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Das Ende der Knechtschaft
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eBook784 Seiten10 Stunden

Das Ende der Knechtschaft

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Über dieses E-Book

Ort der Handlung: Frankfurt am Main und Umgebung. Psycho-Krimi mit einem Blick auf Polizeiarbeit im Widerstreit von Recht und Gesetz sowie mit Bezügen zu spirituellen Energien. Menschen, die glauben das Richtige zu tun und dennoch auf unglückliche oder tragische Weise scheitern.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum20. Okt. 2017
ISBN9783742772213
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    Buchvorschau

    Das Ende der Knechtschaft - Günter Billy Hollenbach

    Inhalt

    Samstag, 23. Juli

    1

    Natürlich hat sie daran gezweifelt, die Frau Kriminalhauptkommissarin. Obwohl sie sich als abgebrühter erwies, als ich anfangs für möglich gehalten hätte. Gelegentlich hat sie sich sogar darüber lustig gemacht. Wenn ich ihr – aus gutem Grund behutsam – mit Einsichten kam, die ihren auf scharfes Denken und beweisbare Tatsachen getrimmten Kriminalistenverstand überstiegen. Nebenbei kratzten sie an dem, was wir alle gern glauben wollen: Die Polizei schützt den Bürger.

    Und dann das: Der Bürger schützt die Polizei – vor sich selbst. Das lag außerhalb ihres Vorstellungsvermögens. Bis Frau Kommissarin es erlebte. An ihren Zweifeln hat sie dennoch festgehalten. Dabei begann alles zwar ärgerlich, aber letztlich harmlos; für mich zumindest.

    Es gibt solche Tage, wenn auch nicht oft im Leben. Aber es gibt sie. Tage, an denen etwas geschieht, ein Ereignis, das dich unerwartet und scheinbar zufällig trifft. Auch wenn du so gut wie nichts dazu beigetragen hast, du musst dich damit auseinandersetzen. Danach ist nichts mehr in deinem Leben, wie es vorher war. Auch wenn es eine Weile dauert, bis du das begreifst.

    Ferienzeit. Wochenende. Mein Frankfurt-Tag. Den Samstag Vormittag verbringe ich gewöhnlich dort. Wenigstens einmal in der Woche zieht es mich in die Innenstadt, raus aus der Beschaulichkeit des Vordertaunus. Zum Stöbern und flüchtigen Lesen im Buchladen, Abteilung englischsprachige Krimis; gefolgt von einem Ausflug in die Gerüche und das Gedrängel in der Kleinmarkthalle und dem Sichten der DVD-Sonderangebote in einem Elektronik-Tempel. Zwischendurch ein Espresso in der Fußgänger-Zone. Ein kurzweiliger Zeitvertreib in freundlicher Umgebung mit vielfältigen Anregungen zum Schauen, Staunen und sich Wohlfühlen.

    Seit Tagen zeigt sich das Wetter von der angenehmen Seite. Reichlich viele Menschen, sommerlich bunt bekleidet, sind in der Stadt unterwegs. Mittagessen im Selbstbedienungsrestaurant eines Großkaufhauses, danach ein Tee. Kurz nach halb eins Gedanken an den Heimweg. Die Sonne strahlt beinahe etwas zu warm. Auf dem weiten Platz um die Hauptwache herum stehen zwei luftige Zelte, davor bunte Plakate einer Initiative gegen Tierversuche; junge Frauen strecken den vorbeischlendernden Leuten Handzettel entgegen. Dazu plärrt nervige Lautsprechermusik. Ein Stück weiter in Richtung Rathenau-Platz hockt ein junger Mann mit schulterlanger Rasta-Mähne auf einem Schemel und trommelt auf seiner Bongo.

    Als die Verkehrsampel vor der Goethe-Straße auf Grün springt, streift mich ein kleiner blonder Junge mit seinem roten Lauffahrrad am rechten Unterschenkel. Erst schaut er kurz aus erschrockenen Augen zu mir hoch, um mich im nächsten Augenblick vergnügt anzulächeln.

    Verblüffend, wie leicht ein Kind dich für sich einnehmen kann.

    „Pass doch auf, Martin!" mahnt seine blonde Mutter schräg neben mir mit verlegenem Stolz in der Stimme.

    „Entschuldigen Sie bitte."

    Ein flüchtiges Lächeln in meine Richtung, schon folgt ihr Blick wieder dem Jungen, der schwankend vor uns herrollt.

    „Nichts passiert," gebe ich wie eingeübt zurück, während wir die Straße überqueren. Die gängige Art der folgenlosen Kurzzeitbeachtung, die fremde Menschen auf einer Großstadtstraße für einander übrig haben.

    Die Goethe-Straße ist die teuerste Boutiquen-Meile in Frankfurt. Hier reihen sich die Läden weltbekannter Edelmarken aneinander, die meisten mit eher kleinen Schaufenstern, viele erkennbar mit Panzerglas. Die durchweg teuren Ausstellungsstücke in den fast immer geschmackvoll gestalteten Auslagen hinterlassen bei mir stets ein zwiespältiges Gefühl. Auch wenn sie hübsch anzusehen sind – muss eine Krawatte wirklich 260 Euro kosten? Oder ein schlichter Hosengürtel 195 Euro? Wer zahlt 23.000 Euro für eine Armbanduhr, nur weil sie mit einem berühmten Schweizer Markennamen daherkommt oder in sächsischer Uhrmachertradition hergestellt wurde? Trotzdem, irgend etwas macht diese teuren Nebensächlichkeiten verlockend. Vielleicht das ihnen eigene Versprechen, sich damit von der Masse der Normalverdiener abzuheben. Zumindest in den Augen derer, die einen Blick für die Marken und ihre Preise haben.

    Zum Straßenbild der Zeil gehören seit Jahren ganz selbstverständlich Menschen mit orientalischer Bekleidung oder dunkler Hautfarbe. Obwohl nur einige hundert Meter entfernt, liegen Welten zwischen ihr und der Goethe-Straße. Getrennt durch die Auswahl und Preise der gebotenen Waren ebenso wie durch eine unausgesprochene Vereinbarung. Shoppen in der Goethe-Straße gilt als ein Erlebnis, für das man sich fein macht. Hier kauft man keine Waren sondern erwirbt Statussymbole. Männer treten als Herren auf, tragen Polohemd unter dunkelblauem Blazer sowie klassische Lederschuhe, die edle Goldrandsonnenbrille über der Stirn oder halb verdeckt in der Brusttasche. Die durchweg schlanken Damen ziehen Rock und Bluse den längst hoffähigen Jeans vor.

    Du ahnst, von zahlungskräftigen Leuten umgeben zu sein. Einen Hinweis darauf bietet die immer wieder bemerkenswerte Ansammlung teurer und teuerster Autos, die sich samstags auf den schmalen Parkstreifen der Goethe-Straße drängen. Beinahe kann es als Ausnahme gelten, wenn dort kein Bentley oder Ferrari und nicht mindestens eine gute Handvoll Porsche sowie BMW X-5 und Range-Rover mit getönten Scheiben rumstehen. Selbst die meist quergeparkten Smart wirken hier etwas edler als anderswo. Irgendwie passt alles zusammen. Sommer, Sonne und das Luxusflair der Goethe-Straße.

    *

    Beinahe hätte ich es übersehen. Es dauert einen Augenblick, bis mir bewusst wird, was ich sehe. Und dann noch einmal einen Wimpernschlag, bis ich es begreife. Das kann doch nicht sein?! Schräg vor mir auf der anderen Straßenseite am Ende des Parkstreifens steht – mein BMW X-3. Unmöglich?! Wie kommt der hier hin? Ich muss mich buchstäblich zwingen, erneut und genauer hinzuschauen, obwohl ich es intuitiv bereits weiß: Da drüben steht mein Wagen. Den ich heute Morgen in der Staufenstraße ein Stück hinter der Alten Oper geparkt habe. Ein prüfender Griff an meine Hosentasche bestätigt, meinen Autoschlüssel habe ich bei mir. Ich schaue noch einmal genau hin: Dunkelblau, keine Dach-Reling, seitlich unten die zusätzliche Türschwelle und klar lesbar vorn mein Nummernschild. Eine Fülle verwirrender Gedanken und Gefühle rast mir durch den Kopf. Doch was ich sehe, bleibt dasselbe: Kein Zweifel, mein Auto, dort drüben.

    Darin am Steuer sitzt ein Mann, anscheinend kräftig gebaut. Erkennbar sind ein Stück kurzgeschnittener schwarzer Vollbart, ein dunkler hochgeschlossener Pullover sowie eine schwarze Baseball-Mütze, deren gebogenes Schild das Gesicht des Mannes weitgehend verdeckt. Alles schimmert etwas verzerrt durch die Spiegelung in der Windschutzscheibe und seitwärts im Schlagschatten. Erst jetzt spüre ich mein deutliches Herzklopfen und bemerke, dass ich stehen geblieben bin. Der Schreck läuft mir heiß durch den Bauch. Was geht hier vor? Eine harmlose Erklärung finde ich nicht. Nur die Ahnung: Meine gewohnte Fahrt nach Hause kann ich vergessen.

