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Anwalt des Teufels: Der Fall Jürgen Bartsch
Anwalt des Teufels: Der Fall Jürgen Bartsch
Anwalt des Teufels: Der Fall Jürgen Bartsch
eBook262 Seiten2 Stunden

Anwalt des Teufels: Der Fall Jürgen Bartsch

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Über dieses E-Book

Der umstrittene Fall des Jürgen Bartsch
In den Jahren 1962 bis 1966 missbraucht, verstümmelt und tötet der Metzgergeselle Jürgen Bartsch vier kleine Jungen. Bartsch ist erst 15, als er zum ersten Mal auf grausamste Weise mordet. Zunächst zu fünfmal lebenslänglich Zuchthaus verurteilt, wird er nach einem zweiten Prozess jedoch in eine Heilanstalt eingewiesen, wo er 1976 während einer Operation stirbt.
Ist der Täter auch selbst Opfer? Anhand von Polizei-, Gerichts- und Presseberichten, psychiatrischen Gutachten und Zeugenaussagen wird detailgetreu nachgezeichnet, warum zwei Prozesse zu völlig unterschiedlichen Urteilen gelangen. Im Vordergrund der Darstellung steht das juristische Geschehen im Gerichtssaal. Daneben geht die Autorin Nicolette Bohn ausführlich auf Bartschs ungewöhnliche Kindheit und Jugend ein.
Erstmals äußert sich der ehemalige Jugendgerichtshelfer Dietrich Wilke in der Öffentlichkeit über seine Arbeit mit dem Serienmörder.
Die packende Darstellung regt dazu an, über die Themen "Schuld und Sühne" sowie "Opfer und Täter" nachzudenken.
SpracheDeutsch
HerausgeberMilitzke Verlag
Erscheinungsdatum30. Okt. 2013
ISBN9783861899624
Anwalt des Teufels: Der Fall Jürgen Bartsch

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    Buchvorschau

    Anwalt des Teufels - Nicolette Bohn

    .

    In Gedenken an die verstorbenen Kinder und ihre Familien:

    † Klaus Jung (31. März 1962)

    † Peter Fuchs (5. August 1965)

    † Ulrich Kahlweiß (14. August 1965)

    † Manfred Graßmann (8. Mai 1966)

    .

    Kinder werden nicht

    erst zu Menschen

    Sie sind es heute schon.

    Ja!

    Sie sind Menschen,

    keine Puppen

    (Janusz Korczak)

    Prolog

    Ein junger Mann und ein kleiner Junge gehen durch die verwinkelten Gänge eines ehemaligen Luftschutzbunkers. Die Kerze, die der junge Mann in der Hand hält, verbreitet einen dämmrigen Schein.

    »Romantisch, nicht wahr?«, fragt der junge Mann und blickt den kleinen Jungen an.

    Der kleine Junge zuckt die Achseln: »Hmm.«

    Mit dem Wort Romantik verbindet er keine Vorstellung. Die Kerze erinnert ihn daran, dass er bald Geburtstag hat. In ein paar Tagen wird er endlich neun. Dann bekommt er die Fußballschuhe, die sein Vater ihm versprochen hat.

    Sie stolpern weiter über Schotter und Geröll.

    »Wann sind wir denn endlich da?«, fragt der kleine Junge ungeduldig.

    Der fremde Mann, den er vor ein paar Stunden auf dem Kirmesplatz kennen gelernt hat, hat ihm versprochen, dass sie in der Höhle gemeinsam einen Schatz suchen wollen.

    »Es dauert nicht mehr lange und wir sind am Ziel.«

    Die Stimme des jungen Mannes klingt ruhig und freundlich. Der kleine Junge greift vertrauensvoll nach seiner Hand.

    »Das ist aber finster hier!«

    »Du brauchst keine Angst zu haben«, spricht der junge Mann beruhigend auf ihn ein. »Wir sind gleich am Ziel.«

    »Sind Sie wirklich ein Polizist?«, fragt der kleine Junge interessiert.

    »Aber natürlich bin ich ein Polizist.« Die Stimme des jungen Mannes klingt ebenso ruhig und sicher wie die eines Erwachsenen.

