Halbwelten
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Über dieses E-Book
Ein Pandämonium von Gier und Vernichtungswillen und doch nur Resultat unseres unerfüllten Alltags. Werdenberg streift durch eine ihm vertraute Welt voller Mord, Totschlag und Suizid, Unglücksfälle eingeschlossen, und bleibt doch gut gelaunt: Geschichten mit erstaunlichem Ausgang.
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Buchvorschau
Halbwelten - Melchior Werdenberg
ICH BIN SO GUT WIE TOT
Das erste Swiss Finance Forum im Hotel Bellevue in Bern war ein Desaster. Eigentlich war ich gekommen, um dem Chef der Banque Suisse zuzuhören; die größte Buße aller Zeiten für ein Schweizer Institut stand bevor. Nur hatte ich die ganze Nacht mit dem kleinen Kerl mit der roten Kapuze zu tun gehabt. Als ich ihn endlich in hohem Bogen weit in die Aare hinuntergekickt hatte – ich war im zweiten Stock untergebracht worden und das Hotel steht auf einer Schanze –, da brach gerade der Morgen an.
Die Tagung war ausgebucht. Im großen Saal standen die Stühle so dicht, dass ich das Gefühl hatte, gleich werde mir noch jemand auf den Schoß gesetzt. Die Luft war stickig. Eine gute Seele hatte einen großen Ventilator aufgestellt, der von einer halb offenen Tür an der Rückseite etwas Frischluft zuführte. Ich saß ziemlich weit hinten und konnte mir ausrechnen, wie ich nach ein paar Stunden mit einer Nackenstarre enden würde. Auf dem Podest wurden vor allem Durchhalteparolen proklamiert. Der Finanzplatz hat eine Zukunft, die Dienstleistungsqualität muss hochgehalten werden. Wir müssen besser sein als die anderen. Sicher. Es gelang mir nicht, den Gedankengängen der Referenten ernsthaft zu folgen. Ich entschloss mich zur vorzeitigen Rückkehr nach Zürich. In Bern gehen die Uhren anders, aber der Zug aus Genf fährt trotzdem rechtzeitig ein. Gerade als die Lokomotive auf meiner Höhe ist, gerate ich ins Stolpern. Ich sehe mich schon auf den Zug knallen, Fleisch vom Knochen getrennt, da reißt mich ein kräftiger Bursche am Riemen meiner umgehängten Ledertasche zurück. Der Schock lähmt mich, meine Knie zittern. Ein Lautsprecher in meinem Kopf scheppert »Kollision mit Personenschaden«; dabei ist das ganz knapp nicht passiert. Ich bin froh, dass mich der junge Mann noch etwas am Arm hält, während der Zug immer langsamer wird und zum Halten kommt. Vielleicht denkt er, ich sei betrunken, mitten am Tag. Auch ich muss mich fragen, warum ich gestolpert bin. Winkelried, wer hat dich gestoßen? Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie links hinten die rote Kapuze auf dem Treppenabgang zu den Passagen verschwindet.
Als ich eine Stunde später in Zürich den Zug verlasse, scheint es mir für einen Moment, als sei einige Wagen weiter hinten etwas Rotes ausgestiegen. Ich mache ein paar Schritte Richtung Zugende, doch ich kann nichts entdecken. Übermüdet bin ich, bin ich auch überreizt?
Meine Kanzlei ist nicht weit vom Bahnhof entfernt. Zu Fuß gehe ich die fünf Minuten bis zur Garage gegenüber. Eine breite Ein- und Ausfahrt führt ins Untergeschoss zu den Autos. Auf der linken Mauer sitzen Jugendliche. Sie lassen die Beine baumeln, halten Bierdosen in der Hand und grölen zu mir hinunter: »He Kolleg, chunnsch vom Schaffe?!«
Schnell weg, sonst droht mir noch eine Bierdusche. Ich öffne mit dem Schlüssel das automatische Garagentor, und sofort schlägt mir ein intensiver Benzingeruch entgegen. Eine schlimme Ahnung überkommt mich: Mein Kopf verarbeitet eine Explosion, das Auto fliegt buchstäblich in Stücke, nur der brennende Fahrer sitzt wie gefesselt hinter dem Steuer, einer Fackel gleich.
Ich beschließe, das Auto keinesfalls zu starten, sondern unberührt stehen zu lassen. Meine Entscheidung scheint den Jungen auf der Mauer nicht zu gefallen. Als ich die Ausfahrt wieder hochgehe, blicken sie etwas enttäuscht auf mich hinunter, als sei ihnen ein versprochenes Spektakel vorenthalten worden. Und jetzt täusche ich mich nicht: Hinten, in der zweiten Reihe, sehe ich für einen Moment die rote Kapuze. Ich beschleunige meine Schritte, will schnell weg von hier und bin froh, dass auf dem Standplatz gleich in der Nähe ein freies Taxi wartet.
