten Morgen aufwacht, starrt er wieder an die Decke seines Zimmers im Dorf. Eine andere Möglichkeit wäre, dass sein regelmäßiges Busfahren ein Ablenkungsmanöver darstellt, mit dem er sich hinter der Alltäglichkeit der Pendler versteckt. Das wäre einigermaßen raffiniert. Bleibt die Frage, was er zu verstecken hat. Er könnte etwa einen zweiten Kopf haben, der ihm aus dem Hinterkopf wächst und von seinem Haarschopf verdeckt wird. Wenn man das dunkle Kraushaar zur Seite schiebt, dann blickt man in ein kleines, runzliges Gesicht, das einen aus zwei wässrigen Augen etwas traurig ansieht, als wollte es sagen: Ja nun – mich überrascht nichts mehr.

    Hinter mir das Geräusch eines Schlüssels im Schloss, das Quietschen einer Tür. Jeden Morgen kettet der dicke Tiroler, dem unser Dorfladen gehört, das Schild mit den Tagesschlagzeilen ans Treppengeländer. Montag, Dienstag, Mittwoch und Freitag: Der Mann mit dem Afro sitzt rechts von der Mitteltür. Würde sich an einem dieser Tage ein einziges Detail an der Szene verändern, etwa, wenn ich mit dem Rücken zur Straße stehen würde statt zum Laden, ich glaube, dann müsste alles im Chaos versinken. Die Kopfhörer wären blau statt grün, der zweite Pendlerbus würde vor dem ersten kommen, der dicke Tiroler würde über die Kette stolpern und sich auf den Stufen das Genick brechen.

    Guten Morgen, schreit der dicke Tiroler.

    Ich hebe die Hand, ohne mich umzudrehen. Erst, als ich die Tür ins Schloss fallen höre, werfe ich einen Blick auf das Schild. Heute ist Donnerstag.

    Durch die Busfenster sehe ich mir die anderen Fahrgäste an. Hinter der Fahrerkabine sitzt die Witwe des Nachtklubbesitzers und kaut auf einer blonden Strähne, der Junkie mit der Wollmütze schläft auf dem Klappsitz neben der Gepäckablage, der Schlosserlehrling in der hintersten Reihe schiebt sich eine Zigarette hinters Ohr und spielt mit seinem Nagelknipser. Weil jeder Pendler seinen festen Platz hat, ist der Sitz rechts von der Mitteltür am Donnerstag leer. Am Donnerstag bin da nur ich, mein Spiegelbild im rechten Flügel der offenen Tür. Eine Laufmasche unter dem Knie, mein grauer Jeansrock ein wenig ausgefranst und unter dem Kapuzenpulli ein Paar Brüste, in die eines Tages ein Mann sein Gesicht vergraben wird, dem ich erzählt habe, mein Name sei Ariane. Ariane, wird er sagen, du bist eine Klippe, von der ich mich stürzen möchte.

    Als der Bus hinter der Papeterie verschwunden ist, höre ich hinter mir den schlurfenden Gang meines Bruders. Ich hole den Klappspiegel aus meiner Handtasche und beobachte, wie er die Treppe zum Dorfladen hinaufsteigt und hinter der Glastür verschwindet. In der runden Scheibe des Spiegels kann ich die Szene zwischen meinem Bruder und dem dicken Tiroler verfolgen; ich höre ihre Stimmen durch das Gezwitscher der Spatzen und die vorbeifahrenden Autos, ich habe den Putzmittel- und Aufbackbrötchengeruch in der Nase, alles springt mich an aus dem kleinen Spiegelbild.

    Guten Morgen, sagt Miko.

    Wie bitte?

    Der dicke Tiroler hat sich hinter der Ladentheke über einen Plastiksack gebeugt und kramt unter lautem Rascheln darin herum. Er richtet sich auf und stellt zwei orange Einmachgläser auf die Vitrine.