    Denk! Denk nach! Ich schaue mich kurz um. Kaum Autoverkehr auf der Fahrbahn und das übliche Bummeln der Menschen auf den Gehwegen. Nichts Auffälliges erkennbar. Ich gehe einfach hin und fordere den Mann auf, mein Auto zu verlassen! Doch ein kribbeliges Gefühl im Nacken lässt mich innehalten: Vorsicht; was, wenn das mehr als ein unschöner Zufall ist?! Irgendetwas an dem Mann wirkt unangenehm, bedrohlich. Vielleicht gerade, weil er nur dunkel und still dasitzt. Mir kommt eine Grundregel aus einem Sicherheitstraining in den Sinn, an dem ich vor einigen Jahren im kalifornischen Santa Cruz teilgenommen habe: Der Angreifer hat fast immer einen Plan; das Opfer dagegen ist meist ahnungslos. Verrückt, was man in solchen Augenblicken denkt. Was ist, wenn der Angreifer eine Waffe hat?

    Der Gedanke löst meine Erstarrung ein wenig. Meinem Drang folgend, etwas zu tun, schaue ich mich erneut um: Ich bin klar sichtbar und völlig ungeschützt, wenn ich über die Straße zu dem Wagen gehe. Der Kerl macht einfach die Tür auf und tritt dir in den Bauch. Und das nächste herankommende Auto erfasst dich. Keine gute Idee. Kann ich mich ihm unbemerkt nähern? Er weiß ja nicht, dass mir das Auto gehört, in dem er sitzt. Und dann? Ich halte mich zwar körperlich gut in Form. Aber jeder halbwegs geübte Schlägertyp dürfte mich als Lachnummer abtun.

    Während ich noch überlege, die Straße zu überqueren, als ob mich dort ein Schaufenster interessierte, läuft es mir wieder heiß durch den Bauch: Auf meiner Straßenseite ein Stück vor mir, gegenüber und dann einige hundert Meter weiter hinter meinem BMW befinden sich drei Edelläden für teure Uhren, Schmuck und Juwelen. Schlagartig begreife ich, was vorgeht: Genau, der Mann in meinem Auto sitzt da, als ob er auf jemanden wartet. Oder auf etwas. Wozu man ein gestohlenes Auto benutzt.

    Denken nutzt zwar selten, hilft aber manchmal. Dort drüben steht mein Auto mit einem fremden Mann darin. Egal wie die zwei da hinkommen und was dort vorgeht, in jedem Fall ist es Autodiebstahl. Folglich Sache der Polizei; klar doch, ich brauche die Polizei. Möglichst schnell.

    *

    Stecken Sie Ihren Kopf freiwillig in einen Mikrowellenherd? Auch wenn Millionen von Menschen etwas tun, was dem nahe kommt – ich lebe bewusst und gern ohne Mobiltelefon. Und fühle mich durchaus als vollwertiger Mensch. Jetzt allerdings wäre ein Handy von unschätzbarem Wert. Nach einer öffentlichen Telefonsäule brauche ich gar nicht zu suchen; die sind hier längst ausgestorben. Mist, wie erreiche ich möglichst schnell die Polizei?! Ohne wirklich hinzuschauen sehe ich eine Frau ein Handy in ihre Handtasche stecken und in einen Smart steigen. Richtig!

    Ich sehe mich kurz um. Neben mir dreht sich ein sportlich wirkender Mann um die dreißig von einem Schaufenster weg.

    „Entschuldigen Sie bitte, dies ist ein Notfall. Haben Sie ein Handy? Dürfte ich für eine Sekunde Ihr Mobiltelefon benutzen, ich muss die Polizei anrufen. Es ist wirklich dringend."

    Der Mann, freundliches Gesicht, blonder Haarschopf schräg über der Stirn, stutzt, nickt knapp und macht eine Handbewegung in Richtung der Innentasche seines Sommerjacketts. In dem Augenblick legt eine superschlanke, jüngere Frau mit einem glitzernden Kristall auf dem rechten Nasenflügel ihre Hand auf seinen Unterarm. Dass die beiden zusammensind, hatte ich nicht erkannt. Kaum hat sie sich zu mir gedreht, erklärt sie näselnd:

    „Junger Mann, kaufen Sie sich gefälligst selbst ein Handy. Dann gewöhnen Sie sich gleich an die Preise."

    Sie gibt ihrem Begleiter einen leichten Schubs. Der Mann zuckt überrascht zurück, lächelt verlegen und murmelt verhalten:

    „Vielleicht besser so."

    Damit wendet er sich ab, während sie im Weggehen lauter als nötig tönt:

    „Wie kommen wir denn dazu! Unglaublich, was es für Leute gibt."

    Danke, ihr mich auch mal!, durchzuckt es mich.

    Mann, ich brauche Hilfe! Will doch nur die Polizei verständigen ... dringend. Und mein Auto wiederhaben.

    2

    „Nett, diese hilfsbereiten Mitmenschen, bemerkt eine weibliche Stimme neben mir. Zugleich berührt eine Hand meinen rechten Unterarm. „Wenn Sie es mir wiedergeben, können Sie meins benutzen.

    Mir fällt ein Stein vom Herzen. Während die untersetzte Frau mit südländischen Aussehen kopfschüttelnd dem jungen Paar nachschaut, zieht sie mit der linken Hand ein Mobiltelefon aus der Brusttasche ihres dunkelgrünen Overall. Die Frau war damit beschäftigt, den goldenen Rahmen einer Außenvitrine zu putzen und hat anscheinend die Abfuhr mitbekommen, die mir gerade zuteil wurde. Erst bin ich überrascht, dann dankbar erleichtert, als ich das ältere rundliche Gerät in die Hand nehme.

    „Oh, vielen Dank. Das ist nett. Zu dumm, aber es ist wirklich wichtig. Wie wähle ich bei dem Ding? Ich brauche 110, den Notruf der Polizei."

    „Ganz leicht. Geben Sie her, lassen Sie mich mal ..."

    Kaum hat sie eine der winzigen Tasten gedrückt, hält sie mir das Gerät ans Ohr. Erst fällt es mir schwer, das schwache regelmäßige Rufsignal vom Hintergrundlärm der Straße zu unterscheiden. Einen Augenblick später ein Klicken, dann eine gut verständliche weibliche Stimme:

    „Hier ist die Nummer 110, der Notruf der Polizei. Bitte sagen Sie mir Ihren Namen und den Grund Ihres Anrufs."

    „Ja, guten Tag, mein Name ist Berkamp. Ich bin hier in der Goethe-Straße und da drüben steht mein Auto, ein blauer BMW X-3...."

    „Was ist daran ungewöhnlich? Vielleicht haben Sie selbst den Wagen dort geparkt."

    „Nein, mein Wagen kann da gar nicht sein. Ist er aber. Weil ich ..."

    „Hören Sie, dies ist die Notrufnummer der Polizei. Falls Sie sich einen Scherz erlauben ... Haben Sie etwa Alkohol zu sich genommen?"

    „Nein, ja, ... Ich trinke keinen Alkohol. Also, mein Wagen steht da ohne mein Zutun. Das ist kein Scherz. Hören Sie: Mein Auto steht hier, obwohl ich es vor drei Stunden woanders geparkt habe. Hinten in der Staufenstraße. Ich bin seit dem nicht damit gefahren; verstehen Sie? Und meinen Autoschlüssel habe ich hier bei mir. In dem Wagen sitzt jetzt ein fremder Mann mit einer dunklen Baseball-Mütze."

    „Bitte nennen Sie mir das Kennzeichen ihres Wagens."

    „MTK- XY 999. Ein dunkelblauer BMW X-3."

    Etwas Klappern oder Rascheln im Telefonhintergrund. Stille. Dann wieder die weibliche Stimme:

    „Hören Sie bitte? Ihr Name ist Berkamp, richtig? Herr Berkamp, wir schicken einen Streifenwagen vorbei. Bitte warten Sie dort auf die Kollegen. Die sind gleich da. Zwei bis drei Minuten."

    Noch ehe ich antworten kann, klingt ein schrill fiependes Alarmsignal durch die Straße. Etliche Menschen sind stehen geblieben und schauen in die Richtung, wo mein BMW parkt. Wieder schießt mir ein heißes Gefühl durch den Bauch.

    „Hey, da tut sich was, da drüben," sagt die Overallfrau, die mir ihr Telefon ans Ohr hält.

