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Die Chinesische Mauer
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eBook1.021 Seiten12 Stunden

Die Chinesische Mauer

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Über dieses E-Book

Ort der Handlung: San Francisco in Kalifornien. Psycho-Krimi mit einem Blick auf Polizeiarbeit im Widerstreit von Recht und Gesetz sowie mit Bezügen zu spirituellen Energien. Menschen, die glauben das Richtige zu tun und dennoch auf unglückliche oder tragische Weise scheitern.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum20. Okt. 2017
ISBN9783742772091
Die Chinesische Mauer

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    Buchvorschau

    Die Chinesische Mauer - Günter Billy Hollenbach

    Dienstag, 4. Oktober

    1

    „Freeze! Don’t move!"

    Das Lautsprecher-Kommando wirkt wie ein Schock.

    Es reißt mich aus der Verwirrung nach dem gerade überstandenen Kampf. Ich stehe, immer noch schwer atmend, am Fuß der Florence-Treppe, versuche zu begreifen, was geschieht. An ihrem linken und rechten Ende hat die breite, hüfthohe Begrenzungsmauer des Oberen Broadway jeweils eine Aussparung von etwa einem Meter. Dahinter führen zwei schmale steile Steintreppen zu den tieferliegenden Straßen hinab. Dort hinunter muss der Angreifer geflohen sein, wird mir später klar.

    Jetzt jedenfalls ist er verschwunden.

    Das Kommando gilt mir.

    Mitten auf der Fahrbahn halb rechts stoppt ein schwarzweißer Ford Crown Victoria Polizeiwagen – „Police Interceptor" – die Scheinwerfer auf mich gerichtet, der Lichtbalken auf dem Dach grell rot, gelb und blau zuckend.

    Wie ist die Polizei so schnell hier hergekommen?

    Ehe ich mich besinne, lehnt ein Beamter in dunkelblauer Uniform vorgebeugt über der halb offenen Beifahrertür. Er stützt beide Arme ausgestreckt auf die vordere Dachkante des Fahrzeugs, seine Dienstpistole auf mich gerichtet.

    Irgendwoher tönt eine weitere Polizeisirene.

    Zum Glück habe ich das Kommando richtig gehört, das wörtlich „Gefriere, beweg dich nicht!" bedeutet. Ich stehe wie angewurzelt da, merke, wie sich meine Schultern anspannen.

    Das Mädchen in meinem Arm dreht sich halb in die Richtung, aus der das Kommando kam, und erklärt mit tränengetränkter Kinderstimme:

    „Mein Bein tut weh. Er hat an meinem Bein gezerrt."

    Dabei wischt es eine Träne auf meine Wange. Ich spüre das kleine, pochende Herz auf meiner Brust.

    Ich streichele der Kleinen kurz über den schmalen Rücken:

    „Alles ist fein, Schätzchen. Es ist vorbei."

    Irrtum.

    Der Polizist auf der Fahrerseite öffnet langsam seine Tür.

    Im Aussteigen ruft er in meine Richtung:

    „Mann, bleib stehen! Beweg dich nicht!"

    Es dauert ein paar Sekunden, bis ich halbwegs begreife, was vor mir geschieht. Als der Beamte neben dem Wagen steht, lehnt er die Tür wieder an. Mit unmissverständlicher Bewegung steckt er seine gezogene Pistole zurück in das Halfter an seinem breiten schwarzen Dienstgürtel, hebt langsam beide Handflächen mir entgegen, schaut flüchtig von mir zum oberen Ende der Steintreppe hinauf und ruft:

    „Leute, bleibt ruhig! Alles ist okay! Lasst uns alle ruhig bleiben! Niemand wird verletzt."

    Er tut zwei kleine Schritte in meine Richtung, etwas seitwärts. Er will nicht in die Schusslinie des Kollegen neben dem Dienstwagen geraten, wird mir klar.

    „Lassen Sie uns reden, Mann. Was auch immer Sie mit dem Kind vorhaben, vergessen Sie es. Sie kommen hier nicht weg. Aber gemeinsam finden wir eine Lösung."