    Wachauer Marille, sagt er, mehr zu den Gläsern. Dann fixiert er Miko und schaut ihn ein paar schnaufende Atemzüge lang an. Der Ludescher Michl. Finger weg von den Zigaretten. Ich weiß schon, mit solchen wie dir muss man aufpassen.

    Ich habe nichts gemacht.

    Probleme machst du, und dann für ein paar Tage verschwinden und sich hinterher an nichts erinnern können. Dein Onkel hat mir schon erklärt, wie das läuft.

    Ich klappe den Spiegel zu, ab hier geht es sowieso weiter wie immer. Der Tiroler streicht über die borstigen Haare in seinem Ebernacken und setzt sich die Lesebrille auf. Dann zieht er einen Kugelschreiber aus seiner Gesäßtasche und beginnt etwas auf einen Block zu schreiben.

    Was willst du?, fragt er irgendwann und schaut meinen Bruder über die Brillengläser hinweg an. Leberkässemmel und Cola?

    Jawohl.

    So, das Übliche, sagt der Tiroler. Er lacht ein anbiederndes Lachen, das an niemanden gerichtet sein kann als an ihn selbst. Man muss, sagt er, als guter Verkäufer auch seine schlechten Kunden kennen.

    Er öffnet den Glaskasten, in dem die heißen Fleischlaibe liegen wie schwitzende, gehäutete Tiere, und schneidet mit einem langen Messer zwei Scheiben Leberkäse ab.

    Heute schon wieder nichts zu tun?

    Was geht Sie das an?

    Wieder lacht der Tiroler.

    Man wird ja noch fragen dürfen. Essiggurken dazu?

    Ein Umzug steht an, sagt Miko und nickt.

    Der Tiroler klappt die fertige Semmel zu und holt eine Dose Cola aus dem Kühlschrank.

    Mit deinem Onkel, natürlich. Sag dem Ludescher Bruno, wir hätten ihn vermisst am Dienstag. Und er soll dir auf die Finger schauen. Er mustert Miko, bevor er die Sachen auf die Theke stellt. Dass du Zwerg überhaupt Möbel schleppen kannst. Drei Euro zwanzig macht das.

    Die Glastür geht wieder auf, und ich drehe mich um. Mein Bruder kommt mit seiner Cola und einem braunen Papiersack auf mich zu. Er öffnet die Dose und nimmt einen Schluck.

    Was trinkst du heute?, frage ich.

    Cola.

    Und gestern?

    Auch Cola.

    Und morgen?

    Keine Ahnung.

    Ich sehe ihn an.

    Und was machst du heute?

    Räumung bei den Albrechts. Der Sohn will die Mansarde vermieten.

    Und gestern?

    Gestern war Mittwoch. Vormittag im Büro, Nachmittag frei.

    Und was hast du gemacht?

    Er holt die Leberkässemmel aus dem Papiersack und beißt hinein.

    Du bist komisch, sagt er mit vollem Mund.

    Einen Moment lang schaue ich ihm beim Kauen zu. Als ich den zweiten Bus um die Ecke kommen höre, stecke ich den Spiegel zurück in die Handtasche und schüttle den Kopf.

    Irgendwer muss anfangen, deine Geschichte auszumalen, sage ich.

    Er nimmt noch einen Bissen von seiner Semmel und macht eine Kopfbewegung in Richtung Bus.

    Bis dann, sagt er.

    Als ich am späten Nachmittag von der Arbeit nach Hause komme, ist es noch hell, nur die Küche an der Ostseite des Hauses liegt schon im Dunkeln. Ich mache das Licht an und erschrecke kurz über die Gestalt, die so plötzlich vor mir sitzt, als ob sie erst durch das Drücken des Lichtschalters aufgetaucht wäre.

    Astrid? Schon zurück? Ein Engel bist du.

    Der Vater sitzt auf einem Hocker am Küchentisch, so nah an der Vase mit den Palmkätzchen, dass ihn die Zweige fast ins Gesicht stechen.

    Nein, sage ich. Ich bin’s.

    Sein Lachen klingt wie bei anderen Leuten das Husten, wenn sie etwas im Hals haben.

