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Nur im Dunkeln leuchten dir Sterne: Eine Erzählung für Suchende
Nur im Dunkeln leuchten dir Sterne: Eine Erzählung für Suchende
Nur im Dunkeln leuchten dir Sterne: Eine Erzählung für Suchende
eBook206 Seiten2 Stunden

Nur im Dunkeln leuchten dir Sterne: Eine Erzählung für Suchende

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Über dieses E-Book

"Stalter, du bist raus." Mit dieser WhatsApp-Nachricht beginnt für Stalter der unaufhaltsame Abstieg. Bis vor Kurzem war er noch der erfolgreiche Geschäftsmann mit Frau und Kindern und der Option auf ein schickes Haus in München-Solln. Jetzt ist die Ehe am Ende, seine Geschäftspartner haben ihn ausgebootet, die letzten Geldreserven sind aufgebraucht. Mit Hartz IV ist die Miete in München unbezahlbar, Stalter landet auf der Straße, wo ihn die harte Realität der Obdachlosigkeit mit voller Wucht trifft und er sich unter den Ausgestoßenen der Gesellschaft wiederfindet.

Beim "Sternenexpress", einer mobilen Obdachlosenhilfe, trifft Stalter auf die Märchenerzähler Vasile, Samir und einige andere Obdachlose. In ihren stimmungsvollen Geschichten aus ihrer Heimat geht es um Trauer und Verlust, um Liebe und Hoffnung, um die Suche nach dem Glück. Sie berühren Stalter tief und eröffnen ihm einen neuen Blick auf sein altes, von der Jagd nach Geld und Erfolg getriebenes Leben. Er erkennt die heilende Kraft der Märchen, erkennt, wie viel Lebensweisheit in ihnen steckt. Er beginnt, sie aufzuschreiben und an Passanten zu verteilen. So wird Amelie, eine Mitarbeiterin beim "Sternenexpress", auf ihn aufmerksam. Auch sie glaubt an den tiefen Sinn der Märchen und macht Stalter ein Geschäftsangebot – Stalters Chance, sich ein neues, erfülltes Leben aufzubauen. Die einfühlsame Entwicklungsgeschichte eines Mannes, der ganz tief fällt und sich wieder nach oben kämpft, verwoben mit alten Märchen aus verschiedenen Kulturkreisen.
SpracheDeutsch
HerausgeberEuropa Verlag
Erscheinungsdatum5. Juli 2019
ISBN9783958902831
Nur im Dunkeln leuchten dir Sterne: Eine Erzählung für Suchende

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    Buchvorschau

    Nur im Dunkeln leuchten dir Sterne - Felix Leibrock

    KAPITEL 1

    An manchen Tagen sind wir froh, wenn sie vorbei sind. Wir haben eine Prüfung vergeigt. Uns mit einem Nachbarn zerstritten. Oder einen Auffahrunfall verursacht. Endlich liegen wir im Bett, schließen die Augen. Aber wie schwarze Wolken über dem Atlantik ziehen uns Bilder entgegen, die uns am Einschlafen hindern. Hätte ich bei der Prüfung nur das andere Thema gewählt! Wäre ich nur dem Nachbarn aus dem Weg gegangen! Hätte ich nicht für diesen einen Sekundenbruchteil aufs Handy geschaut, als ich am Steuer meines Golfs saß! Wir sind in die Grübelfalle geraten. Gedanken, die unablässig wie Silberfischchen durch unseren Kopf wuseln.

    An meinem ersten Tag auf der Straße ist es genauso. Es ist der erste April, zugleich der Ostersonntag. Doch es ist kein Aprilscherz, sondern bitterer Ernst. Am Tag zuvor habe ich meine Siebensachen in den Reisekoffer gepackt, den vergammelten Teppich und das klapprige Badregal in den riesigen Rollcontainer der Wohnanlage geworfen und den Boden gewischt. Jetzt sehe ich ein letztes Mal in die nun leere Wohnung. Die Wände malern muss ich Gott sei Dank nicht, dazu wohne ich zu kurz hier. Ich gehe die vier Stockwerke die Treppen hinunter. Im Innenhof befördere ich auch den Schrubber und das feuchte Putztuch in den Container. Die Wohnungsschlüssel bringe ich zum Hausmeister.