    „Hallo, Polizei. Hören Sie. Irgendwo ist gerade ein Alarm losgegangen. Mein Auto jedenfalls hat keine Alarmanlage."

    „Ja, ich weiß, wir sind unterwegs. Wir haben ..."

    Damit bricht die Stimme im Telefon ab und die Verbindung endet.

    „Sie, wirklich vielen Dank. Das war ..., will ich zu der Frau im Overall sagen. Die ist bereits einige Schritte in die Richtung gegangen, aus der das Alarmsignal tönt. Während ich ihr mit einem halblauten „nochmals vielen Dank folge, verlassen zwei groß gewachsene Frauengestalten mit langen blonden Haaren in flatternden hellen Hosen und weiten Sommerhüten auf dem Kopf das Schmuckgeschäft hinter meinem BMW. Sie schwingen ihre dunklen Knautschleder-Handtaschen über die Schultern und gehen zu dem X-3. Der dunkel gekleidete Mann am Steuer beugt sich etwas vor, der Motor startet, die beiden Frauen steigen ein. Kaum sind die Seitentüren geschlossen, rollt der Wagen nach links in die Fahrbahn. Fährt nur wenige Meter in meine Richtung und verschwindet vorn rechts in die schmale Alte Rothofstraße. Alles geschieht zügig, wirkt aber nicht fluchtartig.

    *

    Als mein Wagen abgebogen ist, löst sich meine Erstarrung. Ich laufe zu der Einbiegung. Dort kommt mir eine junge Frau mit einem Kinderwagen entgegen. Von dem X-3 ist nichts mehr zu sehen. „Entschuldigung, haben Sie gesehen, wohin der Wagen eben gefahren ist?"

    „Wagen? Auto? Ich kein Auto gesehen. Mein Kind geschaut. Verstehn?"

    Das blecherne Tatütata des Polizei-Wagens ist eine Weile früher zu hören und scheint den ganzen Rathenau-Platz zu füllen. Es verstummt und ein silberner Opel Zafira mit einem dicken blauen Polizei-Streifen an der Seite biegt in die Goethe-Straße ein. Er wird langsamer, fährt nach wenigen Metern nur noch im Schritttempo. Als ich zu dem Fahrzeug gehen will, höre ich ein zweites, dumpferes Martinshorn, von der anderen Seite aus Richtung Alte Oper. Mit blinkenden Scheinwerfern und aufleuchtenden Warnblinklichtern rollt ein grauer VW-Passat schnell näher und stoppt mit quietschenden Reifen kurz vor der Schmuckboutique „Croma". Ich halte inne: Kommen die wegen meines Anrufs? Oder wegen des Alarmsignals? Wird sich zeigen. Ich halte mich an den silber-blauen Zafira. Der steht mir am nächsten. Seine Warnblinklichter sowie blaue und orangerote Leuchten in dem Signalbalken auf dem Dach zucken jetzt ebenfalls grell.

    Inzwischen sind zahlreiche Menschen stehen geblieben und bilden lockere Zuschauerreihen auf beiden Straßenseiten. Fast alle sehen in Richtung es grauen VW-Passat, der halb schräg auf der Fahrbahn vor dem Juwelierladen parkt. Auf dem Beifahrersitz des Zafira sitzt eine junge Polizistin, die vor sich hin spricht. Von einem Hörknopf in ihrem rechten Ohr führt eine dunkelgraue Kabelspirale zum Kragen ihres hellblauen Diensthemdes und verschwindet dahinter. Noch während sie kurz zu ihrem Kollegen auf dem Fahrersitz schaut, öffnet sie die Tür und steigt aus.

    Ovales Gesicht und hellblaue Augen, blonde Haare in einem kurzen Pferdeschwanz und ein deutliches Grübchen im Kinn. Obwohl viele Leute es ein wenig störend finden – schon als junger Mann haben mich menschliche Gesichter fasziniert. Sie sind für mich eine Einladung, sie genau zu betrachten. Stirn und Wangen der Polizistin wirken frisch, wie blankgeputzt. Der dunkelblaue Hosenanzug und die etwas kantige Schutzweste erscheinen mir ein wenig unpassend zu ihrem jungen, hübschen Gesicht und dem offenen Blick. Sie streckt sich kurz, überschaut mit einem schnellen Blick die Straße und die nähere Zuschauerreihe.

    Selbstverständlich stehen auch links und rechts vor dem Polizeiwagen, der mitten in der Fahrbahn gehalten hat, Menschen umher. Dem Fahrzeug und seinen beiden Insassen schenken sie kaum Beachtung, gaffen stattdessen hinüber zu dem grauen VW-Passat vor dem Uhrengeschäft.

    „Herrschaften, bitte bleiben Sie auf den Bürgersteig; treten Sie zurück von unserem Dienstwagen," höre ich den Polizisten auf der Fahrerseite, der inzwischen ebenfalls ausgestiegen ist. Doch die Leute bleiben einfach stehen. Ich drängele mich an zwei jungen Männern vorbei, um zu der Polizistin zu gelangen.

    Sie hat mich bemerkt und fragt: „Wollen Sie was? Das geht jetzt schlecht. Bitte bleiben Sie zurück."

    „Ich muss mit Ihnen sprechen. Mein Name ist Berkamp. Ich habe die Rufnummer 110 angerufen. ... Wegen meinem Wagen ..." erkläre ich über die Schulter einer Frau hinweg.

    „Reden Sie von dem blauen BMW X-3? Sind Sie das?"

    „Ja, richtig, das bin ich. Es geht um mein Auto."

    Jetzt schließt die Polizistin die Tür ihres Wagen ganz, streckt ihren rechten Arm nach vorn und wedelt mit der Hand.

    „Bitte lassen Sie den Herrn durch. Kommen Sie."

    Woher kommen derart schnell so viele Zuschauer?

    Die Polizistin gefällt mir. Sie wird sich um mein Auto kümmern.

    Und sie verwirrt mich. Seit zig Jahren hatte ich nichts mit der Polizei zu tun. Das jugendliche Aussehen der Beamtin und ihre unaufgeregte, freundliche Art widersprechen angenehm meiner Vorstellung vom Auftreten von Polizisten aus meiner Studentenzeit. Damals eine derartige Uniform-Frau – undenkbar.

    „Okay, also Sie sind Herr .... Berkamp, richtig?!"

    „Ja, richtig."

    „Der Besitzer des BMW X-3?! Bitte zeigen Sie mir den Wagen."

    Fast muss ich lachen.

    „Das geht leider nicht mehr. Er ist weg. Noch während ich den Notruf in der Leitung hatte ..."

    Die Polizistin zieht die Augenbrauen zusammen, hebt ihre rechte Hand, wie um mich zu unterbrechen. Von mir weggedreht beginnt sie mit gedämpfter Stimme in das kleine dunkelgraue Mikrophon zu sprechen, das links unterhalb ihres Kinns mit einem Clip an der Kante ihre Hemdkragens befestigt ist. Sie nickt ein paar Mal stumm vor sich hin, bestätigt halblaut: „Ja, verstanden, okay, ist klar, ja, Ende."

    Ihre Dienstmütze hat sie im Wagen liegen gelassen. Recht so, bei dem Sommerwetter und ihren blonden Haaren.

    Immer noch dieser freundliche und zugleich feste Blick, als sie sich wieder zu mir dreht und erklärt:

    „Also, es gibt eine neue Lage. Das scheint etwas schwieriger zu werden. Dort drüben in der „Croma-Boutique hat es einen Raubüberfall gegeben. Zeugenhinweise lassen vermuten, dass ein dunkelblauer BMW SUV daran beteiligt war, mutmaßlich als Fluchtfahrzeug. Ich meine ... es handelt sich mutmaßlich um Ihren Wagen. Sie müssen auf jeden Fall hier bleiben und sich zu unserer Verfügung halten. Das kann allerdings dauern. Die Kollegen müssen sich erst einen Überblick über das Geschehen verschaffen. Also, Sie bleiben bitte hier.

    Nach kurzen Zögern: „Oder – kommen Sie, steigen Sie hier ein."

    Damit öffnet sie mir die Beifahrertür. Sie spricht kurz mit ihrem Kollegen, steigt auf der Fahrerseite ein, startet den Motor und lenkt den Zafira behutsam und hupend einige Meter zur Seite. Damit wird zugleich der Weg frei für einen blassblauen VW-Bus mit abgedunkelten Seitenscheiben und zwei Blaulichthalbkugeln auf dem Dach. Der Kleinbus muss vor wenigen Minuten angekommen sein, ohne blinkendes Blaulicht oder plärrendes Tatütata. Die Beamtin winkt kurz den beiden Männern in Zivil, die in dem VW-Bus langsam an uns vorbeifahren, halb in die Alte Rothofstraße einbiegen, parken und aussteigen. Ein paar Fußgänger, denen der Wagen jetzt beim Überqueren der kleinen Straße im Weg steht, ziehen missbilligende Gesichter und machen abfällige Bemerkungen.