    Natürlich. Keine Abendschule heute?

    Heute ist Donnerstag, sage ich.

    Ja.

    Montag und Donnerstag haben wir frei.

    Ja. Richtig.

    Richtig.

    Er räuspert sich.

    Den ganzen Nachmittag über hat sich jemand vor dem Haus zu schaffen gemacht. Ein Scharren und Klopfen, als ob der Garten umgegraben würde. Ich habe mich nicht hinausgetraut.

    Wahrscheinlich ein Hund, sage ich.

    Ich öffne den Kühlschrank und nehme eine Apfelsaftflasche heraus, die Butterdose, ein rotes Ei aus einem halb leeren Karton, ein Stück Käse. Im untersten Regal steht die angeschnittene Geburtstagstorte von meinem Bruder. Jemand hat die obere Hälfte der weißen Marzipan-Acht abgebrochen, sodass es aussieht, als wäre er zehn geworden. Ich hole zwei Gläser aus der Kredenz und fülle sie mit Apfelsaft.

    Hast du genug getrunken?

    Er greift nach dem Glas und erwischt es im ersten Anlauf. Ich trinke meines in einem Zug leer, dann schmiere ich mir zwei Butterbrote und schneide das Ei in der Mitte durch.

    Willst du nicht warten?, fragt der Vater. Die anderen kommen doch bald.

    Ich habe Hunger, sage ich.

    Wenn du jetzt isst, magst du später nichts mehr.

    Ich kann jetzt ein bisschen essen und später noch was.

    Er rutscht auf seinem Hocker herum.

    Es ist doch schön, gemeinsam am Tisch zu sitzen. Zeit miteinander zu verbringen. Findest du das nicht schön?

    Es ist doch schön, wiederhole ich in Gedanken, Zeit miteinander zu verbringen. Das rote Ei in meiner Hand ist plötzlich wieder ganz, und ich drehe mich um und werfe es nach ihm. Der Sekundenbruchteil, bevor es gegen seinen Kopf prallt, dehnt sich seltsam in die Länge, und gespannt frage ich mich, ob dabei das Ei zu Bruch gehen wird oder der Kopf.

    Warum kümmert es dich nicht, ob wir es gut haben miteinander? Du tust immer so, als ob dir alles egal wäre.

    Ich nehme einen hastigen Bissen von meinem Butterbrot und erwische dabei die halbe Brotscheibe.

    Weißt du noch, wie alt ich bin?, frage ich kauend.

    Einundzwanzig.

    Zweiundzwanzig.

    Wieder räuspert er sich. Mit der rechten Hand hält er sich an der Tischplatte fest, die linke liegt auf seinem Knie und zittert ein bisschen.

    Ihr seid alles, was ich noch habe, sagt er. Ich bin nicht mehr viel. Wenn es euch nicht gäbe, wäre ich nichts mehr.

    Ich schweige.

    Jetzt, wo wir auch unser Haus nicht mehr haben.

    In unserem Haus wohnen wir seit mehr als fünf Jahren nicht mehr, sage ich.

    Unvermittelt haut er mit der flachen Hand auf die Tischplatte. Ich zucke zusammen.

    Herrgott, Andrea. Wen kümmert es, wie viele Jahre das sind. Jetzt sind wir hier. Der Michl und du. Wir sind jetzt alle erwachsen.

    Volljährig, sage ich.

    Findest du das lustig?

    Und wenn man volljährig ist, kann einem nichts mehr passieren?

    Der Michl kommt zurecht, sagt er. Außerdem hat er dich.

    Das ist aber auch alles.

    Ich nehme noch einen Bissen, und beim Kauen schäme ich mich plötzlich. Als würde ich mir selber eine Lüge erzählen, nur durch das Kauen des Butterbrots, in dieser Küche mit ihren bunt karierten Vorhängen, neben diesem Mann auf seinem Hocker.

    Es ist nie zu spät, sagt er.

    Ich verschlucke mich und unterdrücke einen Hustenanfall.