    »Und nun, wohin des Weges?«, sagt er und kratzt sich am Hals. In seinen Augen sehe ich kleine Dolche blitzen. Im Hintergrund springen seine Enkelkinder mit Schokoladen-Osterhasen durch die Wohnung und schreien laut. Ich halte seinem Blick nicht stand. Stumm ziehe ich davon.

    Der Himmel ist seltsam farblos, unentschieden. Mich interessieren die Temperaturen, die in der Nacht zu erwarten sind. Ich schaue in die Wetter-App meines Handys. Noch bis Ende April läuft der Vertrag. Dann habe ich zwar noch ein Handy, aber keinen Anbieter mehr. Vielleicht wird mein Geld reichen, um mir bei einem Discounter eine billige Flatrate zu kaufen.

    Ich gehe zur Sparkasse, schiebe die EC-Karte in den Automaten. Auf meinem Konto sind sechshundertvierundzwanzig Euro und siebenunddreißig Cent. Das Hartz-IV-Geld ist am Tag zuvor eingegangen. Das muss für einen Monat reichen. Bald werde ich mich um eine Adresse bei einer sozialen Einrichtung bemühen, um für das Arbeitsamt erreichbar zu sein. Sonst ist auch diese finanzielle Unterstützung bedroht, ebenso wie der Erhalt meines Bankkontos, das an eine Adresse gebunden ist. Ohne Wohnsitz bist du in Deutschland am Arsch.

    Am Hauptbahnhof falle ich mit meinem schweren Touristenkoffer (der Gepäckstreifen vom Mallorca-Urlaub vor zwei Jahren klebt noch an der Trageschlaufe) und dem blauen Rucksack nicht weiter auf. Hoch unter der Bahnhofskuppel turteln zwei Tauben. Niemand interessiert sich für dieses Liebesspiel. Die Lautsprecherdurchsagen und das Rauschen und gelegentliche Quietschen der ein und aus fahrenden Züge vermischen sich zu einem Klangteppich. Ich starre auf eine Dachstrebe. Die leere Wohnung taucht vor meinem inneren Auge auf, dann Bilder aus früheren Urlauben, die Kinder beim Ponyreiten. Ich spüre, wie Gefühle von Schuld und Existenzangst in mir hochsteigen.

    Erst als die Tauben aus der Halle fliegen, nehme ich meine Umwelt wieder wahr. An einem Kiosk kaufe ich mir ein Roggensandwich mit Salami und Käse, dazu einen Liter Milch. Auf einer Bank an den Gleisen lasse ich mich zum Essen nieder. Ein Zug in Richtung Dortmund steht bereit. Nach und nach füllt er sich mit Reisenden. Niemand nimmt von mir Notiz, nicht einmal die Bundespolizisten, die an mir vorbeipatrouillieren.

    Warteraum, steht auf einem Wegweiser. Vielleicht kann ich dort meine erste Nacht verbringen, denke ich. Ich gehe in die Richtung, die das Schild weist. Oben, am Ende einer Rolltreppe, sehe ich durch eine Scheibe in den Warteraum. Darin sind hölzerne Bänke, kleine weiße Tische, die fest im Boden verankert sind.

    Aufenthalt nur mit einem gültigen Fahrausweis gestattet, lese ich auf einem Schild an der Eingangstür. Das klingt nach Konflikt. Tausende Obdachlose gibt es in der Stadt, und ich bin ein absoluter Anfänger, ein Novize des Lebens auf der Straße. Als ob man einfach so in einem Wartesaal im Bahnhof übernachten kann, das war wahrscheinlich ein lächerlicher Gedanke. Der Kapitalismus muss sich gegen seinen eigenen Auswurf schützen. In einer Zeitung habe ich gelesen, manche Filialisten großer Handelsketten in der Fußgängerzone hätten versteckte Wasserdüsen angebracht, die nachts alle halbe Stunde den Eingangsbereich wässern und so die Obdachlosen vertreiben.