    „Tut mir leid, ist halt so, meint die Polizistin zu mir. „Kommen Sie bitte mit, Herr Berkamp.

    Sie läuft zügig zu dem hellblauen VW-Bus, in dem niemand mehr sitzt, öffnet die Schiebetür auf der Beifahrerseite.

    „Bitte warten Sie hier, der Kollege kümmert sich gleich um Sie. Das ist wahrscheinlich der Oberkommissar Schuster."

    Während sie die Tür wieder zuschiebt, lächelt sie noch einmal kurz in meine Richtung und geht zurück zu ihrem Dienstwagen.

    *

    Den Arbeitsraum des VW-Busses beherrschen drei überraschend gut gepolsterte hellgraue Sitze mit hochaufragenden Rücklehnen, Sicherheitsgurten und Kopfstützen. Ich setze mich auf den einzelnen Sitz neben einem flachen Staukasten mit dem Rücken zum Fahrer.

    Von hier aus bietet sich seitwärts ein guter Blick auf das Geschehen vor der Schmuckboutique. Mehr wie ein Echo zwischen den Häusern tönt erneut ein Martinshorn. Mit vielfach grell zuckenden blauen Lichtern rollt ein weiß-roter Rettungswagen die Goethe-Straße hinab und hält schräg hinter dem grauen VW-Passat. Zwei Männer in roten Jacken mit weißen Streifen steigen aus, gehen zur Rückseite des Fahrzeugs und öffnen eine der beiden Türen. Einer der Rettungshelfer trägt einen mittelgroßen kastenähnlichen Rucksack, als sie wenig später in dem Uhrengeschäft verschwinden.

    Vom Rathenau-Platz her biegt ein älterer weiß-rot gestreifter BMW X-5 mit einem Blaulichtbalken und der Aufschrift „Notarzt in die Goethe-Straße ein, bahnt sich im Schritttempo den Weg durch die Zuschauer entlang der Fahrbahn und bremst vor dem grauen VW-Passat. Der Notarzt, ein untersetzter Mann mit grauen Haaren und deutlicher Halbglatze auf dem Hinterkopf, steigt aus, zieht sich geruhsam eine rot-weiße Notarzt-Jacke über, hebt eine dunkelbraune Arzttasche vom Beifahrersitz und schließt die Wagentür. Er schaut in die Runde, schüttelt leicht den Kopf und geht geruhsam zu der „Croma-Ladentür.

    Wenig später wird eine Person auf einer hochbeinigen rollenden Liege aus dem „Croma"-Laden gebracht und in den Rettungswagen geschoben. Die Rettungshelfer steigen ein, der Kastenwagen setzt einige Meter zurück und fährt mit zuckendem Blaulicht, aber ohne Alarmsignal, in Richtung Junghofstraße davon.

    Neben der Tür des überfallenen Uhrenladens steht einer der Kriminalbeamten in Zivil mit zwei uniformierten Polizisten; er scheint ihnen Erklärungen oder Anweisungen zu geben; sie nicken wiederholt. Anschließend geht der Kriminalbeamte in der Boutique.

    Zwei weitere Polizeifahrzeuge rollen langsam heran. Das scheint eine größere Sache zu sein. Spurensicherung, Befragung der Verkäufer, Suche nach Zeugen; alles, was nach derartigen Überfällen in Krimis eher beiläufig beschrieben oder gezeigt wird.

    Wurde tatsächlich mein Wagen für den Überfall benutzt? Wie haben die Typen das geschafft? Ich dachte, moderne Autos mit ihrer aufwändigen Elektronik sind längst nicht mehr so leicht zu knacken wie früher. Scheinbar doch. Oder hatten die eine Art Generalsschlüssel?

    Das jähe Ende meines Samstagvormittagsbummels. Nur aus Zufall bin ich heute durch die Goethe-Straße gegangen statt nebenan durch die Kleine Bockenheimer Straße, im Volksmund Fressgasse genannt. Unsinn, Robert, – Zufälle gibt es allein in unserer begrenzten Wahrnehmung. Wer weiß, wozu es gut sein soll. Warte ab, wohin es dich führt.

    Wenigstens habe ich ordentlich zum Mittag gegessen. Also üben wir uns in Geduld! Hätte ich mich anders verhalten sollen? Was sonst hätte ich tun können? Den privaten Wachmann vor dem anderen Edeluhrenladen ansprechen, wo ich stand, als ich die Polizei anrief? Wenn ich daran gedacht hätte. Der Wachmann hätte das womöglich als irreführende Ablenkung von seiner Arbeit missverstanden. Egal; hätte, könnte, sollte – vorbei. Jetzt ist es, wie es ist.

    Wie lange dauert das wohl, bis einer der Beamten Zeit für mich findet? Natürlich wüsste ich gern, was in dem Laden vor sich geht. Ich könnte aussteigen und hingehen. Aber ich empfinde stets eine Hemmung, das Unglück anderer Menschen zu begaffen. Größere Menschenansammlungen bereiten mir ohnehin Unbehagen. Fest steht; mein BMW ist Teil des Geschehens geworden. Blöd, aber nicht zu ändern. Was habe ich damit tun?

    Dass Polizisten die Sachlage grundsätzlich ganz anders betrachten, konnte ich mir beim gedankenverlorenen Blick aus dem Kleinbusfenster nicht vorstellen. Wie sehr anders, erfahre ich wenig später.

    Obwohl sich auch das als Irrtum herausstellt.

    Als folgenschwerer Irrtum.

    3

    Das Rumpeln der Schiebetür des VW-Busses beendet meine Versonnenheit. Der zivile Kriminalbeamte, der zunächst in die Uhren-Boutique gegangen ist, duckt sich in den Wagen und setzt sich mir gegenüber auf den linken der beiden Sitze jenseits eines schmalen grauen Klapptisches. Er kramt einige Formulare aus einem Schubfach an der Seite neben der Tür hervor, steht wieder auf, beugt sich seitwärts und zieht die Schiebetür zu. Er holt stöhnend Luft, wirft sich zurück in den Sitz.

    „Was ein Zirkus! Hauptsache, die Leute haben etwas zum Glotzen."

    Es folgt ein unterdrücktes Gähnen.

    „Eigentlich ist mein Dienst längst zu Ende. Was soll ’s. Da müssen wir jetzt durch."

    Erste Einschätzung durch mein nebenher tätiges berufliches Handwerkszeug: Vorsicht! Vermutlich eine Neigung zu Aggressivität, sagt mir sein breites, rundliches Gesicht mit flacher, kurzer Nase. Eine schmalere, längliche Kopfform wird unbewusst mit einem sozial offenen, vertrauenswürdigen Wesen in Verbindung gebracht. Der Mann ist kräftig gebaut, hat graublaue Augen, kurze hellbraune Haare mit einer Andeutung von seitlichem Scheitel sowie leichten Geheimratsecken über den Schläfen. Eine scharf gezogene Kinnfalte trägt zu dem Eindruck von Entschlossenheit bei; eine aktive, sportliche Ausstrahlung. Bestimmt macht der Mann Krafttraining.

    Seine Augenbrauen sind ungleichmäßig gewölbt, die rechte in einem flachen Bogen, die linke deutlich höher und stärker gekrümmt. Beinahe wie ein Schatten vertieft sich darüber eine Falte, wenn er spricht. Das rechte Auge wirkt ein wenig offener als das andere. Zusammengenommen ein möglicher Hinweis auf innerer Unausgeglichenheit.

    „Entschuldigen Sie, in der Aufregung habe ich Ihren Namen vergessen. Sagen Sie mir ..."

    „Schuster, Oberkommissar Schuster", unterbricht er mich. Statt in meine Richtung dreht er sich ruckartig seitwärts, blickt zum Seitenfenster. Neben dem VW-Bus ist eine graue Dreier-BMW-Limousine zum Stehen gekommen. Das Dach auf der Fahrerseite ziert ein mobiles Blaulicht, das nicht blinkt.

    „Oh, der Boss. Auch schon da, wie schön," befindet Oberkommissar Schuster mit leicht abfälligem Unterton. Er verzieht den Mund säuerlich, schaut weiter auf den grauen Wagen. Es dauert einige Augenblicke, dann öffnet sich die Tür der Limousine und eine Frau in dunkelblauen Jeans und einem dunkelgrauen Sweatshirt steigt aus. Sie ist schätzungsweise einmetersiebzig groß. Ihrer schlanken Figur nach zu urteilen bewegt sie sich viel. Die knapp schulterlangen Haare können sich nicht zwischen mattem Blondbraun und beige-grauen Strähnen entscheiden. Sie mag Mitte vierzig sein. Nach einem kurzen Blick zu uns bückt sich noch einmal in den BMW und holt eine dieser schwarzen Taschen mit Schulterriemen heraus, wie man sie für tragbare Computer benutzt. Ihre Tasche ist deutlich dicker als ein Laptop und aus Leder gefertigt.