Als ich nach Hause komme, sitzt die rote Kapuze im Wohnzimmer und spielt mit meinen Kindern. Von meiner Anwesenheit nehmen sie kaum Notiz. Der Kapuzenmann hat Karten ausgelegt, und gebannt beobachten sie, wie er mit flinken Händen Karten aufdeckt, sie wieder mit den anderen Karten vermischt und erneut – zum Verzücken der Kinder – aus einem ganz anderen Stapel oder aus den Tiefen seines Gewandes hervorzaubert.
»Wie kam der hier herein?«, frage ich meine Frau. Sie ist etwas verwundert über meine ungehaltene Art. Es ist nicht gerade das charmanteste Begrüßungsszenario, das sich eine Hausfrau von ihrem öfter geschäftlich verreisten Ehemann bei der Heimkehr erhofft.
Schnippisch meint sie: »Was willst du, der versteht sich mit den Kindern. Er hat gesagt, er sei dein Freund, der dir all die Ideen für deine Geschichten geliefert habe.«
Ich lache hohl: »Denkst du, der sitzt in meinem Kopf?« Meine Frau schaut leicht befremdet, mein Grinsen ist nicht sehr vertrauenserweckend. »Ja, dort saß er die ganze verdammte Nacht lang, aber ich habe ihn in der Aare versenkt, mit einem Riesenkick«, sage ich zu ihr und will mich den Kindern zuwenden, will mich auf den Kapuzenmann stürzen, aber der ist plötzlich verschwunden.
Für den Moment muss ich mich geschlagen geben. Die schlaflose Nacht im Bellevue, die Todesnähe auf dem Perron, mein Kopf, meine Beine, alles verlangt nach Ruhe.
Auf dem Weg zum Schlafzimmer lässt mich ein plötzlich aufkommendes Gefühl an die Giftschlangen des Nachbarn denken. Vorsichtig nähere ich mich meinem Bett. Tatsächlich, jetzt liegt eines dieser kleinen, schwarzen, aalglatten Dinger unter meinem Kopfkissen. Keine Frage, dass der Nachbar, mit Handschuh und Schlangenstock bewehrt, seinen Liebling umgehend holen kommt. Er hat Angst vor einer Anzeige und kann sich nicht erklären, wie die Schlange aus dem verschlossenen Behältnis entfliehen konnte.
Ich sehne mich nach Schlaf, doch der lässt sich Zeit. Mit der rechten Hand greife ich unter das Kopfkissen. Es fühlt sich immer noch kühl an, als hätte die Schlange ihre Brut hingelegt. Ich sehe hundert kleine schwarze Schlangen züngeln. Sie stecken in meinem Kopf, durchdringen die Hirnrinde, suhlen sich in der schlabbernden Masse. Ich lasse sie einen Schlangentanz aufführen, dann beginne ich sie zu verknoten. Zuerst kleine Achterschlingen, dann Weberknoten, bis es mir zu viel wird. Ich knülle sie alle zu einem Knäuel zusammen, und den spucke ich aus. Der Knäuel wird zum blutroten Klumpen. Aus dem Klumpen entsteht der Kapuzenmann, sitzt auf dem Bett, schüttelt bedächtig sein bedecktes Haupt.
»Melchior, du hättest nicht zurückblicken sollen, jetzt sitzt dir der Tod im Nacken. Besiegen kannst du ihn nicht, aber beschäftige dich mit ihm. Deine Angst wird mit jeder Geschichte, die du erfindest, kleiner werden, vorausgesetzt, du lässt ihn mitspielen, den Tod, in all deinen Geschichten.«
FLORIAN
Er fiel aus der Reihe. Als er zugeführt wurde, trug er einen weißen Pullover und helle Jeans. Alles erkennbar nicht mehr ganz sauber, aber doch noch relativ neu und ungewohnt für einen aus der Szene. Auch sein Pilzkopf war auffällig, erinnerte an die Anfänge des Pop, passte aber nicht in diese Stadt.
Er hatte etwas Pech; zwei Monate früher, und man hätte ihn zum Jugendanwalt gebracht. Jetzt stand er unter Erwachsenenrecht. Aufgegriffen hatten ihn die Betäubungsmittelfahnder der Stadtpolizei. Sie hatten ihn beim Dealen beobachtet, und prompt kamen bei der Leibesvisitation auf der Straße ein paar abgepackte Minibriefe Heroin zum Vorschein. Nicht besonders originell hatte er sie in seiner Unterhose versteckt.
Florian hatte zu Hause einmal ein Mofa geklaut, öfters Marihuana geraucht, die Lehre abgebrochen. Vor zwei Wochen hatte er es in seiner Bergwelt nicht mehr