    In meiner ersten Nacht will ich auf jeden Fall Konflikte vermeiden. Eigentlich bin ich sowieso ein eher konfliktscheuer Typ. Im Wartesaal des Bahnhofs will ich es nicht drauf ankommen lassen. Ich ziehe weiter.

    Draußen ist es dunkel geworden. Die Reihe der Taxis am Ausgang ist endlos. Kaum fährt eines davon, rückt am Ende der Schlange ein neues nach. Ich ziehe mit meinem Koffer durch die Straßen. Mein Ziel ist ein kleiner Park gleich hinter der Matthäuskirche beim Sendlinger Tor.

    Den habe ich mir ein paar Tage vorher schon mal angeschaut. Es gibt Bänke, keinen Zaun. Ein Obdachloser liegt eingemummelt in Decken auf einer dieser Bänke. Sein unregelmäßiges Schnarchen ist weithin zu hören. So merkwürdig es klingt, ich bin froh, ihn dort auf dieser Bank zu wissen. In Extremsituationen möchten wir nicht allein sein, auch wenn wir den anderen nicht kennen. Für mich ist es eine Extremsituation. Die ersten Stunden als Obdachloser liegen hinter mir. Jetzt kommt die Nacht. Ich sehe mich um. Die schwache Parkbeleuchtung gibt nur den Deckenberg zu erkennen, unter dem der Schnarcher liegt. Sonst ist niemand in diesem Park unterwegs.

    Ich öffne meinen Koffer und breite den zusammengerollten Schlafsack auf der Bank aus. Zwei Pullover knautsche ich als Kopfkissen zurecht. Den Koffer lege ich unter die Bank, den Rucksack neben meinen Kopf. Vorsichtshalber habe ich eine Schnur dabei, die ich am Koffer und an meinem linken Arm verknote. Falls jemand versucht, mir im Schlaf den Koffer zu stehlen, reißt mich die Schnur wach. Wer auf der Straße lebt, so befürchte ich, ist im Dauermodus des Bewachens. Das wenige, was man hat, ist immer bedroht. Diebe, Betrunkene, die Lust am Vandalismus haben – die Angst ist diffus, bei mir aber gerade jetzt, in dieser ersten Nacht, extrem stark. Der Gedanke, auch noch meine paar Klamotten, die Fotos von den Kindern, meine Behördenpapiere zu verlieren, macht mich fast wahnsinnig. Ich ruckele mich in den Schlafsack und schaue zum Sternenhimmel.

    Sterne haben schon vielen Menschen den Weg gewiesen. Mir sagen sie nichts. Nach einer Weile schließe ich die Augen. Ich spüre mein Herz schlagen. An Schlaf ist nicht zu denken. Die Silberfischchen im Kopf. Ich sehe Leon und Lisa vor mir. Sie sind aus dem Alter raus, in dem sie noch Ostereier suchen. Aber trotzdem bekommen sie von Sabine heute kleine Geschenke. Und Karl und Gerlinde sind sicher zu Besuch gekommen. Die Schwiegereltern, die mich von vornherein abgelehnt haben und mich jetzt vernichten wollen. Aus der Firma geflogen, pleite, nicht mal mehr in der Lage, eine Familie zu ernähren.

    Wahrscheinlich gibt es das große Osterlästern über mich, selbst vor den Kindern. Karl kennt da keine Rücksichten. Die Kinder sollen ruhig wissen, was für ein Hallodri ihr Vater ist. Ich hoffe auf Sabine, sie ist anders. Sanfter, nachgiebiger. Auch wenn sie enttäuscht von mir ist, würde sie vor den Kindern nicht schlecht über mich reden. Sie hätte auch die geschäftliche Pleite mit mir durchgestanden. Aber was sie mir nicht verzieh, war die Affäre mit dieser komischen Nadja. Das war auch so eine, die nur ihren Vorteil sah, mich ausnutzte. Aber ich war schwach. Nachdem Sabine Nadjas Briefe (sie schrieb mir welche mit der Hand) entdeckt hatte, gab es einen Bruch.