    »Haben Sie auch eine richtige Pistole? Kann man damit schießen?«

    »Natürlich. Willst du die Pistole einmal sehen?«

    »Oh ja, bitte!« Der kleine Junge nickt eifrig.

    »Sie liegt dort hinten. Hinter der kleinen Mauer.« Der junge Mann zeigt auf die Überreste einer Steinmauer am Ende des langen Ganges.

    »Wir sind jetzt am Ziel.«

    Der junge Mann stellt die halb heruntergebrannte Kerze auf die Mauer.

    »Mensch! Eine richtige Pistole«, ruft der kleine Junge begeistert. »Ich hab doch gewusst, dass Sie mich nicht beschwindeln.«

    »Warum sollte ich dich beschwindeln? Ich bin doch dein Freund. Du kannst übrigens ruhig du zu mir sagen.«

    Der kleine Junge nickt und betrachtet andächtig die Pistole mit dem glänzenden Metallknauf, die der junge Mann in der Hand hält. Er hat sich schon immer einen Polizisten mit einer richtigen Pistole zum Freund gewünscht. Heute scheint sein Glückstag zu sein.

    »Wo ist denn nun der Schatz?«

    »Hinter der Mauer«, sagt der junge Mann. »Komm her und hol ihn dir!«

    Die Kerze erlischt mit einem leisen Zischen.

    Dunkelheit.

    Dann – ein lauter, gellender Schrei: »Mama … Mama, ich habe Angst!«

    Totenstille.

    Draußen, auf dem Felsgestein vor dem Eingang des Luftschutz­bunkers blühen Orchideen und Hyazinthen. Bienen summen.

    Es ist der 31. März 1962.

    Frühlingsanfang.

    Opfer

    Jugendamt Mettmann. 25. Juni 1967

    Die Hitze war mörderisch. Seit Tagen hatte es nicht mehr geregnet. Die Fenster der Dienststelle Süd waren weit geöffnet. Dietrich Wilke saß hemdsärmelig vor seinem Schreibtisch. Ihm gegenüber, auf einem Stuhl, saß ein 14-jähriger Jugendlicher mit verstrubbeltem Haar. Er hing mehr als dass er saß, und seine Haltung signalisierte Wilke eine spürbare Abwehr gegen das FrageAntwort-Spiel.

    »Kann ich jetzt meine Kippe haben?«, fragte der Jugendliche und in seiner Stimme schwang ein trotziger Unterton mit.

    »Nein, Wilfried«, sagte Wilke. »Ich dachte, das Thema sei ein für alle Mal durch.«

    »Sie qualmen doch schließlich auch wie ein Schlot. Und Sie haben selbst gesagt, dass Sie ein gutes Vorbild für mich sein wollen. Also müssen Sie mich rauchen lassen, oder etwa nicht?«

    Er blickte Wilke offen ins Gesicht und sagte dann: »Sonst sind Sie nämlich kein richtiges Vorbild.«

    »Kein Zweifel«, dachte Wilke. Dieser Jugendliche hatte ein untrügliches Gespür für die Stärken und Schwächen anderer Menschen, die er schamlos zu seinen Zwecken auszubeuten wusste.

    »Wenn du mir sagst, was an jenem Nachmittag wirklich passiert ist …«

    »Darf ich dann endlich eine Kippe rauchen?«

    Wilke schob die Zigarettenschachtel in die Mitte des Tisches. Dann lehnte er sich mit diplomatischem Gesichtsausdruck in seinem Schreibtischstuhl zurück und faltete die Hände über der Brust.

    Wilfried fingerte eine Zigarette aus der Schachtel und steckte sie genießerisch zwischen die Lippen.

    »Feuer bitte!«, triumphierte Wilfried.

    Wilke griff zum Feuerzeug.

    »Verdammt«, dachte er. Der Böhme wird mir den Kopf abreißen, wenn er das hier erfährt. Der Amtsleiter konnte Wilkes pädagogisches Engagement ohnehin nur schwer nachvollziehen. Er machte keinen Hehl daraus, dass er den jüngeren Kollegen für einen verträumten Spinner hielt, der noch nicht gemerkt hatte, nach welchen Gesetzen die Welt wirklich funktionierte.