    Du hast recht, sage ich krächzend und gehe zur Tür. Vielleicht ist es jetzt Zeit.

    2

    Weil ihm die Last seines zweiten Kopfes einmal in der Woche zu groß wird, steigt der Mann mit dem Afro donnerstags hinauf zu der moosbewachsenen Ruine, die auf einem Hügel etwas außerhalb des Dorfs liegt. Er setzt die hellgrünen Kopfhörer auf und hört eine schwebende, sonnige Musik. Von der Nordwand der Ruine aus hat man einen weiten Blick über das Tal, in dem der Fluss und die Dörfer liegen. Wenn es tagsüber geregnet hat und in der Dämmerung noch das mächtige Wolkengebirge wie eine Festung über dem Land steht, kann der Mann mit dem Afro in der Ferne manchmal einen riesenhaften, schwarzen Drachen sehen, der immer wieder für einige Augenblicke aus den Wolken bricht, dann wieder darin verschwindet und sich nur hier und da durch ein oranges Licht erkennen lässt, das wie ein Wetterleuchten durch das dichte Grau-Weiß scheint.

    Im Märchen vom entlaufenen Rösslein löst sich eines Tages eine einzelne Schuppe vom Schwanz dieses Drachen und fällt in die Tiefe. Durch einige Luftströmungen wirbelt die Schuppe hier- und dorthin, bevor sie über jenem Wald zu Boden sinkt, der sich von den Ausläufern des Gebirges bis an den Fluss erstreckt, zu der Biegung, wo die südlichsten Dörfer des Tales liegen. Sie landet in einer Morastpfütze, in die zufällig gleich darauf ein entlaufenes Fohlen aus einem der Dörfer am Waldrand tritt. Die Schuppe bleibt an seinem Huf haften und schiebt sich mit dem nächsten Tritt in eine Ritze über dem Hufeisen.

    Wenig später hatten der Ludescher Bruno und sein Neffe Miko dem Fohlen mit einem Strick die Läufe zusammengebunden und hievten es auf die Ladefläche von Ludeschers Pick-up, indem der Onkel auf der einen Seite des Wagens am Strick zog und Miko sich von der anderen Seite gegen den Körper des Fohlens stemmte. (Der Ludescher hatte früher bei Wettkämpfen in der Landeshauptstadt Kleinlastwagen gezogen.) Als das Tier verstaut war, hängte er die Ladeklappe ein und wischte sich mit dem Saum seines dunkelblauen Poloshirts den Schweiß von der Glatze.

    Der Ludescher saß schon bei laufendem Motor im Wagen und drehte am Radio herum, da entdeckte Miko unter einem der Hufe des betäubten Fohlens einen kleinen, schimmernden Gegenstand. Er zog ihn zwischen dem Huf und dem Eisen hervor und ließ ihn sofort in seiner Hosentasche verschwinden; der Onkel rief seinen Namen und versuchte unter umständlichen Bewegungen des Oberkörpers, ihn im Rückspiegel zu sehen. Das, so kam es Miko vor, während er um den Pick-up ging, war sein Schicksal – nie anders als über einen Rückspiegel angeschaut zu werden und diesem Blick aus dem Rückspiegel auch niemals zu entkommen. Der Ludescher fuhr los und drehte das Radio lauter.

    Nach dem Abendessen räumt der Michl den Tisch ab und geht hinauf in sein Zimmer, ich lasse Wasser für den Abwasch ins Spülbecken. Aus dem Wohnzimmer höre ich, wie der Bruno den Fernseher einschaltet und die Astrid den Korken aus einer Flasche dreht, der Vater sitzt am Küchentisch und atmet laut durch die Nase. Als ich anfange, die Teller zu schrubben, dringen das Rauschen und Knacksen des Gitarrenverstärkers durch die Decke, dann ein paar Akkorde, eine halbe Tonleiter. Ich stelle den letzten Teller auf das Abtropfgestell und ziehe den Stöpsel. Als ich mich umdrehe, steht die Astrid vor mir, ein kleines Glas Kräuterbitter in der Hand. Ich greife nach dem Geschirrtuch.