    Nadja war nur der Auslöser, schon seit einigen Jahren war mir und sicher auch Sabine klar, dass es nicht mehr stimmte zwischen uns beiden. Jetzt kann sie mir nicht mehr vertrauen, sagt Sabine. Ich glaube, sie schiebt das vor, zum Teil jedenfalls. Sie hat, nach reichlich Rotwein, Karl und Gerlinde von meiner Affäre erzählt. Die sahen die Chance gekommen, ihren blutleeren Ruhestand mit einem Mega-Thema zu füllen: die Rettung ihrer Tochter vor dem Nichtsnutz und Fremdgänger Stalter. Ein moralisches Hochamt, was sie da feierten. Der Krieg gegen mich war eröffnet, auch wenn ich alles unternahm, um ihm auszuweichen.

    Erst weit nach Mitternacht dämmere ich weg. Dann schrecke ich plötzlich hoch. Die Schnauze des Schäferhundes ist nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt. Er bellt fürchterlich. Nur eine straff gezogene Leine hält ihn ab, sich auf mich zu stürzen.

    KAPITEL 2

    Der Hundebesitzer, der eine filterlose Zigarette in der Hand hält und einen lila Kapuzenpullover trägt, murmelt ein »Dertutnix« und zieht weiter. An Einschlafen ist jetzt nicht mehr zu denken. Ich brauche eine andere Schlafstätte, die nicht so zentral gelegen und wo nicht jederzeit mit Publikumsverkehr zu rechnen ist.

    Ich erhebe mich, während es zu dämmern beginnt. Wie eine Figur aus der Augsburger Puppenkiste bewege ich mich langsam und ungelenk, um meinem Körper ein paar koordinierte Bewegungen abzuringen. Irgendetwas registriere ich positiv, ohne in diesem Augenblick klar zu wissen, was. Auf meinem Handy drücke ich die Selfie-funktion, um mich anzuschauen. Graue Bartstoppeln sprießen aus meinen leicht eingefallenen Wangen und am Kinn hervor. Unter den Augen zeichnen sich ein Netz von Fältchen und dunkle Furchen ab. Bin ich schon durch diese eine Nacht gealtert? Manchmal schauen wir in den Spiegel und haben das Gefühl, schlagartig um Jahre gealtert zu sein. Heute ist für mich so ein Tag. Ich überlege, ob ich zum Hauptbahnhof gehe, um zu duschen. Am Vortag habe ich gesehen, dass das dort sieben Euro kostet. Viel zu teuer angesichts meiner Finanzlage. Ich brauche eine preiswertere Variante. Auch muss ich mich an den Gedanken gewöhnen, nicht mehr wie die letzten Jahrzehnte fast täglich zu duschen. Als ich mein Handy öffne, um eine Duschgelegenheit zu googeln, sehe ich zu meinem Schrecken den Ladezustand, der auf zehn Prozent abgerutscht ist.

    Im Familienchat ist eine Nachricht angezeigt. Sie ist am Abend zuvor eingegangen.

    Frohe Ostern, Papa. Wo bist du? Was machst du?

    LG Leon und Lisa

    Als Erstes muss ich einen Weg finden, das Handy aufzuladen. Ich gehe zum Burger King in der Sonnenstraße, der aber noch geschlossen ist. Ob es dort ungeschützte Steckdosen zum Aufladen gibt, ist ohnehin ungewiss. Bei Google finde ich den Hinweis auf Sankt Bonifaz. In dem Benediktinerkloster nahe dem Königsplatz ist es Obdachlosen möglich, sich zu duschen. Auch etwas zum Essen steht dort bereit. Ich mache mich auf den Weg. Duschen, das Handy aufladen, was essen, dann werde ich den Kindern etwas länger schreiben.

    Wenn wir ziellos vor uns hin leben, drohen wir uns zu verlieren, ins Beliebige zu verfallen. Wie eine im Meer treibende Plastikflasche werden wir hin und her geworfen. Darum ist es wichtig, dem Tag eine Struktur zu geben. Erst tue ich dies, dann das, dann jenes.

    Als ich an Sankt Bonifaz ankomme, ist die Tür verschlossen: Ostermontag, erst am nächsten Morgen ist Duschen möglich. Aus der Kirche strömen einige Gottesdienstbesucher. Ein älterer Mann mit hellbrauner Hornbrille sieht mich zusammengekauert seitlich auf den Kirchenstufen sitzen und schiebt mir mit reglosem Gesicht einen Zehneuroschein zu. Ich nicke, murmele ein »Danke« und schäme mich abgrundtief. Ich frage mich, ob ich nach einer Nacht im Freien auf Menschen mit einem geregelten Leben schon wie ein Bettler wirke.