    »Also, noch mal von vorn … Ihr seid durch die Hohe Straße gezogen und da kam diese Frau mit der Handtasche vorüber …«

    »Das habe ich Ihnen doch jetzt schon dreimal erzählt!«, knurrte Willi missmutig.

    »Willi, wir haben ein Abkommen. Ich behandele dich wie einen Erwachsenen, also kann ich von dir auch erwarten, dass du dich wie einer benimmst.«

    Wilfried verdrehte die Augen. Er sog kräftig an der Zigarette. Dann sagte er: »Wir sind durch die Hohe Straße gezogen. Da kam diese Frau vorbei und plötzlich kam Thorsten auf die Idee mit dem Raubüberfall. Wir wollten ihn ja noch hindern, aber er … er hat sich nicht hindern lassen, und ehe wir Piep sagen konnten, hatte er der Frau auch schon die Tasche entrissen. Wir sind dann nur noch weggerannt …«

    »Warum hast du denn die Schuld auf dich genommen, um Gottes willen? Du hast die Tat bei der Polizei gestanden.«

    Wilke konnte wieder einmal nicht verbergen, dass er innerlich um seine Fassung rang. »Menschenskinder … Willi«, fragte er leise aber eindringlich. »Warum um alles in der Welt stehst du für eine Straftat gerade, die du überhaupt nicht begangen hast?«

    »Na … Thorsten ist doch mein bester Kumpel … und ich verrate nun einmal keine Kumpel!« Wilfried schob die Unterlippe vor und drückte die Reste der Kippe im Aschenbecher aus. »Und wissen Sie auch warum?«, fügte er nach einer Weile hinzu. »Weil ich kein elendes Verräterschwein bin. Deshalb!«

    »Willi, wenn jemand einen Handtaschenraub begeht, dann hat das nichts mehr mit Verrat zu tun«, sagte Wilke. »Was denkst du denn, was wir hier spielen? Katz und Maus? Für dich ist das Ganze wohl ein lustiges Spiel, was?«

    »Kann ich jetzt gehen?«, fragte Wilfried und seine Stimme klang gelangweilt.

    Wilke nickte ergeben.

    »Ja, Willi. Du kannst jetzt gehen.«

    Nachdem Wilfried gegangen war, nahm Wilke das Diktiergerät zur Hand und begann mit seinen Aufzeichnungen. Während er sprach, versuchte er Ordnung in seine aufgewühlten Gedanken zu bringen.

    »25. Juni 1967. Heute war der 14-jährige Wilfried J. in meiner Dienststelle. Er sagte, dass der 19-jährige Thorsten B. in Wahrheit den Handtaschenraub in der Wuppertaler Innenstadt verübt hat. Der Polizei gegenüber hat Wilfried sich selbst als Täter bezichtigt. Erklärbar ist ein solches Verhalten sicher damit, dass Wilfried bei seiner allein erziehenden Mutter lebt und in Thorsten so etwas wie ein männliches Vorbild gefunden hat, das er stark idealisiert. Trotz seiner vierzehn Jahre ist Wilfried noch sehr unreif und nicht in der Lage, das juristische Ausmaß seines Handelns in vollem Umfang zu verstehen. Begriffe wie Kameradschaft und Zusammenhalt stellen für seine kindliche Gefühlswelt Orientierungswerte dar. Unterbringung in einem Städtischen Jugendheim ist anzuordnen. Die Mutter scheint mit der Pubertät des Sohnes heillos überfordert zu sein. Der Junge braucht dringend positive Leitbilder für eine geordnete Lebensgestaltung …«

    Wilke unterbrach seine Ausführungen für einen Moment, als es an der Tür klopfte und Amtsleiter Böhme das Büro betrat.

