Nachtschatten: Erzählungen
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Über dieses E-Book
ein Kaleidoskop menschlicher Unvollkommenheit.
Der Fremdgeher, der eine Überraschung erlebt; der Treuhänder, der die Treue verliert und das Leben dazu; der irritierende Kobold vom Sihl-wald; ein gewolltes Ende des eigenen Lebens oder ein Scheidungsfall mit unverhofftem Ausgang.
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Buchvorschau
Nachtschatten - Melchior Werdenberg
PERSONENSCHADEN
»Jede Zeit hat ein Ende, nur der Anfang hört nie auf.«
Die Gratiszeitung hatte er längst weggelegt, aber dieser Satz des Tages ließ ihn nicht los. Der Zug sollte eigentlich längst weiterfahren Richtung Hauptbahnhof, aber er stand seit einigen Minuten. Erste Passagiere begannen auszusteigen.
Sollte er auch? Von Oerlikon mit dem Tram zur City würde er eine halbe Stunde zusätzlich brauchen.
»Personenschaden auf der Strecke nach Zürich Wipkingen – wir bitten unsere Fahrgäste um Entschuldigung und danken für das Verständnis.«
Die Ansage schepperte so gleichtönig wie in allen anderen Bahnhöfen dieses Landes, vielleicht gar der Welt. Alle Flughäfen sehen gleich aus, dachte er, alle Freizeitparks, bald auch alle Hotels.
Wieder einer dieser hoffnungslosen Egoisten, der sich aus dem Leben verabschiedet, aber sich nicht um seinen Nachlass kümmert, dachte Melchior.
Der Zug stand weiter still. Melchior blieb für sich beim Thema. Es wäre an der Zeit, eine öffentliche Diskussion anzustoßen, um die Selbstmordkandidaten von den Gleisen fernzuhalten. Sollte man mit Anzeigen darauf hinweisen, dass keineswegs jeder mit dem sicheren Tod rechnen konnte? Niemand berichtet über die schwer invaliden, absolut hilflosen lebenden Kadaver, die es nicht geschafft haben. Und die Erfolgreichen, sie sollten sich schämen. Sie zerstören das Leben anderer: traumatisierte Lokführer, die mit dem fremden Tod vor Augen leben müssen. Die Todessüchtigen denken nicht an ihr Blutbad und nicht an die Hilfspersonen, die sich mit ihrer zerfetzten Hülle beschäftigen müssen.
Er entschied sich, aufs Tram zu wechseln.
Wo ist der Anfang, wenn der Zug kommt?, dachte er.
Die Antwort fand er schnell: »Der Anfang ist bei mir.«
Er empfing eine SMS: »Außergewöhnlicher Todesfall beim Bahnhof Wipkingen.«
Nicht jeder Staatsanwalt rückt bei einem Personenschaden aus, aber ein dumpfes Gefühl in der Magengrube sandte eine Botschaft an die Leitzentrale weiter oben. Er entschloss sich, gleich hinzugehen.
Mit Tram und Bus war er nach zwanzig Minuten vor Ort. Dort war der Bahnverkehr noch immer blockiert. Durch den Erkennungsdienst waren zahlreiche Markierungen angebracht und ebenso viele Fotos gemacht worden. Jetzt sammelten zwei Männer in dunkelblauen Überkleidern die Leichenteile auf, die überall verstreut zwischen und neben den Gleisen lagen. Melchior blickte auf seine Schuhe, rechts davon lag eine blutige Leber auf dem Schotter.
»Der Körper muss im Fallen direkt mit dem fahrenden Zug zusammengeprallt sein, nur so ist zu erklären, dass der Mann derart auseinandergerissen worden ist. Dieses Unfallbild sehen wir sonst nur bei Schnellzügen.« Der Polizeioffizier machte die Mitteilung routiniert, aber man spürte, dass er bemüht war, emotional auf Distanz zu gehen.
Melchior nickte, blieb wortlos. Er war nicht unglücklich, dass man die Lokomotive bereits wegfahren ließ. Sie musste nur an einen neuen Einsatzort überführt werden. Zum Glück hatte sie keine Personenwagen mit sich geführt. So gab es keine Probleme mit fotografierenden Fahrgästen.
Der Lokführer hatte einen Notstopp ausgelöst, als die Kollision bereits erfolgt war. Die Polizei hatte ihn zur Befragung mitgenommen. Seine Arbeitgeberin würde ihn für die nächste Zeit vom Dienst dispensieren. Auch für ihn würde es einen neuen Anfang geben, vielleicht nicht mehr im Führerstand. Durchschnittlich trifft es jeden dritten Lokführer einmal – durchschnittlich.