    Der Akku meines Handys ist inzwischen leer. Ich werde den Kindern erst morgen schreiben können, falls dann in Sankt Bonifaz das Aufladen möglich ist.

    Mit Koffer und Rucksack stapfe ich wieder zum Hauptbahnhof und beobachte die Reisenden. Viele, die über Ostern Verwandte besucht haben, fahren jetzt wieder in ihre Orte zurück. Diese Familienleute leben in ihrer Welt, und ich lebe in einer neuen Welt, die gar keine Welt ist. Oder besser: eine Unwelt. Eine Unwelt des Überlebens, eine Existenz mit den Elementarzielen Essen, Trinken, Waschen, Aufwärmen, Handyaufladen. Eine Unwelt, weil sie keinen höheren Zweck, keine über das blanke Überleben hinausgehenden Ziele kennt. Eine Unwelt ohne Lachen, Hoffen und freudigem Erwarten. Einfach nur die Stunden fristen, die Tage herunterleben, bis es dann hoffentlich irgendwann vorbei ist. So blicke ich in die Zukunft und merke, wie eine unsichtbare Kraft mich in meinem Inneren nach unten zieht. Stiche im Herzen, mein Kopf wiegt zehn Tonnen.

    Am Mittag verzehre ich einen Döner. Den Rest des Tages lege ich mich auf eine Bank hinter der Glyptothek und sehe in den grauen Himmel. Eine Wolkendecke wie ein verwaschenes farbloses Bettlaken. Nach einer Stunde Sinnieren fällt mir ein, was mich in der Morgendämmerung positiv berührt hat: das Vogelgezwitscher. Der vielstimmige Frühlingschor, wie er aus den Hecken und Sträuchern an der Matthäuskirche hervorgestiegen ist. In den noblen Büroräumen in der Nymphenburger Straße, die ich mir mit Galkowski und Kleinert geteilt habe, habe ich mich oft bis in die Morgenstunden aufgehalten. Gut möglich, dass beim Verlassen des Büros irgendwo auch Vögel zu hören waren. Aber meine Gedanken spazierten auch beim Verlassen des Büros durch offene Kundenrechnungen, Kreditraten und Mahnbescheide. Die Natur existierte für mich nicht.

    In trostlosen Lagen brauchen wir kleine Freuden, Dinge, die wir im Alltagsgetriebe übersehen, überhören oder als selbstverständlich erachten. Ich nehme mir vor, mich beim nächsten Einschlafen auf den Gesang der Vögel im Morgengrauen zu freuen.

    Trotz gerade erfolgter Umstellung auf die Sommerzeit fällt die Dunkelheit schnell wie ein Theatervorhang über den Königsplatz. Es beginnt zu nieseln. Ich flüchte mich zur Technischen Universität, unter das Vordach der Mensa. Die Straße ist fast menschenleer. Nur ein paar Studierende mit asiatischen Gesichtszügen parken ihre Fahrräder vor der gegenüberliegenden Musikhochschule und tragen ihre Instrumentenkoffer wie eine Monstranz vor sich her. Ich setze mich auf den Boden und starre in die Regenpfützen auf der Straße. Die Nacht werde ich auf einer der Bänke hinter der Glyptothek verbringen. Nicht nur weil Ostern ist, habe ich mir eine Flasche bulgarischen Rotweinfusel am Bahnhof gekauft, an der ich jetzt nippe und warte, bis ich richtig müde bin und der Regen aufhört.

    Kurz vor zweiundzwanzig Uhr fährt ein dunkelblauer Bus mit der Aufschrift Sternenexpress an der Mensa vor. Ein junger Mann mit Flaumbart und eine Frau um die vierzig mit offenem lockigem Haar, ebenen, nur von einer beiläufigen Falte über der Nasenwurzel durchbrochenen Gesichtszügen wuchten einen großen Stahlbehälter aus

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