Der Schülermord von Steglitz: und 22 weitere Verbrechen
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Über dieses E-Book
Frank-Rainer Schurich präsentiert in einem breiten historischen Bogen spektakuläre, erstaunliche und zuweilen kuriose wahre Kriminalfälle. Mit lockerer Hand verfasst, schildert der Kriminalistik-Experte echte und manchmal auch nur vermutete Verbrechen, deren Aufklärung, Täter oder Motive die Zeitgenossen in Atem hielten.
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Buchvorschau
Der Schülermord von Steglitz - Frank-Rainer Schurich
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Vorbemerkung
Zwischen Slapstick und Apokalypse
»Klopf. Klopf.
Ehemann: Wer da?
Stimme: Jack the Ripper.
Ehemann: Für Dich, Liebes!«
Benny Hill Show, 1980
»Es muss nicht einmal eine Leistung sein, aus der die Welt Nutzen zieht«, schrieb der österreichische Schriftsteller Alfred Polgar 1929 in Schwarz auf Weiß, »ein schönes Verbrechen, eine Torheit größeren Stils, ungewöhnliches Pech oder ein Rekord geben Zutritt in das Interesse der Allgemeinheit.«
In diesem Buch wird kurzweilig von Verbrechen und unglaublichen Ereignissen berichtet, die wir auch heute noch mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen müssen. Das Außergewöhnliche des Geschehens steht immer im Vordergrund. Tragisches und Kurioses, Geheimnisvolles und Reales, Einfältiges und Reinfältiges, geschöpft aus unterschiedlichen Quellen wie Pitaval, Gerichtsakten und Fachschrifttum, sind bunt gemischt zu Miniaturen. Und nicht nur am Rande tun sich die Abgründe menschlichen Handelns auf. Kriminalgeschichte zwischen Slapstick und Apokalypse.
Denn »schöne Verbrechen« haben schon immer eine große Faszination ausgeübt. Nicht zu Unrecht sagt Kommissar Wallander im Buch Die fünfte Frau von Henning Mankell, dass es kaum Touristenattraktionen gibt, die sich mit den Tatorten von Verbrechen messen können. Wenn dann noch bizarre, skurrile, komische oder wundersame Momente in dem Verbrechen mitspielen oder entdeckt werden können, wird die Beschäftigung mit dem Fall ein komplettes Erlebnis, weil uns das zuweilen Grausame freundlich überdeckt entgegentritt.
Auch in der Wirklichkeit liegen Tragisches und Skurriles bei Verbrechen oft dicht nebeneinander. Der amerikanische Autor Jack Kerouac hat einmal von einem Mann erzählt, der seiner Frau verzieh, dass sie ihn angeschossen hatte; er bekam sie aus dem Gefängnis frei, mit dem Ergebnis, dass er ein zweites Mal angeschossen wurde.
Unfreiwillige Komik enthält die in einem neuen Buch über authentische Kriminalfälle zu lesende Mitteilung, »dass die beiden Leichen erstickt wurden«. Und Beamte, die täglich Umgang mit den schlimmsten Verbrechen haben, geben zuweilen ungewollt erheiternde Erklärungen ab. So sagte der Berliner Oberstaatsanwalt Michael von Hagen 2011 zum Mord an einem Tätowierer, dessen Leichnam man in Einzelteilen fand: »Es gibt Anhaltspunkte, dass der Leichnam zersägt wurde.«
Eine kuriose Feststellung weht auch aus dem »Augenschein- und Sachverständigenbefund« eines Mordfalles herüber, der sich 1913 in Bruck an der Mur in Österreich zugetragen hatte: »Nach Konstatierung durch den Gerichtsarzt fühlt sich Aloisia Reisner noch etwas warm an, ist aber bereits eine Leiche.«
Fortsetzung folgt? Natürlich! Die Kriminellen jedenfalls werden weiterhin kräftig mitspielen …
Susanna: Im Bade
(Vor mehr als 2 100 Jahren)
In nicht geringes Erstaunen versetzte 1981 ein 17-jähriger Ganove die Rotterdamer Kriminalpolizei. Einmal festgenommen, sprudelten die Geständnisse wie ein Wasserfall. Nach Summierung der Diebstähle, Überfälle und Brandstiftungen, die dem Täter umgerechnet über fünf Millionen Mark Beute gebracht hatten, zählte der erschöpfte Kommissar über 2 000 Delikte.
Die meisten Missetäter sind nicht so gesprächig, und auch Zeugen lügen zuweilen wie gedruckt. Um möglichst wahrhafte Aussagen zu erhalten, gibt es Vernehmungen, die früher Verhöre hießen, bei der Polizei, Staatsanwaltschaft und vor Gericht. Und damit all die fragenden Beamten es richtig machen, gibt es die Wissenschaft von der Vernehmung. Aber wer ist der Begründer der sogenannten kriminalistischen Vernehmungslehre?
Johann Christian Schaumann (1768–1821) hatte 1792 in seiner in Halle erschienenen Schrift Ideen zu einer Criminalpsychologie einen ersten Schritt getan, indem er das Verhältnis von Vernehmer und Vernommenen im Strafverfahren, die damals in alter Tradition Inquisitor und Inquisit hießen, beleuchtete. Jeglichen Zwang lehnte er als Gegner des Inquisitionsverfahrens ab; der Vernehmer müsse versuchen, »die dem Inquisiten so nahe liegende Vorstellung, dass der Inquisitor sein Gegner, sein Feind sei, wegzuräumen«.