Für Melchior gab es am Tatort nichts zu tun. Aber er hatte sich einen eigenen Eindruck verschafft. Er wusste, die Bilder würde er in seinem Kopf mit sich herumtragen. Später, wenn ihm die Akten vorlagen, würde er die Fotos des Erkennungsdienstes mit seiner Erinnerung abgleichen.
Doch schneller, als die Polizei ihre Akten aufbereiten konnte, waren die Journalisten, die den Selbstmord von Wipkingen zum Tagesthema machten.
Für die Presse gilt die ungeschriebene Regel, über suizidale Schadensereignisse mit der Eisenbahn zu schweigen, um keine Nachahmertaten zu provozieren. In diesem Fall hatte sich ein Journalist nicht daran gehalten. Nur wenige Stunden nach dem Ereignis hatte er seine Story zusammen mit der Aufnahme eines attraktiven, halb nackten Mannes auf seinem Newsportal aufgeschaltet. Das Foto zeigte einen athletischen Mann in Boxershorts. Beide Arme hielt er vorgestreckt, die Hände waren weiß bandagiert, bereit zum Kampf. Damit war der Damm gebrochen, die Medienflut losgetreten.
Beim Toten handelte es sich um einen Türsteher, der sich einen Namen als Mixed-Martial-Arts-Kämpfer gemacht hatte. Auf Youtube und Facebook gab es reichlich Bildmaterial. Innerhalb von Stunden wurde aus dem Kleinkünstler Milos eine lokale Prominenz. Mindestens zwei aktuelle Freundinnen fanden den Weg zum Mikrofon eines Lokalradios. Seine Familie gab vor laufender Kamera ein bewegendes Zeugnis davon ab, was für ein sehr guter, liebevoller Mensch hier sein Leben gelassen hatte.
Auch Melchior ging auf Youtube und Facebook. Er wusste aus Erfahrung, dass solche Posts schnell aus dem Netz verschwinden konnten. Tatsächlich gab es zu Milos bereits einige verstörende Hasseinträge. Die Autoren gönnten dem Toten offensichtlich auch in den ewigen Jagdgründen keine Ruhe. Und die Botschaften zielten auf die Freunde des Verstorbenen, deren Trauer sie virtuell mit Dreck bewarfen.
Melchiors Analyse war simpel. Es standen sich zwei verfeindete Mixed-Martial-Arts-Clubs gegenüber, und ein Teil ihrer Anhänger pflegte den Hass mehr als den Sport. Die beiden Clubs waren sich sehr ähnlich, ja eigentlich gleich, nur ihre Mitglieder glaubten, sie seien wegen ihrer Herkunft ungleich.
Melchior seufzte. Wenn die Jungs einen Versuch machen würden, sich mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen, könnten sie sehr viel Gemeinsames entdecken, zum Beispiel, dass ihre Väter auf dem Amselfeld Seite an Seite gestanden hatten. Aber davon hatten sie noch nie gehört. Nur der Name dieses Schlachtfeldes war ihnen geläufig. Er diente als Code, um ihr Feindbild zu aktivieren.
Melchior suchte weiter. Beim Durchgehen der Facebook-Freunde des Toten blieb sein Blick an einer jungen Frau hängen, die ihm ausnehmend schön erschien. Sie hatte Bilder gepostet, die sie in sportlichem Dress zeigten. Und der Hintergrund dieser Bilder ließ klar werden, dass sie denselben Kampfsport wie Milos praktizierte.
Cherchez la femme, diese alte Kriminalistenweisheit hat sich ebenso wenig abgewertet, wie sich die Menschen seit der Zeit von Hercule Poirot oder Maigret geändert haben. Melchior notierte sich ein Motiv: »Martial Arts in erotischer Schönheit, ein Grund, verrückt zu werden, ein Grund, zu töten.«
War dieser Personenschaden wirklich ein Selbstmord? Melchior spürte, diese Frau würde zur Lösung des Rätsels beitragen. Ihr Name verriet ihm ihre Herkunft. Mit der Freundschaft zu Milos hatte sie auf die falsche Seite gewechselt.
Das Telefon klingelte. Der Offizier, der am Morgen die Tatbestandsaufnahme geleitet hatte, rief an: »Wir haben Zweifel am Selbstmord, wir ermitteln wegen Verdachts auf Tötung.«
»Und Sie wissen natürlich, in welchen Kreisen Sie nach Tatverdächtigen zu suchen haben«, antwortete ihm Melchior.