    Während sie den Gurt der Tasche über die Schulter streift, fährt sie sich mit der linken Hand flüchtig durch die Haare und macht eine seitliche Kopfbewegung in Richtung ihres Kollegen. Oberkommissar Schuster steht unverzüglich auf, öffnet die Schiebetür und geht zu ihr an die Vorderseite des VW-Busses. Alles etwas hektisch für mein Gefühl. Da die Schiebetür wieder geschlossen ist, kann ich nicht hören, worüber die zwei sprechen. Schuster deutet mehrfach mit dem rechten Arm hinüber zu der Schmuckboutique oder dem Parkstreifen. Dann zeigt er mit der Hand in meine Richtung.

    Die Frau scheint einige Zwischenfragen zu stellen, worauf er wiederholt den Kopf schüttelt. Auch wenn ich nur seinen Oberkörper sehen kann, der Oberkommissar ist ständig in Bewegung. Stillstehen fällt ihm schwer. Schließlich schaut er seine Kollegin fragend an, hat wohl alles Wichtige gesagt. Die nickt und legt ihre Hand an Schusters linken Arm, um ihn zum Gehen in Richtung der Seitentür des VW-Bus zu drehen.

    Oberkommissar Schuster öffnet die Wagentür und steigt ein. Er setzt sich wieder auf den Sitz gegenüber. Seine Kollegin bleibt zunächst draußen stehen, hat nur einen Fuß auf die Türschwelle gesetzt. Sie beugt sich etwas vor und streckt mir die rechte Hand entgegen:

    „Guten Tag. Mein Name ist Sandner. Ich bin Hauptkommissarin und Leiterin dieser Ermittlungsgruppe."

    Ich schüttele ihre Hand; angenehmer, mäßig fester Griff.

    „Ja, guten Tag. Berkamp. Mein X-3 scheint in die Sache dort drüben verwickelt zu sein. Unfreiwillig. Und jetzt warte ich hier, wie es weitergeht."

    Aus der Nähe betrachtet kommt mir der Gedanke, sie muss älter sein als nach dem ersten Eindruck, eher Ende vierzig. Links lässt ihre beige-grau-braunen Frisur die Andeutung eines Scheitels erkennen, mit leichtem Bogen nach rechts über die Stirn, die Haare ein wenig struppig, als hätte sie selbst daran herumgeschnippelt. Ihre Augen tun es mir an. Sie beherrschen das Gesicht; spontan fallen mir Eigenschaften wie klar, offen, ruhig und aufmerksam ein. Dazu eine zierliche Nase mit einem leichten Stups. Die schmalere Kieferpartie betont ihre Wangenknochen; ihr Gesichtsausdruck wirkt wie von einem Anflug aus Neugier oder Staunen gezeichnet. Ein wenig Make-up um die Augenpartie, der Rest normale, glanzlose Haut.

    Ein hübsches Gesicht? – Geschmackssache. Wach, freundlich, eher auf den zweiten Blick einnehmend. Nur die zwei steilen Stirnfalten, die sich unten links und rechts zu den Augenbrauen hinbiegen, empfinde ich ein wenig störend. Ihre ganze Erscheinung erweckt bei mir den Eindruck: Patent und selbstsicher.

    „Dass diese Gangster keine Rücksicht auf unser Wochenende nehmen, werte ich als erheblich strafverschärfend," bemerkt sie mit einem knappen Lächeln und steigt ein.

    „Wieso, der Zeitpunkt ist bestens gewählt; möglichst viel Trubel in der Stadt," entgegnet Oberkommissar Schuster trocken.

    Wie gesagt, ich betrachte Menschen gern aufmerksam. Besonders, wenn unser Treffen über eine flüchtige Begegnung hinausgeht. Neben Äußerlichkeiten wie Körperhaltung oder Gesichtszüge achte ich auf die Ausstrahlung. Für mich ist das mehr als eine Redensart. Menschen sind buchstäblich lebende Sendemasten. Aus der Schwingungsmedizin ist das längst bekannt. Vor allem das Herz strahlt verblüffend kräftige elektromagnetische Wellen ab, die weit über den Körper hinausreichen. Frauen haben allgemein ein besseres Gespür für die Ausstrahlung anderer Menschen. Auch Männer können das üben; ungefähr, als würde man Spanisch lernen. Du musst nur den Mut aufbringen, deinen intuitiven Wahrnehmungen zu vertrauen.

    Die melden recht zuverlässig, ob du dich zu einer Person hingezogen fühlst, ihre Nähe angenehm empfindest – oder lieber Abstand halten möchtest. Ich gehe einen Schritt weiter. Atme einmal tief durch und werfe einen intuitiven Blick auf mein Energiefeld dicht vor mir. Dort finden sich Hinweise, die mir mehr über die Person vermitteln, als die Augen sehen. Das klappt meist recht gut, auch wenn ich es schwer erklären kann. Als ob vor mir eine klare Nebelhülle auftaucht. Darin erscheinen farbige Umrisse oder Bilder, die ich mit dem Dritten Auge aufnehme. Das geht sogar mit offenen Augen.

    Die Zeit, in der sich die Hauptkommissarin an ihrem Kollegen vorbeizwängt und auf dem zweiten Sitz mir gegenüber Platz nimmt, reicht völlig. Fast schüttele ich verwundert den Kopf beim Vergleich. Sobald ich an Oberkommissar Schuster denke, erscheint eine Art Qualm bedrängend nah vor mir, dicht und grau; dazu empfinde ich ein leichtes Druckgefühl über dem Brustbein. Oh, oh, nicht gerade gut. Als ich mir Hauptkommissarin Sandner vorstelle, wird es weiter und heller um mich, weißlich-hellblau, und das Druckgefühl über der Brust verschwindet. Im Umriss ihrer Gestalt wird ein schwachrötliches Strahlen erkennbar. Das sind zwar nur vorläufige und flüchtige Hinweise; aber ich habe gelernt, auf sie zu achten.

    Oberkommissar Schuster reicht mir ein Formular mit Dienstwappen.

    „Bitte durchlesen und unterschreiben. Ihr Einverständnis mit der Zeugen-Befragung nebst Aufzeichnung und die Belehrung, dass Sie wahrheitsgemäß antworten und nichts Wesentliches weglassen."

    Während ich das Papier überfliege und unterschreibe – was bleibt mir anderes übrig; klar will ich aussagen, vor allem möglichst schnell nachhause – hat Schuster ein flaches schwarzes Tonbandgerät mit einem Mikrofon auf einem kleinen Dreibein auf den Tisch gestellt.

    „Wir nehmen Ihre Aussage auf, wenn die Erinnerung an das Geschehen noch frisch ist. Anschließend habe ich noch ein paar Fragen."

    Er nimmt das Mikrofon kurz hoch, lässt es wieder sinken:

    „Ihr Vorname. Ich brauche Ihren Vornamen."

    „Robert. Robert Berkamp."

    Er nickt knapp, hebt das Mikro wieder in seine Richtung:

    „Datum Samstag, dreiundzwanzigster Julei, dreizehnuhrfünfzig. Ort Frankfurt Goethe-Straße im EF. Einvernahme des Robert Berkamp als Zeuge. Anwesend sind der Zeuge sowie Hauptkommissarin Sandner und ich, Oberkommissar Schuster, beide K 21, Dienstnummern bekannt. Ich müsste mal ihren Ausweis sehen, Herr Berkamp?!"

    Während ich die Plastikkarte aus meinem Ledermäppchen herausziehe, setzt er seine Routineabfrage in Verwaltungstonlage fort: Wohnort Geburtsdatum.

    Schuster sieht mich zweifelnd an. „Aha, 59 Jahre; so, so."

    Familiestand (geschieden, eine Tochter).

    „Beruf?"

    „Wer, meine Tochter oder ich?"

    „Mann, Sie natürlich."

    „Verhaltenscoach."

    „Also Psychotherapeut."

    „Nein, Herr Schuster, das wäre falsch."

    Er schaut mich überrascht an: „Das ist doch bloß ein anderes Wort für die gleiche Sache?"

    „Nö. Das geht vielen Leuten so."

    Nach dem Therapiegesetz darf ich mich nicht Therapeut nennen.

    „Und was machen Sie? mischt sich die Hauptkommissarin ein, die bisher still zugehört hat. „Ich meine, dumm gefragt, worin besteht der Unterschied, wenn sich das in wenigen Worten sagen lässt?