    »Dieser Bürokratenfuzzi hat mir gerade noch gefehlt«, dachte Wilke und spürte eine leichte Gereiztheit in sich aufsteigen. Der Amtsleiter trug trotz der Affenhitze eine Krawatte und einen grauen Flanellanzug. Wilke war überzeugt davon, dass Böhme diesen Anzug auch beim Schlafengehen anbehielt. Er hatte ihn in den drei Jahren, in denen er nun schon in der Behörde arbeitete, noch nie ohne diese Kleidungsstücke gesehen. Mit diesem Verhalten war Böhme Wilkes Vater sehr ähnlich. Wilke konnte sich nur an wenige Tage erinnern, an denen er seinen Vater ohne Anzug und Krawatte gesehen hatte. Selbst auf dem Totenbett hatte er ausgesehen wie ein Bankdirektor. Wilke hatte als Junge stets geglaubt, dass sein Vater bereits mit einem Anzug und einer Krawatte auf die Welt gekommen sei. Eine andere Möglichkeit kam damals für ihn überhaupt nicht in Betracht.

    »Herr Wilke, ich möchte, dass Sie sich diese Unterlagen einmal ansehen.« Böhme schob Wilke eine blaue Akte auf den Schreibtisch.

    »Wahrscheinlich wieder so ein komplizierter Fall«, dachte Wilke. Aber schlimmer als mit diesem Wilfried J. konnte es nun wirklich kaum noch kommen. Dieser 14-Jährige hatte eine psychologische Kompliziertheit, wie Wilke sie selten bei einem Jugendlichen erlebt hatte.

    »Es ist ziemlich dringend«, sagte Böhme und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Je eher Sie damit beginnen, desto besser.«

    »Ja. Das kann ich machen.« Wilke nickte.

    »Wie kommen Sie übrigens mit diesem Handtaschenräuber zurecht?«, fragte Böhme.

    »Danke der Nachfrage. Aber Wilfried ist unschuldig.«

    »Ach.« Böhme musterte Wilke, als sähe er ihn zum ersten Mal.

    »So, so. Unschuldig. Aber er hat die Tat doch gestanden.«

    »Er hat die Schuld auf sich genommen, weil er sein Vorbild in Schutz nehmen wollte. Aus entwicklungspsychologischer Sicht ist das durchaus verständlich. Willi zeigt ein sehr ausgeprägtes Peer-group-Verhalten. Er orientiert sich hierbei allerdings an den falschen Vorbildern. Ich glaube, dass Wilfried der Vater fehlt.«

    »So, so. Sie glauben also, dass Wilfried der Vater fehlt …«

    Böhme lächelte derart milde, dass Wilke sich vorkam wie ein Kind, das etwas reichlich Dummes gesagt hatte.

    »Glauben Sie ernsthaft, dass Wilfried seinen Vater braucht?«

    »Ja. Das glaube ich. Was um alles in der Welt ist denn daran so komisch?«

    »Nichts«, sagte Böhme. Dann drehte er sich um und ging davon.

    »Bürokratenfuzzi«, dachte Wilke. Er öffnete die blaue Akte und vertiefte sich in das Geschriebene.

    Der Kirmesmörder

    Wilke stürmte ohne anzuklopfen in Böhmes Büro. Er knallte die blaue Akte auf den Schreibtisch.

    »Sagen Sie mal, soll das ein Witz sein?«, fragte er laut und musterte Böhme mit fassungslosem Gesichtsausdruck. »Ich soll den Kirmesmörder begutachten? Das kann doch unmöglich Ihr Ernst sein!«

    »Ich kann Ihre Aufregung verstehen, Wilke«, sagte Böhme und fügte hinzu: »Es handelt sich lediglich um eine Formalität. Mehr nicht. Niemand verlangt von Ihnen den üblichen idealistischen Eifer. Ganz davon abgesehen ist dieser Bestie ohnehin nicht mehr zu helfen.«

    Wilke schüttelte energisch den Kopf.

    »Das hat in meinen Augen nichts mehr mit der Jugendgerichtshilfe zu tun. Was dieser Mensch angerichtet hat, übersteigt meiner Meinung nach die Grenzen meiner beruflichen Tätigkeit. Dafür will ich nicht zuständig sein.«

    Wilke ging unruhig in Böhmes Büro auf und ab. Sein Blick blieb an einem Foto auf der Anrichte hängen, das Böhme mit seiner Frau und dem 20-jährigen Sohn während eines Segeltörns zeigte. Böhme lächelte in die Kamera, während die blonden Haare seiner Frau in alle Himmelsrichtungen davon wehten.

    »Ich werde diesen Fall ablehnen«, sagte Wilke im Brustton der Überzeugung.