    Geh, lass stehen, sagt sie. Mit dir hat man keine Sorgen.

    Ich nicke und will an ihr vorbeigehen.

    Sag, Andrea, sagt sie, und ich bleibe stehen. Wie läuft es mit dem Lernen?

    Ich zucke die Schultern. Gut, sage ich.

    Im Mai hast du die Prüfungen, richtig?

    Im Juni.

    Sie schaut in ihr Schnapsglas, als hätte sie in der braunen Flüssigkeit ein Wort verloren, dann kippt sie es in einem Satz herunter und sieht mich an.

    Weißt du, was das Arztgeheimnis ist?

    Was meinst du?

    Du hast nicht zu wissen, dass der Herr Tscholl Patient bei uns ist. Ich werde dir auch nicht sagen, was er hat.

    Plötzlich fallen mir ihre spitzen, lackierten Fingernägel auf und die streng nach hinten frisierten, blonden Haare.

    Der Herr Tscholl, mein Lehrer?

    Sie nickt.

    Mein Lehrer in Vaduz?, frage ich, was eine ziemlich dumme Frage ist.

    Du weißt doch, dass er hier im Tal wohnt. Er hat mir erzählt von deiner, sagen wir, Lustlosigkeit.

    Als ich das Wort Tal höre, kommt es mir vor, als ob all meine Gedanken in eine lange, schmale Schwärze gezogen würden. Irgendwo darin funkelt, klein und entfernt, ein rotes Licht.

    Woher weiß der Herr Tscholl, worauf ich Lust habe?

    Andrea. Bitte. Keine zwei Monate mehr.

    Und dann?

    Dann hast du Möglichkeiten.

    Ich schaue sie an.

    Den Vater pflegen? Zuschauen, wie der Michl eingeht wie ein vergessener Stubenkaktus? Einen Beauty-Space eröffnen im Nachbardorf?

    Der Blick, mit dem sie mich ansieht, ist nicht für mich. Für einen Teddybären könnte er sein oder ein sterbendes Kaninchen. Deinen Blick will ich nicht, denke ich.

    Auch der Michl, sagt sie, wird nicht ewig hierbleiben.

    Und du glaubst, woanders wird er zurechtkommen?

    Sie seufzt.

    Andrea. Ich weiß, der letzte Herbst war für uns alle ein Schreck. Aber weil jemand einmal ins Krisenzentrum muss, ist er noch kein Pflegefall. Der Michl wird lernen, dass man zurechtkommt, solange man sich nur beschäftigt.

    Und wer soll ihn woanders beschäftigen?

    Bitte. Denk an dich selber.

    Sie tritt zur Seite, und ich schiebe mich an ihr vorbei aus der Küche und gehe nach oben.

    Ich müsste etwas von Musik verstehen. Ich müsste mit seiner früheren Lehrerin telefonieren; ich glaube, sie hat Konzett geheißen. Ein einziges Mal waren wir alle zusammen an einem Vorspiel in der Musikschule. Das war Anfang Sommer vor zwei Jahren, ein paar Tage nachdem wir erfahren hatten, dass der Michl die letzte Klasse wiederholen muss. In dem niedrigen Saal hat man zwischen den Stücken die Schuhsohlen über den gelblichen Kunststoffboden rutschen gehört. Nach dem Michl haben die Leute lange geklatscht. Seine Lehrerin ist sogar aufgestanden, aber sie war die Einzige. Ich erinnere mich an ihre offenen, schwarzen Haare auf dem grünen Jackett. Was kann unser Neffe eigentlich?, hat die Astrid sie nach dem Konzert angesprochen. Vielleicht hätte ich die Frage nicht hören sollen. Die Antwort habe ich jedenfalls nicht gehört, weil im selben Moment der Bruno nach uns gerufen hat, ohne zu merken, dass ich direkt vor ihm gestanden bin. Am nächsten Morgen hat er beim Frühstück verkündet, auf der Bühne stehen sei ja gut und recht, wenn es einer nötig habe, aber der Michl dürfe erst wieder Gitarrenunterricht nehmen, wenn er mit der Schule fertig sei.