    Ihre Stimme klingt offen, die Frage unbefangen gestellt; wie sie mich ansieht, kommt mir das Wort Neugierblick in den Sinn.

    Grob gesagt: Die klassische Psychotherapie betrachtet Menschen mit Problemen als fehlerhaft. Durch Einsicht bringt man sie dazu, sich zu bessern. Wem ’s hilft, der mag es tun. Ich glaube nicht daran.

    „Wird das jetzt ein Therapie-Seminar? Ich dachte, wir hätten einen Fahrzeugdienstahl zwecks Überfall ...", geht Schuster dazwischen.

    „Manni, lass doch mal für den Moment, unterbricht die Kollegin. „Ich finde das wissenswert. Und was tun Sie statt dessen, Herr Berkamp?

    Die Dame wirkt ehrlich interessiert.

    „Einfach gesagt: Ich glaube, Menschen handeln immer nach ihren besten Möglichkeiten. Unter bestimmten Umständen reichen die allerdings nicht aus oder stören sogar. Also gebe ich Anstöße, anders zu denken oder neue Erfahrungen zu machen. Oder helfe Leuten, früheres Versagen loszulassen und zu vergessen."

    Zum Ende meines Kurzvortrags nickt sie nachdenklich und befindet: „Uhum. Alte Sünden vergessen, das klingt gut. Und wie machen Sie das", hakt sie nach.

    „Ich rege Leute an, mit ihren gewohnten Denk- und Verhaltensmustern zu spielen, sie in Frage zu stellen. Das eröffnet Wege, sich von inneren Belastungen zu lösen."

    „Und danach wischt man sich den Hintern ab, und brüllt ,ich bin der Größte!’," witzelt Oberkommissar Schuster plump dazwischen, scheint die Peinlichkeit seiner Bemerkung nicht zu erkennen.

    „Wer es nötig hat, bemerke ich ohne Schuster anzusehen. „Manche Leute wollen lernen, persönliche Entscheidungen zu treffen. Oder das Selbstwertgefühl stärken und frei ihre Meinung sagen.

    „Oder lernen, wie man Leute beim Lügen erwischt?"

    Wenn der Mann wüsste, was er alles ungewollt über sich selbst sagt.

    „Sie werden lachen, Herr Schuster. Auch zu dem Thema habe ich Workshops abgehalten. Gesprächsführung umfasst weit mehr als das Befragen von Tätern oder Zeugen."

    Schuster wird erkennbar rot im Gesicht und bewegt seinen Mund, als hätte er etwas zu kauen.

    „Das wäre doch was für uns, oder, Manischu? Zwei drei Frage, und schon hat man einen Lügner durchschaut," stößt Hauptkommissarin Sandner ihm mit schelmischem Grinsen in die Seite. Der wirft ihr nur einen missvergnügten Blick zu. Frau Sandners Stirnfalten bewegen sich etwas abwärts. Alles andere als ein Traumpaar, die beiden.

    Was geht mich das an?!

    4

    Langsam löst sich meine innere Anspannung. Die beiden Beamten machen bloß ihre Arbeit. Und wir drei führen einfach ein Gespräch miteinander. Also bringen wir es mit Anstand hinter uns; zumal ich mir nichts zuschulden habe kommen lassen. Danach werde ich mit den beiden ohnehin nicht mehr viel zu tun haben.

    Unbewusst habe ich bisher vor allem zu Oberkommissar Schuster gesprochen. Um beiden gleichermaßen zugewendet zu sitzen, drehe ich mich etwas nach rechts. Hauptkommissarin Sandner streicht sich wieder flüchtig die Haare aus der Stirn. An ihrem linken Ohrläppchen blitzt ein kristallklarer rundgeschliffener Ohrschmuck auf, kaum größer als ein Hemdknopf. Passt zu ihr und sieht nett aus, bleibt mir sogleich im Kopf hängen. Eine einfache Handbewegung mit einnehmender Wirkung. Aus diesem Winkel betrachtet finde ich ihr Gesicht recht hübsch.

    Anders als bei ihrem Kollegen weht von ihrer Bekleidung keine Spur von Zigarettengeruch herüber. Das bringt der Frau einen dicken Pluspunkt bei mir ein. Frührer habe ich selbst mäßig geraucht. Als Gisela, jetzt meine Ex-Frau, mit unserer Tochter Claudia schwanger war, ließ ich es von einem auf den anderen Tag sein. Seit der Zeit habe ich eine ausgewachsene Abneigung gegen das Rauchen und den Geruch von Tabakqualm entwickelt. Für mich kann eine Frau noch so klug, hübsch und attraktiv sein; sobald sie zur Zigarette greift, verliere ich unweigerlich jedes Interesse an ihr.

    „Herr Berkamp, hallo, hier spielt die Musik!" holt mich Oberkommissar Schuster aus meiner Erinnerung zurück.

    „Also, wir nehmen Coach als Berufsbezeichnung. Coach ... klingt auch interessanter. Kann man davon leben?"

    „Wenn ich tot wäre, würde ich hier nicht sitzen."

    Frau Sandner hebt den Kopf leicht, die beiden Stirnfalten schieben sich ein wenig aufwärts, während ihre Wangenmuskeln kleine Fältchen um die Augen ziehen – strahlende Augen. Sie lacht los, nicht sehr laut und mehr in sich hinein.

    „Stimmt."

    Das Lachen lässt sie jünger, beinahe mädchenhaft aussehen. Beim Versuch – einfach neugierig – die Farbe ihrer Augen zu ergründen, ertappt sie mich. Bestimmt werde ich rot, als sie meinen Blick spürt, mich ansieht – und ebenfalls errötet. Ihre Augen erscheinen braun, schimmern aber dunkelgrün, wenn mehr Licht von der Seite darauf fällt.

    Oberkommissar Schuster schaut schweigend erst sie, dann mich und wieder seine Kollegin an.

    „Sehr witzig," befindet er trocken. Als er sich mir wieder zuwendet, wirkt sein Gesicht einen langen Augenblick wie versteinert; die Augenlider zu schmalen Schlitzen verengt, der Blick hart und starr. Im Geist ist der Mann irgendwo anders, bis er einige Male blinzelt.

    „Schuster, Manni, was ist, mach weiter," sagt Frau Sandner und tappt mit der rechten Hand auf seinen linken Unterarm. Als Schuster sich etwas aufrichtet, empfinde ich einen Schub Unbehagen. Seine ganze Ausstrahlung hat sich verändert. Da ist etwas Abschätziges, etwas ... Kaltes, Überlegendes, Entschlossenes in seinem Gesichtsausdruck.

    *

    „Darf ich Ihr Handy haben?"

    Die Frage klingt wie eine Aufforderung.

    „Tut mir leid, ich besitze kein Mobiltelefon."

    „Wie bitte! Sie, hören Sie mal. Sie haben uns doch angerufen! Was wollen Sie uns hier vormachen?"

    Sein Ton hat sich deutlich verschärft.

    „Augenblick, Herr Schuster. Warum sollte ich Ihnen etwas Falsches sagen? Ich habe kein Handy. Ich mag die Dinger nicht. Eine Frau hat mir ihres für den Anruf bei der Polizei geliehen. Die Frau hat da drüben gearbeitet, ich glaube Fenster geputzt."

    „Na ja, das lässt sich leicht überprüfen. Sie haben kein Mobiltelefon, Herr Berkamp. Nehmen wir zur Kenntnis, Punkt," stellt Frau Sandner fest, einfach und geradeheraus.

    Es folgt eine ausführliche Befragung. Nach dem, wo ich am Vormittag war, was ich getan, im Zusammenhang mit dem „Croma"-Überfall gesehen habe. Ich bemühe mich, die drei Personen, die mutmaßlich an der Tat beteiligt waren, so genau wie möglich zu beschreiben. Wenn ich die Augen schließe, gelingt es mir zwar einigermaßen, die dunkle Erscheinung der männlichen Gestalt am Steuer des BMW zu erinnern. Doch sehr viel mehr von seinem Gesicht habe ich nicht gesehen. Es dürfte kaum reichen, den Mann wiederzuerkennen, falls er vor mir stände. Zu den beiden Frauen, die in den Wagen zustiegen sind, kann ich bis auf ihren entschlossenen Gang, die flatternde Bekleidung und ihre großen Hüte nicht mehr sagen.

    „Nächste Frage. Wo, sagen Sie, haben Sie Ihr Fahrzeug heute morgen geparkt?"

    Die Hauptkommissarin übernimmt die Gesprächsführung.

    „In der Staufenstraße. An der Kreuzung neben einer Kindertagesstätte. Da gibt es samstags morgens meistens freie Parkplätze."

    „Sie haben den Wagen ordnungsgemäß geparkt, also in keinem Halteverbot oder auf einer Sperrfläche, und abgeschlossen?"