    »Jetzt setzen Sie sich doch erst mal hin, Wilke«, lenkte Böhme in ruhigem Tonfall ein. Wilke nahm vor dem wuchtigen, eichenhölzernen Schreibtisch Platz und begann unruhig, an seinen Fingernägeln zu kauen.

    »Sie können diesen Fall nicht ablehnen«, sagte Böhme in jenem strengen Ton, den Wilke am allerwenigsten an ihm mochte. Vielleicht, weil sein Vater zu Lebzeiten einen ähnlichen Tonfall bevorzugt hatte, wenn er Wilke und seinen jüngeren Bruder zusammenstauchte.

    Wilke nahm die Finger aus dem Mund und brüllte: »Oh doch! Das kann ich, Herr Böhme. Immerhin hab ich selbst zwei Kinder. Ist Ihnen eigentlich klar, was Sie da von mir verlangen?«

    »Lieber Herr Wilke, ich kann Sie in dieser Sache wirklich verstehen. Aber seien Sie um Himmels willen nicht so naiv. Sie können diesen Fall nicht ablehnen. Es ist schließlich nicht Ihre Privatangelegenheit. Sie handeln im Auftrag des Jugendamtes. Der Paragraf 105 des Jugendgerichtsgesetzes besagt: ›Begeht ein Heranwachsen­der, das heißt ein Mensch zwischen 18 und 21 Jahren, eine Verfehlung, die nach den allgemeinen Vorschriften mit Strafe bedroht ist, so wendet der Richter die für einen Jugendlichen geltenden Vorschriften an, wenn die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergibt, dass er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand.‹«

    »Das werden wir ja erstmal sehen«, antwortete Wilke energisch.

    Keine Macht der Welt konnte von ihm verlangen, dass er diese Aufgabe übernahm. Jemand, der solche Taten beging, war in seinen Augen kein Mensch mehr, geschweige denn ein Jugendlicher. Er hatte jedes Recht verwirkt, als solcher bezeichnet zu werden. Und außerdem – so dachte er – konnte das Jugendamt einem Klienten, der so etwas Furchtbares getan hatte, ohnehin nicht mehr helfen. Das war ein Fall für die Richter, für die Polizei und für die Staatsanwaltschaft.

    »Herr Böhme, ich denke, dass der Paragraf 105 des Jugendgerichtsgesetzes eher auf Delikte wie Autodiebstahl und Handtaschenraub zutrifft. Kein Gesetz der Welt kann mir vorschreiben, dass ich mich mit dieser Bestie beschäftigen muss. Das darf einfach nicht mehr die Aufgabe eines Jugendgerichtshelfers sein«, empörte sich Wilke. »Der Fall sprengt doch jeden Rahmen. Und deshalb werde ich ihn auch nicht übernehmen«, fügte er betont deutlich hinzu.

    »Der Täter war bei seiner ersten Tat 15, bei der zweiten und dritten 18, bei der vierten und fünften 19 Jahre alt«, erwähnte Böhme in betont sachlichem Tonfall. »Und in einem solchen Alter ist die Jugendgerichtshilfe als zusätzliches Prozessorgan vor Gericht nun einmal Vorschrift.«

    »Er hat vier Kinder umgebracht. Kleine Jungen. Auf eine Wei­se, die die Fantasie eines normalen Menschen erheblich übersteigt. Und wenn dieser Ernst P. nicht aus der Höhle entkommen wäre, gäbe es jetzt noch einen Toten. Dann hätten wir ein fünftes Opfer und immer noch keinen Täter.«

    »Lieber Herr Wilke…«, sagte Böhme und faltete andächtig die Hände über seiner Schreibtischplatte. »Glauben Sie mir, der Fall wird sehr schnell erledigt sein.«

    »Wie meinen Sie das?«, fragte Wilke.

    »Nun, Sie brauchen dem Monster nur die notwendigsten Fragen zu stellen. Es ist ein rein formaler Akt. Wie das Urteil ausgehen wird, steht ohnehin schon fest. Die Öffentlichkeit fordert Vergeltung. Das heißt in diesem Fall lebenslänglich Zuchthaus. Ein anderes Urteil kommt überhaupt nicht in Frage. Man muss auch Rücksicht auf die Gefühle der Eltern nehmen, die um ihre ermordeten Söhne trauern.«

    Wilke stand auf und stellte sich ans Fenster. Der Himmel verdunkelte sich. Ein Sommergewitter kam auf.