    Ich klopfe fest an die Tür meines Bruders und warte. Als er nicht antwortet, drücke ich die Klinke.

    Michl, sage ich.

    Der Lärm tut mir in den Ohren weh.

    Michl!

    Er hört auf zu spielen und schaut mich an.

    Du übst viel in letzter Zeit.

    Ja.

    Geht es gut?

    Geht immer besser.

    Ich meine, geht es dir gut?

    Er sagt nichts.

    Geht es dir gut? Kann ich mich zu dir setzen?

    Ich spiele gerade. Es ist laut.

    Ich schaue auf die Poster über seinem Bett, auf den Heizkörper und die Gummistiefel daneben, auf seine rechte Hand, die über den Saiten schwebt, als würde sie unmittelbar vor dem Einsatz stehen.

    Du hast ein neues Plektrum, sage ich. Schwarz.

    Rot, sagt er und hält es mir entgegen.

    Schön.

    Er schaut mich an.

    Also, sage ich. Gute Nacht.

    Bis dann.

    Ich ziehe die Tür zu und bewege mich erst, als ich den Bruno die Treppe heraufkommen höre.

    Wenn es mich nicht gäbe, gäbe es dich auch nicht mehr; so sagt der Ludescher Bruno im Märchen vom entlaufenen Rösslein oft zu seinem Neffen, wenn Leute dabei sind. Beim Feierabendbier im Gasthaus oder in den Zigarettenpausen, wenn die Angestellten rauchend vor dem Garagentor stehen.

    Miko saß auf dem Beifahrersitz und wartete, während der Geruch von Pferdeäpfeln und Sägemehl durch das Fenster in den Wagen stieg. Der Onkel lehnte an einem Zaun vor dem Hauptgebäude des Pferdehofs und tippte mit der Lesebrille auf der Nase eine Nummer in sein Handy. Ein Glück, dass der Ludescher Bruno die Kinder von seinem Bruder zu sich genommen hat, die Arbeit im Umzugsgeschäft kann dem Michl nur guttun. So oder ähnlich redeten die Leute im Dorf. Wenn solche wie der sich langweilen, sind sie bald reif für die Klapsmühle, das hat man ja gesehen. Miko holte den kleinen, schimmernden Gegenstand aus seiner Hosentasche und drehte ihn im Licht. Fast schwarz sah er aus, so dunkel war das Rot. Flach und rundlich, wie die Schuppe von einem Fisch. Erst als er ihn zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand hielt, fiel ihm die Ähnlichkeit auf. Er testete das Material, es war gut, hart, aber biegsam. Als er den Onkel auf den Wagen zukommen sah, versteckte er das kleine Ding wieder in seiner Hosentasche und die Idee zum späteren Gebrauch in seinem Hinterkopf, wo sie ihm keiner nehmen konnte.

    Im Spiegel an der Innenseite der Schranktür kann ich meine Kleider auf dem Korbsessel sehen, die weiße Plastiklampe auf dem Nachttisch, daneben den Radiowecker, dessen rote Ziffern 22:08 zeigen. Ich löse meinen Pferdeschwanz und schaue zu, wie sich die strähnigen braunen Haare über meine Schultern legen. Unter den Blusen und leeren Kleiderbügeln im Schrank liegt mein Koffer, der gleichzeitig mein Wäschekorb ist und dessen Deckel immer offen steht. Im Seitenfach stecken eine Tube Handwaschmittel, mein Reisepass und ein Umschlag. Ich mache das Deckenlicht aus und stelle mich wieder vor den Spiegel. Im Schein der Nachttischlampe untersuche ich meinen Körper auf kleine Merkmale, in die sich jener Mann verlieben könnte, dem ich erzählt haben werde, mein Name sei Ariane. Ariane, würde er sagen, ich bin verliebt in die Muttermale unter deinem Bauchnabel. Ich bin verliebt in die rötlichen Flecken zwischen deinen Brüsten. Ich bin verliebt in deine kleinen weißen Füße. Ich knie mich hin, öffne das Seitenfach des Koffers und nehme den Umschlag heraus, dann schlüpfe ich in mein Nachthemd und setze mich auf die Bettkante. Auch ihre Füße sind klein und weiß auf den Fotos, und die Zehennägel rot. Ein ganzer Film für einen Nachmittag am Baggersee: sie mit Sonnenbrille auf einem blauen Badetuch, der Michl in Windeln auf seinem Holzkarren, der Vater mit einem verkohlten Stück Fleisch neben einer Thermoskanne im Gras, ich mit besorgtem Blick und einem Stofftaschentuch. Ich schiebe die Fotos zurück, da klopft es. Schnell verstaue ich den Umschlag wieder im Koffer und öffne die Tür einen Spaltbreit.