    Mich packt ein heißes Erschrecken. Beinahe lasse ich das Mädchen fallen. Als ich wieder fester zugreife, warnt der Beamte, während er eine weiteren Schritt auf mich zu kommt.

    „Ganz ruhig, Mann. Wenn Du dem Kind Schaden zufügst, verschlimmert das die Lage."

    Blitzartiges Verstehen. Ich fasse es nicht!

    Der will mich zur Aufgabe überreden!

    Ich sehe den Mann an; ein gestandener mittelgroßer Beamter um die fünfzig, leicht untersetzte Figur, kantiges Gesicht, viel Grau in seinem kurzgeschnittenen, dunklen Haar. Ich schaue ihm bewusst in die Augen, so ruhig ich es mit meinem hämmernden Herzen schaffe.

    „Mein Herr," setze ich an, muss mich selbst unterbrechen. Mein Hals ist trocken wie altes Papier.

    Der Beamte nickt kaum merklich.

    „Mein Herr, es ist anders als es aussieht. Das Mädchen ist sicher. Ich habe nicht die Absicht, ihm weh zu tun."

    Der Polizist steht jetzt kaum zehn Meter vor mir, wiegt seinen Kopf bedächtig, sucht nach der passenden Antwort.

    „Das mag sein. Aber wir haben ein Problem, richtig?! Solange Sie das Kind festhalten. Sie verstehen das?"

    Was meint er damit? Soll ich das Mädchen fallen lassen?

    Was nun?! Mir rasen die Gedanken durch den Kopf. Die Kleine überrascht mich zusätzlich. Sie dreht sich wieder mir zu, legt beide Arme um meinen Hals, drückt sich an mich und quäkt laut los.

    „Die sollen weggehen. Ich mag keine Polizei."

    Natürlich hört der Beamte es.

    „Sind Sie der Vater des Kindes?"

    Ich stutze. Von ihm aus betrachtet – denkbar.

    „Antworte, Mann!"

    Was, wenn ich „Ja" sage, aber das Kind sofort widerspricht?

    „Der Vater? Nein, ich bin nicht der Vater."

    „Dann muss ich dir sagen, Mann, wenn Du das Kind nicht gleich loslässt, müssen wir Gewalt anwenden. Aber wir beide wollen das vermeiden, nicht wahr ... Zum letzten Mal ...!"

    2

    „San Francisco ist 49 Quadratmeilen umgeben von Wirklichkeit."

    An der Rückseite der fingerartig in die Bucht hinausragenden Piergebäude Drei bis Sieben des Hafens von San Francisco verläuft eine breite Betonpromenade, zum Wasser hin begrenzt von einem schweren, dunkelgrünen Eisengitterzaun. Blumenkübel, das sanfte Plätschern des Wassers, Möwengeschrei – ein Spaziergang entlang dieser Promenade öffnet die Sinne auf vielfältige Weise. Im Abstand von zwanzig bis dreißig Metern findest du in Bauchhöhe an dem Zaungeländer zahlreiche längliche Messingtafeln. Auf jeder steht ein Spruch geschrieben, den irgendein kluger oder bekannter Mensch über San Francisco geäußert hat.

    Einer davon ist der 49-Quadratmeilen-Satz. Er stammt von Paul Kantner, Gitarrist und Mitbegründer der 1965 in der Stadt entstandenen, LSD-inspirierten Rock-Gruppe „Jefferson Airplane. Zu weltweiter Bekanntheit kam die Band während des „Sommers der Liebe 1967.

    Damals pilgerten mehrere Zehntausend junge und jung gebliebene Amerikaner nach San Francisco, riefen die „Flower-Power"-Bewegung aus und verwandelten mehrere Stadtviertel in eine beinahe ganzjährige Freiluft-Partieszene; Sex, Drugs and Rock-and-Roll rund um die Uhr.

    Kaum wegen des vorherrschenden Wetters; die meiste Zeit selbst von Mai bis September ist es trotz Sonnenscheins kühl bis saukalt. Wohl mehr als Folge seiner Geschichte bot sich San Francisco an für diese und andere Arten und Unarten kalifornischer Lebensäußerungen.