    Die ersten Tropfen fielen. Blitz und Donner.

    Ein kühler Wind wehte die Schwüle des Tages fort.

    Verschwundene Kinder 1962–1966

    Wilke konnte sich noch gut an die Zeit erinnern, in der es zum ersten Mal geschehen war. Es war ihm deshalb so deutlich im Gedächtnis geblieben, weil seine Tochter Sabine in jenem verhängnisvollen Jahr ihren ersten Geburtstag gefeiert hatte. Nicht nur in Velbert und Wuppertal, sondern im gesamten Umkreis des Bergischen Landes hatte man damals nach dem verschwundenen Kind gefahndet. Die Suchplakate, die überall aushingen, zeigten das niedliche Gesicht des blonden, 8-jährigen Jungen und darunter die verzweifelte Frage:

    WO IST KLAUS JUNG?

    Wilke konnte sich auch noch ziemlich genau an das Datum erinnern. Wenn ihn nicht alles täuschte, war es der 31. März 1962 gewesen, an dem der kleine Junge plötzlich spurlos verschwand. Marlene, seine Frau, hatte sich damals furchtbar geängstigt. Ob ein Kind so einfach vom Erdboden verschwinden kann, hatte sie ihn fast täglich gefragt. Aber er hatte ihr keine befriedigende Antwort geben können. In der ersten Zeit, nachdem Klaus Jung verschwunden war, hatte Marlene das Kinderbettchen tagsüber keinen Moment aus den Augen gelassen. Schließlich stellte sie es sogar – sehr zum Leidwesen von Wilke – nachts ins eheliche Schlafzimmer.

    Das große Polizeiaufgebot war erfolglos geblieben. Der kleine Klaus, der zuletzt auf einem Kirmesplatz in Velbert in Begleitung eines unbekannten jungen Mannes gesehen worden war, blieb wie vom Erdboden verschluckt. Seine Leiche wurde nicht gefunden.

    Irgendwann verschwanden die Suchplakate, und Sabines Bettchen wanderte aus dem ehelichen Schlafzimmer zurück ins Kinderzimmer. Sie hörten auf, von dem verschwundenen Kind zu sprechen.

    Zwei Jahre später, im Frühjahr 1964, wurde Tom geboren. Marlene ging ganz in ihrer Aufgabe als Ehefrau und Mutter auf. Sie wollte alles anders machen als ihre eigenen Eltern, die in der Erziehung sehr streng gewesen waren. Sabine und Tom sollten ohne militärischen Drill, aber mit viel Liebe und Geduld aufwachsen.

    Wilke verdiente als Beamter des Jugendamtes mittlerweile recht gut. Sie tauschten ihre Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung gegen eine geräumige Fünf-Zimmer-Altbauwohnung aus.

    Marlene konnte sich auf die Erziehung der Kinder konzentrieren, während Wilke das Geld verdiente. Das Familienglück schien vollkommen.

    Plötzlich, wie aus heiterem Himmel, begann das Unheil am 6. August 1965 erneut. Ein 11-jähriger Junge aus Gelsenkirchen war mit einem Mal wie vom Erdboden verschluckt. Alle Welt suchte nach ihm. Peter Fuchs hatte in den Ferien seine Tante besucht. Auf der Heimreise war er spurlos verschwunden. Die groß angelegten Suchaktionen der Polizei blieben erfolglos.

    WO IST PETER FUCHS?

    Marlene veränderte sich zusehends. Die Angst kehrte zurück und mit ihr die Erinnerung an den verschollenen Klaus Jung. Sie ließen Sabine und Tom Tag und Nacht nicht mehr aus den Augen. Etwas war geschehen, auf das sie keinen Einfluss hatten, das sich dem menschlichen Begreifen entzog. Und ebenso wie beim ersten Mal, als der kleine Klaus Jung verschwunden war, wurde auch die Leiche des Peter Fuchs nicht gefunden.

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