Später haben Carl Joseph Anton Mittermaier (1787–1867) und Ludwig Hugo Franz von Jagemann (1806–1853), Schüler und Zeitgenosse Mittermaiers, die Strafuntersuchungskunde, die später Kriminalistik hieß, zu einem Gesamtsystem gebündelt, in dem auch forensisch-psychologische und vernehmungstaktische Fragen eine herausragende Rolle spielen. Das Credo der Jagemannschen Verhörslehre findet sich im folgenden Zitat: »Keine Aufgabe der praktischen Jurisprudenz kommt derjenigen gleich, welche in einem wissenschaftlich geordneten und kunstgerechten ausgeführten Criminalverhöre liegt. Sie besteht eigentlich in einem Worte darin, von einem widerstrebenden Individuum ohne Anwendung irgendeines Gewaltmittels die Wahrheit zu erforschen.«
Aber den Ursprung der kriminalistischen Vernehmungslehre findet man nicht in einem wissenschaftlichen Werk, sondern in den Apokryphen des Alten Testaments. Daniel, Held der jüdischen Folklore und Hauptperson einer Reihe überlieferter Geschichten, rettete darin Susanna vor dem sicheren Tode.
In Babylon lebte der wohlhabende Jojakim mit seiner bildschönen Frau Susanna in einem großen Haus, umgeben von einem schönen Garten. Regelmäßig trafen sich an dieser gemütlichen Stätte die besseren Kreise der Stadt, unter ihnen auch zwei Älteste, die das Richteramt bekleideten. Nach einer solchen Versammlung beobachteten sie die nackt badende Susanna im Garten. Als die Mägde Balsam und Seife holen und den Garten verschließen gingen, stürzten sich die beiden Alten auf sie und sprachen: »Siehe, der Garten ist zugeschlossen, und niemand sieht uns, und wir sind entbrannt in deiner Liebe; darum so tu unsern Willen. Willst du aber nicht, so wollen wir auf dich bekennen, dass wir einen jungen Gesellen allein bei dir gefunden haben und dass du deine Mägde darum habest hinausgeschickt.«
Susanna rief um Hilfe, aber die beiden Alten machten ihre Drohung wahr. Die keusche Susanna wurde aufgrund der Falschaussagen der elenden Richter zum Tode verurteilt.
Als man sie zur Richtstatt führte, mischte sich ein junger Knabe namens Daniel ein: »Seid ihr von Israel solche Narren, dass ihr eine Tochter Israels verdammt, ehe ihr die Sache erforschet und gewiss werdet?« Daniel ließ die beiden Alten an verschiedene Orte bringen, so dass sie sich nicht sehen und hören konnten. Dann fragte er den einen, unter welchem Baume er Susanna und ihren Galan beieinander erwischte. »Unter einer Linde«, antwortete der erste Richter. Auf die gleiche Frage erwiderte der zweite Bösewicht: »Unter einer Eiche.« Damit hatte Daniel die falschen Zeugnisse der beiden Alten bewiesen. Die Missetäter wurden mit dem Tode bestraft, ganz die Strafe, die sie Susanna zugedacht hatten.
Damit ist Daniel der erste Detektiv der Weltgeschichte, der die heutige Binsenweisheit, die Zeugen immer getrennt zu vernehmen, damit sie ihre Aussagen nicht abgleichen können, eindrucksvoll praktizierte. Ein wahrer Held und der eigentliche Begründer der kriminalistischen Vernehmungslehre.
»Die Geschichte von Susanna und Daniel«, so der Originaltitel in der Bibel, hat viele Maler inspiriert. Die beiden lüsternen Alten, die es gar nicht erwarten konnten, sich auf Susanna zu stürzen, und eine nackte, wunderschöne Frau – das war ein unwiderstehliches Sujet. Rembrandt malte um 1634 »Susanna und die beiden Ältesten« in dem Moment, als Susanna bedrängt und gepackt wurde, im Gemälde von Lovis Corinth (1890) schauen die geilen Richter noch durch einen Spalt in den Vorhängen. Auch Tizian, Tintoretto und Paolo Veronese haben sich in berühmten Bildern diesem Thema gewidmet, das zudem eine gute Gelegenheit gab, in Zeiten, in denen Aktdarstellungen als unsittlich galten, den unbekleideten menschlichen Körper zu zeigen.
Susanna, schon durch ihren Namen, der hebräisch »Lilie« oder »Rose« bedeutet, zur Reinheit bestimmt, ist in der Malerei und in der Literatur zum Keuschheitsidol erhoben worden. Es gab durch die Jahrhunderte nur wenige Zweifler, z. B. den fast vergessenen Hamburger Dichter Friedrich von Hagedorn (1708 –1754):
Susanna
Susannas Keuschheit wird von allen hochgepriesen:
Das junge Weib, das jeder artig fand,
Tat beiden Greisen Widerstand.
Und hat sich keinem hold erwiesen.
Ich lobe, was wir von ihr lesen;