    Ihr Vorläufer wurde erstmals im Jahre 1775 aktenkundig.

    Damals erreichte der Seefahrer Juan de Anza im Zuge der spanischen Ausweitung ihrer mexikanischen Kolonie die Bucht hinter dem Golden Gate, hisste eine Flagge und richtete den Militärstützpunkt Presidio ein.

    In der ihnen eigenen Art gründeten die mitgereisten Priester des Ordens des heiligen Francisco de Assisi gleich daneben eine Mission. Sie nannten den Ort „Yerba Buena" (Wohltuende Kräuter) und entwickelten ihn zu einem kleinen Handelsplatz.

    Dorthin zog es per Schiff bald Gruppen von Schotten, Holländern, Franzosen, Deutschen und später, von Alaska her, auch Russen und Chinesen – noch ehe über Land von Osten her die Trecks der amerikanischen Siedler in größerer Zahl hinzukamen.

    Nach dem amerikanisch-mexikanischen Krieg 1846 wurde Mexiko gezwungen, Texas, New Mexico und Upper California für 15 Millionen Dollar an die USA zu verkaufen. Bei seiner offiziellen Gründung 1847 war San Francisco also bereits eine Vielvölkersiedlung. Seitdem behauptet sie nach New York ihren Platz als kulturell vielfältigste und geistig toleranteste Stadt der USA.

    Für mich ist San Francisco inzwischen so etwas wie eine zweite Heimat.

    *

    Polizeipistolen – auf mich gerichtet!

    „Freeze! Don’t move!"

    Ein Befehl mit Folgen. Er verändert mein Verhältnis zu meiner Umgebung nachhaltig. Die vertraute Stadt beginnt, ein fremdartiger, furchterregender Ort zu werden. Unwiderruflich.

    Oh, Shit! Der Polizist hält mich für den Kidnapper.

    Wie sagt das Sprichwort: Keine gute Tat bleibt ungestraft! Wohl war.

    Zur falschen Zeit am falschen Ort das Richtige getan.

    Ohne einen Schimmer zu haben, in was du dadurch reingeraten bist.

    Was mit der zufälligen guten Tat in Gang kommt, hinterlässt Spuren.

    Ich war schon fast vierzigmal in den USA. Zu Besuch bei meiner Tochter in Santa Fe, New Mexico; am häufigsten in Kalifornien, zur Teilnahme an Workshops, oder einfach um Urlaub zu machen. Doch jetzt reichen wenig mehr als zehn Tage. In denen verändern sich mein Verhältnis zu Amerika und meine Ansichten über viele Dinge in dem Land gründlicher als bei allen früheren Reisen zusammen. Auch meine Einstellung zu mir und meinem Leben als geschiedener Mann im fortgeschrittenen Alter gerät heftig durcheinander. Immerhin, als kleine Hilfe erweist sich, dass ich über Erfahrung im Umgang mit Schusswaffen verfüge.

    Und dass mich ein Schutzengel begleitet. Zum Glück versteht sie den Satz von der sträflich guten Tat besser als ich. Oder hält ihn für Unsinn. Jedenfalls muss sie eine ordentliche Menge an Überstunden geleistet haben, um mich vor den Folgen meiner guten Tat zu bewahren. Denn nach normalem menschliche Ermessen müsste ich ... Danke, meine Liebe. Mein Schutzengel heißt Cassandra.

    *

    Oberstes Gebot, wenn in diesem Land Polizisten ihre Waffe auf dich richten: Unverzüglich innehalten, möglichst reglos dastehen.

    Mach das mal mit einem zappelig heulenden, kleinen Mädchen in den Armen.

    Die Beamten haben jede Menge Angst. Wer hier die Nachrichten verfolgt, weiß das. Angst, dass die Person, der sie gegenübertreten, im Hosenbund oder in der Jackentaschen eine geladene Pistole trägt.

    Nicht unbegründet in einem Land, in dem die Menge der privaten Schusswaffen die Einwohnerzahl übertrifft. Eine falsche Bewegung, und tödliche Kugeln fliegen. Notwendige Eigensicherung nennt die Polizei das hinterher.