    Hallo, sagt der Michl. Kann ich reinkommen?

    Es ist spät.

    Er bleibt vor der Tür stehen. Eine Weile lang schauen wir uns schweigend an, dann senke ich den Blick, ziehe die Tür auf und mache ihm Platz.

    Kann ich das Licht anschalten?

    Was willst du?

    Er schaut mich an, schiebt die Hände in die Hosentaschen, schaut in meinen Kleiderschrank.

    Ist das dein Reisekoffer?

    Du solltest dir auch einen zulegen.

    Wieso?

    Weiß nicht. Willst du für immer hierbleiben?

    Er schüttelt den Kopf.

    Wenn ich übe, fragt er, hört man das in der Küche?

    Du könntest ein bisschen leiser drehen.

    Kann ich dich was fragen?

    Ich warte.

    Glaubst du, ich bin gut?

    Keine Ahnung, sage ich. Willst du nicht wieder Unterricht nehmen?

    Er zuckt die Schultern.

    Hier bei uns spielt niemand ein Instrument. Nur Hackbrett oder Blockflöte.

    Der Sohn vom Organisten spielt Keyboard, sage ich.

    Wir schweigen.

    Die Musiker wohnen in der Stadt. Er schaut wieder auf meinen Koffer. Einer muss singen können. Und wir müssten jemanden kennen, der Schlagzeug spielt.

    Noch mehr Krach, sage ich.

    Der Bruno würde mich auf den Dachboden sperren, sagt er und lacht. Einen Moment lang schaue ich ihn an, dann lache ich auch.

    Das neue Plektrum ist gut.

    Seit wann hast du das?

    Wieder zuckt er die Schultern.

    Gute Nacht.

    Gute Nacht.

    In dieser Nacht träume ich, dass mein Bruder Besuch von dem Drachen bekommt, wobei der Drache gleichzeitig eine Fee ist. Der Michl ist mehrere Jahre älter geworden und hat ein weißes, rüschenverziertes Hemd an, deswegen weiß ich, dass er aus einer reichen Familie kommt und etwas erben wird. Die Fee stellt ihm drei Fragen, und wenn er keine davon beantworten kann, dann muss er ihr einen Wunsch erfüllen. Wo willst du leben?, fragt sie. Der Michl bleibt stumm, er sitzt jetzt in eine Decke gewickelt auf seinem Bett und schaut zum Fenster hinaus. Was willst du machen? Wieder gibt er keine Antwort, er dreht nur den Kopf und schaut mich an. Wer willst du sein?, fragt die Fee. Mein Bruder presst die Lippen zusammen und verzieht den Mund zu einem puppenhaften Grinsen, dass mir mulmig zumute wird. Die Fee lacht, ihre Haut ist fast schwarz, als hätte sie ein glattes, dunkles Fell. Jetzt musst du tun, was ich dir auftrage, sagt sie. Nimm meine Siebenmeilenstiefel und geh in die Stadt. Ich habe dort eine Schuppe verloren, die sollst du finden und mir zurückbringen. In diesem Moment weiß ich, dass der Drache im Bett meines Bruders

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