    „Ja, na klar. Den Schlüssel habe ich hier bei mir."

    „Das heißt gar nichts", wirft Schuster ein.

    „Ja, das stimmt," stellt sie fest.

    „Wer hat sonst noch Zugang zu den Wagenschlüsseln?"

    „Niemand. Den Wagen fahre nur ich. Und verliehen habe ich ihn auch nicht. Das Ganze ist mir selbst ein Rätsel."

    „Den Schlüssel brauchen wir," befindet Oberkommissar Schuster.

    „Also, darf ich bitten?"

    Wieder dieser harte Ton und der kalte, abschätzige Blick.

    „Ja, selbstverständlich."

    Dass diese Schlüsselringe immer fingernagelsplitternd zäh sein müssen, wenn man sie öffnen will.

    „Okay, Leute, wir fahren dort hin, erklärt Frau Sandner bündig. „Manni, fährst Du? Ich sage den Kollegen Bescheid und Abmarsch.

    Sie greift seitwärts nach ihrer Tasche, während Schuster: „Ende der Zeugenbefragung gegen vierzehnuhrfünfundzwanzig" in das Mikrofon sagt und das Gerät abschaltet. Ich bleibe einfach sitzen, erschöpft und schwer in den Knochen.

    *

    Auf dem Reuterweg schaltet Oberkommissar Schuster das Blaulicht ein und fährt zügig links über die Mittellinie in die Staufenstraße hinein, gegen die Richtung der Einbahnstraße. Zum Glück kommt kein Auto entgegen. Links hinter dem Spanischen Kulturinstitut befindet sich die Kindertagestätte, ein bunt bemalter Betonflachbau, umgeben von Büschen und Bäumen. Wo ich meinen BMW am Morgen geparkt habe, steht jetzt ein dunkelgrüner Mini. Schuster stoppt den VW-Bus mitten auf der Kreuzung und steigt sofort aus.

    „Wie nicht anders zu erwarten. Hier gibt es nichts mehr zu sehen," bemerkt er schulterzuckend, als wir neben dem Mini stehen.

    „Mal langsam, Herr Kollege."

    Frau Sandner dreht sich suchend um.

    „Schau doch mal, ob Du etwas findest. Zigarettenstummel zum Beispiel, da bei dem Hinterrad des Mini, wie wäre es mit dem! Wer weiß, wozu es gut ist."

    Schuster hebt flüchtig beide Hände: „Okay, Boss, schon überredet."

    Er greift in seine Jackentasche, zieht eine kleine weißliche Plastiktüte heraus und bückt sich. Ich sehe ihm zu und fühle mich betroffen; als könnte ich etwas dafür, dass hier nicht mehr zu sehen ist.

    Die Hauptkommissarin schaut an der silbergrauen Metall- und Glasfassade des Bürohauses gegenüber empor.

    „Ob da heute jemand arbeitet? Vielleicht gibt es hier einen Pförtner. Manni, ich gehe mal vorn zum Eingang."

    Sie hält inne, dreht sich zu mir.

    „Herr Berkamp, tut mir leid. Für ’s Erste sind wir wohl auch fertig. Jedenfalls können wir jetzt nichts mehr für Sie tun. Ach, Moment, hier, ich gebe Ihnen noch meine Karte, meine dienstliche Nummer. Wie kommen Sie nachhause?"

    „Jedenfalls ohne mein Auto. Ich nehme die S-Bahn. Sobald Sie meinen Wagen finden, wäre schön wenn Sie ..."

    „Na klar, unterbricht sie mich und streckt mir die Hand entgegen. „Davon können Sie getrost ausgehen. Kommen Sie gut heim. Wiedersehen. Natürlich müssen wir ihn erst mal finden, den Wagen. Ach ja, vielleicht warten Sie noch ein oder zwei Tage, bevor Sie Ihre Versicherung über den Diebstahl informieren. Die entsprechende Meldung ist für uns reine Formsache.

    *

    Der Zug nach Weißkirchen hält an der Alten Oper, im Tunnel tief davor. Von der Staufenstraße dorthin ist es nur ein kurzes Stück zu Fuß. Kaum zehn Minuten später besteige ich die Regionalbahn S 5 in Richtung Bad Homburg, sitze aber in Gedanken noch in dem blassblauen VW-Bus.

    Auf meine Intuition kann ich mich verlassen. Das habe ich oft genug erlebt.

    Dieser graue Schatten vor meinem Energiefeld; später die beachtliche Veränderung in Oberkommissar Schusters Blick – kalt und unbeteiligt. Als dachte er über eine ganz andere Sache nach. Oder als ob er mich nicht ernstnahm und meine Aussagen als unerheblich abtat.

    Seine Kollegin dagegen empfand ich durchgängig aufmerksam und verständnisvoll. Sogar nach Einzelheiten meiner Arbeit hatte sie gefragt. Und wenn alles gespielt war, eine eingeübte Schau – er bedrohlich, sie besänftigend? Dagegen sprachen ein paar unübersehbare, unausgesprochene Kleinigkeiten im Umgang der beiden miteinander.

    *

    An diesem Samstag in der Goethe-Straße kommt mehr in Gang als die polizeiliche Ermittlung eines Uhren- und Schmuckraubes. Was wirklich gespielt wird, zeichnet sich nur wenige Tage später in harten Umrissen ab. Auch mit mir gespielt wird. Dinge, von denen ich nichts ahne. Die nichts mit mir zu tun haben; gleichwohl mein Leben in ernste Gefahr bringen. Heraufbeschworen durch Leute, von denen ich es am wenigsten erwarte.

    Auch wenn sie keine Beweiskraft besitzen; meine tagebuchähnlichen Aufzeichnungen helfen, das Geschehen zu verarbeiten und die Erinnerung daran wach zu halten.

    5

    Mit dem Abstand wachsen unschöne Einsichten. Von der vorbeieilenden Landschaft bekomme ich kaum mehr als flüchtige Bilder mit. Statt mich entspannt zurückzulehnen, hocke ich mit dumpfem Magendruck in der S-Bahn und fühle mich schuldig. Obwohl ich nichts Unrechtes getan habe. Wäre ich doch bloß heute zuhause geblieben! Warum habe ich ausgerechnet gestern Abend vergessen, meine Intuition um einen Ausblick auf den heutigen Tag zu bitten? Vielleicht hätte ich mich dann irgendwie anders verhalten. Und wenn ich den Wagen nur in einer anderen Straße geparkt hätte.

    Jetzt stehe ich dumm da. Und verdächtig für die ermittelnden Polizeibeamten, tönt es in mir. Wie sich denen die Sachlage darstellt, werden, nein müssen sie die Möglichkeit meiner Beteiligung an dem „Croma"-Überfall in Betracht ziehen. Na klar; als Mitwisser, der das Fluchtfahrzeug bereitstellt und sich anschließend dreist als Unschuldslamm anbietet. Damit die übrigen Täter Zeit haben, sich und die Beute in Sicherheit zu bringen. Wahrscheinlich lassen die Beamten längst meinen Namen durch ihre zahlreichen Computerdateien laufen, um Ungereimtheiten in meinem Leben und Hinweise auf kriminelle Neigungen oder frühere Missetaten zu finden. Blödsinn, Robert, du denkst falsch; und die finden nichts, was dich verdächtig macht.

    Im Geist sehe ich meinen BMW bereits auf einer Autobahn durch Thüringen in Richtung Polen oder Ukraine fahren. Obwohl: Gerissene Räuber tauschen das Fluchtfahrzeug möglichst schnell aus gegen einen unauffälligen Wagen. Jedenfalls ist verblüffend, wie tief ein Auto, das dir unerwartet abhanden kommt, in dein Leben einschneidet. Es erzwingt – durch seine pure Abwesenheit – völlig ungewohnte Entscheidungen bei den alltäglichsten Kleinigkeiten.

    Nehme ich ein Taxi oder gehe ich zu Fuß nach Hause? Zum Glück regnet es nicht. Schön, du brauchst dich nicht zu ärgern, keinen Regenschirm dabei zu haben. Dafür stellen sich ungewohnte Fragen, rütteln Zweifel an früheren Entscheidungen. Gibst du ihnen nach, stellen sie mit atemberaubender Geschwindigkeit alles auf den Kopf. Deine ganze bisherige Lebensweise, alles, was dir nur Stunden vorher selbstverständlich schien. Musst du jetzt öfter hier lang latschen? Willst du ausgerechnet hier länger wohnen? Unbedingt weiter wie bisher leben? Du könntest etwas anderes machen? Aber was? Und wo?