»Gewiss, es geht um Leute, die einem mit Milos’ Tribe verfeindeten Club angehören.«
»Und ich vermute, dass sich der Streit um eine Frau drehte, deren Herz Milos hatte erobern können«, gab Melchior das Ergebnis seiner Internetrecherche preis. »Milos’ schöne Kampfsportfreundin finden Sie auf Facebook. Vielleicht braucht sie Polizeischutz.«
Milos’ Handy war beim Aufprall mit der Lokomotive in Kleinteile zerlegt worden. Es gab aber noch ein zweites Datenleben bei einem Big Brother. Die Polizei ließ sich sämtliche Handydaten von Milos’ Telefonanbieter übermitteln. Interessant waren die Telefonate, die er in der letzten Stunde vor seinem Tod geführt hatte. Sein Erzfeind hatte sich mit ihm verabredet. Er verlangte einen privaten Fight, auf Leben und Tod, nur sie beide, Milos’ Erscheinen sei eine Frage der Ehre.
Auch die schöne Kampfsportlerin hatte mehrmals angerufen, Milos hatte zuletzt aber nicht mehr abgenommen.
Noch interessanter war eine Aufnahme, die Milos unmittelbar vor seinem Fall von der Brücke gemacht hatte. Sie dauerte rund fünfzehn Minuten und endete mit dem Aufprall auf die Lokomotive. Milos hatte sein Handy heimlich auf Aufnahme geschaltet, als er sich seinen Mördern gegenübersah. Die aufgenommenen Dialoge waren brutal, aber aufschlussreich.
»Drei gegen einen, ich nehme es mit euch auf, ihr Hunde.« Das musste Milos’ Stimme sein.
Melchior hörte sich die Aufnahme mehrmals an. »Wir töten dich«, war deutlich zu vernehmen. Er erstellte eine erste Abschrift der gesamten Aufzeichnung und wusste, dass er damit den zentralen Kern seiner Anklageschrift zu Papier gebracht hatte.
Zuversichtlich sah er der Festnahme der Mörder entgegen. Man würde die drei finden. Die Erfahrung lehrte ihn: Solche Typen kamen ohne ihre Mama nicht zurecht.
Und er freute sich auf den Prozess. Auch wenn es keine Zeugen gab, würden die automatisch generierten Ortsaufzeichnungen der Handys der Täter die Beweislage hieb- und stichfest machen.
Ein Anfang war zu Ende, aber es war Zeit, ihn fortzuführen.
BLAULICHT
Ein Polizeifahrzeug kam ihm mit Blaulicht entgegen. Ohne eingeschaltetes Signalhorn hatte der schnell, aber auf dem neuen Straßenbelag ruhig dahingleitende 5er-BMW etwas Schemenhaftes an sich. Kaum hatte er ihn wahrgenommen, war der Spuk auch schon vorbei. Wohin der wohl fährt, fragte er sich kurz, um gleich wieder seine Schritte aufzunehmen und weiter seinen Gedanken nachzuhängen.
Zudem musste er sich auf die Straße konzentrieren. Die Nacht hatte die Kälte zurückgebracht. Überall dort, wo am Tag Schmelzwasser in kleinen Rinnsalen über die Straße geflossen war, drohte ihm jetzt blankes Eis. Das fahle Licht des Mondes half kaum, die gefährlichen Stellen zu erkennen. Langsam ziehende Wolken verdunkelten die spärliche Sicht. Er wusste, er würde noch eine gute Stunde der nachts praktisch verkehrsfreien Kantonsstraße durch den Wald folgen müssen, bis er das erste Dorf erreichen würde.
Dreißig Jahre war es her, seit er an einer Neueröffnung im Waldhaus teilgenommen hatte. Eine Nachbarin hatte das heruntergekommene Haus an der damals stark befahrenen Hauptverkehrsachse von Zug nach Zürich für ein Restaurant mit gepflegter Küche hergerichtet. Sie hatte sich in die Arbeit gestürzt, um den Verlust ihrer beiden Söhne besser verdrängen zu können. Der Ältere hatte sein Leben an der Nadel gelassen, der Jüngere war kurze Zeit später in Portugal mit dem Deltasegler in eine Klippe gerast. Doch der Betrieb erwies sich schon bald als wenig lukrativ. Nach dem Einrichtungsstress war für die Pächterin nicht mehr