    Nur, weil du – alle hundert Jahre einmal – auf dem Bahnsteig des S-Bahnhaltepunkts Weißkirchen stehst, sich hinter dir die pneumatischen Türen schließen und der Zug leise singend davonfährt. Die einfacheren Fragen hilft der Körper beantworten. Umgeben von Feldern, liegt die S-Bahn-Station an der Grenze zu Steinbach. Gleich hinter einer kleinen Anhöhe entstand links der Landstraße ein neues Gewerbegebiet mit Autoreparaturbetrieben und zwei Supermärkten. In einem davon ein Joghurt und eine Banane aus der Lebensmittelabteilung, ein großes Glas Tee, gereicht von der freundlichen Dame hinter dem Bäckertresen im Eingangsbereich, dazu zwei Nussecken – der Magen jedenfalls hat nichts zu melden auf dem Nachhauseweg.

    *

    Mein Kopf dagegen wird immer munterer, je länger sich die öde Bahn-Straße durch den Ort hinzieht. Wie eine Handvoll Uhrwerke, die in unterschiedlicher Schlagzahl und Lautstärke wissen wollen, was die Stunde geschlagen hat. Als junge Familie, vor knapp zwanzig Jahren, haben wir uns gern für Steinbach als Wohnort entschieden. Fast alles, was wir zum täglichen Leben brauchten, war bequem zu Fuß oder mit Roller und Fahrrad erreichbar; Sparkasse, Poststelle, ein Lebensmittelladen mitten im Ort. Ab der zweiten Klasse durfte Claudia meist allein zur Schule gehen. Landwirtschaftsbetriebe hielten noch echte Hühner, Kühe und Pferde. Die nahen Felder boten immer etwas zu bestaunen oder zu entdecken; und wenn es nur die Ostereier waren, die Gisela kurz zuvor unauffällig ausgelegt hatte, damit Klein-Claudia sie finden konnte.

    Lange Jahre verdiente ich als Organisationsfachmann in einer Beratungsfirma mit Schwerpunkt Fahrzeugbau gutes Geld. Mein Arbeitsplatz in Eschborn lag praktisch in Sichtweite; fünf Minuten mit dem Auto von Parkplatz zu Parkplatz. Im Sommer bin ich oft mit dem Fahrrad gefahren. Die gelegentlichen Einsätze in einer unseren Außenstellen in Hannover, München, Bremen oder Köln und die häufigen Reisen zu unseren Kunden, Auto-Zulieferbetriebe im In- und Ausland, brachten zusätzliches Geld ein. Für teure Hobbys reichte es zwar nicht; aber wir lebten gutversorgt und zufrieden. Auch Giselas Halbtagsbeschäftigung in einer kleinen Werbefirma und ihr geschickter Hand im Umgang mit Geld trugen dazu bei. Nur wenn ein Wirtschaftsabschwung die Autobranche in Mitleidenschaft zog und die Zahl meiner Geschäftsreisen überhand nahm, knirschte es im Familiengebälk.

    Von alledem ist wenig geblieben; einmal abgesehen von den Straßennamen, den meisten Häusern oder der Traditionsgastwirtschaft „Zum Schwan" am Anfang der Eschborner Straße. Aber sonst? Gisela und ich sind seit über zwölf Jahren geschieden, Claudia lebt mit ihrer eigenen Familie in Santa Fe, im amerikanischen Bundesstaat New Mexico. Den einstigen Lebensmittelmarkt ersetzte ein Ramschladen mit Ein-Euro-Waren. Die Poststelle besteht nur noch als Ladennische. Neue Häuserreihen haben die Felder weiter weggeschoben.

    Und ich betätige mich seit über drei Jahren als freiberuflicher Coach. Die Wohnung habe ich behalten, weil sie – längst abbezahlt – ein preiswertes Wohnen ermöglicht; weil sie geschützt ist mit der später eingebauten Sicherheitstür.

    Vor allem aber, weil sie praktisch ist mit ihren vier Zimmern; ein großes Wohnzimmer, ein geräumiges Schlafzimmer und zwei etwas kleinere Räume; einen davon nutze ich als Arbeitszimmer beim Coachen. Das andere Zimmer bietet Platz für eine Hantelbank, den Box-Sack, eine Dojo-Matte als Meditationsunterlage – mein „Fliegender Teppich". Mir gefällt meine Wohnung, ich fühle mich darin wohl.

    *

    Die Hände auf die Marmorfensterbank gestützt stehe ich ewig in der Küche, schaue – ohne zu sehen – auf die Bäume im Licht der Nachmittagssonne vor dem Fenster. Zielgerichtetes Denken oder planvolles Arbeiten wollen zu diesem Tag nicht passen.

    Diese junge Polizistin mit dem Pferdeschwanz, die mich in Empfang genommen hat; die war nett, und sah süß aus. Auch die Art, wie die Hauptkommissarin mit mir umgegangen ist – freundlich, geradeaus und sachbezogen – hat mir gefallen. Aber der Herr Schuster?!

    Überraschende Erfahrungen mit der Polizei.

    Im nächsten Augenblick sehe ich völlig andere Bilder vor mir; etwas angegraut in der Erinnerung, dennoch so gegenwärtig und brutal wie damals. Das muss im Herbst 1972 gewesen sein, in Frankfurt an der Hauptwache. Kurz zuvor war ich aus der Bundeswehr entlassen worden, hatte mich an der Universität für Betriebswirtschaft eingeschrieben und bei einer Bekannten in der Bornheimer Landstraße eine Bude unterm Dach bezogen.

    Ich glaube, es war ein Freitag. Jedenfalls hatte US-Präsident Nixon den Bombenkrieg auf Laos und Kambodscha ausgeweitet. Und in der Innenstadt fand eine Großdemonstration von Studenten und Gewerkschaftsjugendgruppen gegen den Vietnam-Krieg statt; ein ziemlicher Rummel. Im nordhessischen Witzenhausen aufgewachsen, nach dem Abitur bei der Bundeswehr in Marburg an der Lahn und in Unna in Westfalen stationiert – ich hatte keine Ahnung, wie es bei einer Großdemonstration zugeht.

    Innerlich war ich selbstverständlich auf Seiten der Amerikaner und entschieden für den Vietnam-Krieg. Etwas anderes verbot mein familiärer Hintergrund. Zugleich war ich neugierig. Das Leben in Frankfurt ist zu aufregend, um an solch einem Tag in der Bude zu hocken. Damals ratterten noch Straßenbahnen durch die Zeil von der Hauptwache in Richtung Zoo und Berger Straße. Die Demonstration war laut, Trillerpfeifen, Ho-Chi-Minh-Rufe reichlich, Reihen von wiederholt kurz anhaltenden und dann ein Stück weit losrennenden untergehakten Leuten. Ich konnte kaum fassen, wie unübersehbar viele Menschen mit ihren Transparenten durch die Straßen zogen. Beim Anblick einzelner der jungen Männer kam mir das Wort „langhaarige Affen" in den Sinn. Unglaublich, wie viele junge und hübsche Frauen da mitmarschierten.

    Doch dann das Ende. Mit zahllosen anderen Menschen stehe ich auf dem Bürgersteig vor dem Kaufhof an der Ecke zur Großen Eschenheimer Straße. Etliche sind Unterstützer, viele Neugierige, weit mehr Unbeteiligte; Menschen, die Einkäufe und Erledigungen machen und durch den Vorbeimarsch aufgehalten werden. Ich fühle mich in meiner Einstellung für den Vietnam-Krieg eher noch bestärkt. Die letzten Demonstranten ist noch nicht ganz vorbeigezogen, da stürmen Horden von Polizisten mit knappen Schutzhelmen und schimmernden Ledermänteln zwischen den dahinkriechenden Straßenbahnzügen hervor und dreschen mit langen Schlagstöcken buchstäblich auf alles, was zwei Beine hat, ein; auf die hinteren Teilnehmer der Demo, auf alle Umstehenden.

    Augenblicklich setzt ein ziemliches Geschrei und Gedränge der geprügelten Menschen ein, die fast panisch in alle Richtung davonrennen. Da tauchen weitere Horden Schlagstock schwingender Polizisten auf, die wahllos auf die Fliehenden einschlagen. Von denen hasten viele in den Kaufhof – und die Polizisten folgen ihnen prügelnd. Von Entsetzen wie gelähmt bemerke ich von rechts eine Gruppe Polizisten über die Straße kommen und laufe ebenfalls durch die offene Glastür in das Kaufhaus. Die Polizisten darin drehen sich einfach um und schlagen weiter zu. Bis heute sehe ich noch das wütend schreiende Gesicht eines Polizisten nah vor mir: „Geh doch nach drüben, du Scheißkerl, wo du hingehörst!"

    Dann trifft mich sein Schlagstock an der Schulter, ein anderer Schlag auf dem Rücken. Ich falle zu Boden, ein wenig überrascht, weil die Schläge weniger wehtun als befürchtet. Dafür sitzt der Schrecken um so tiefer. Mir gegenüber

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