    Für mich wäre es das Ende, kaum dass ich hier angekommen bin.

    3

    „Hey, Leute, es ist fünf Minuten vor acht. Auf, ihr Langschläfer! Zeit für ein gutes Frühstück. Es verspricht ein schöner Tag zu werden."

    Ich blinzele hinüber zu dem flachen, schwarzen Radiowecker auf dem schmalen Schreibtisch neben dem Bett. Tja, wenn du es sagst.

    Ich habe wunderbar geschlafen und wild geträumt.

    „Bis in den Abend hinein erwarten wir viel Sonne über der Bucht mit Temperaturen an die siebzig Grad über der Innenstadt. Also, macht euch auf, und los geht’s mit der nächsten halben Stunde, wie immer beste Musik auf eurem Sender ,Nintysixpointfive – KOIT’".

    Sogleich ertönt Kelly Clarksons Hit „Break Away". Ich schließe die Augen, stöhne behaglich, und meiner Seele wachsen Flügel. Beinahe siebzig Grad Fahrenheit, also gut zwanzig Grad in Celsius-Temperatur. Was kann schief gehen an einem Tag, der so freundlich beginnt?!

    Obwohl ich gewarnt bin.

    Gestern, Montag, kurz nach Mittag war ich, aus Santa Fe kommend, hier eingetroffen. Mein Hotel bietet kein Frühstück an. Das kommt – mit Besteck, Teepott, Tauchsieder und Müslischüssel aus Edelstahl im Koffer – meinem Wunsch nach gesundheitsbewusster Ernährung entgegen. Kaum hatte ich mein Gepäck im Hotelzimmer abgestellt, war ich Lebensmittel einkaufen gegangen, stets die erste Aufgabe nach der Ankunft.

    Hier ein Auto zu mieten ist wenig sinnvoll. Es gibt ein dichtes Netz unterschiedlicher öffentlicher Verkehrsmittel; Busse, Straßen- und U-Bahnen bei niedrigen Fahrpreisen. Einen Autoparkplatz am Straßenrand in der Nähe zu finden ist seltene Glücksache, und die Gebühren in den privaten Parkhäusern sind abschreckend hoch. Vor allem laufe ich gern selbst weite Strecken.

    Am späteren Nachmittag habe ich der „East West Academy of Healing Arts kurz telefonisch meine Ankunft mitgeteilt. Dort bin ich als einer von drei Dozenten für einen sechstägigen Workshop „Energiearbeit und Schamanismus eingeplant, der am kommenden Montag beginnt. Bis dahin mache ich ein paar Tage Urlaub, bereite meine Kurzvorträge und Übungen vor. Meine Art zu arbeiten, wenn ich in San Francisco bin: Anregende Kopfarbeit, gemischt mit ausgiebigen Spaziergängen und mäßigem Krafttraining in einem der zahlreichen Fitnesszentren.

    Wie immer am Ende meiner Meditation zum Tagesausklang habe ich meine Intuition gestern Abend um einen Ausblick auf den kommenden Tag gebeten.

    Ihre Antwort fiel bemerkenswert aus.

    Schlagartig empfand ich ein starkes Unbehagen, dumpf und grau. Im nächsten Moment tauchte dicht vor mir ein fratzenhaftes Gesicht auf, das in blauen und roten Lichtblitzen eines Polizeiwagens verschwand. Die Bilder erschienen – wie in einem Nebelschleier – sehr kurz, aber deutlich, schräg vor meiner Stirn. Ich weiß, das klingt verrückt, ist für mich aber seit Jahren ebenso normal wie Schuhbänder schnüren. Noch bemerkenswerter war das unbehagliche Gefühl dumpfer Beklemmung minutenlang über meiner Herzgegend.

    Natürlich habe ich meine Intuition gefragt, ob ihre Antwort eine ernste Gefahr für mich ankündigt. Dies verneinte sie.

    Doch der Nachklang von Unbehagen blieb. Okay, Vorsicht ist angesagt. Ich versprach meiner Intuition und mir selbst, am nächsten Tag besonders achtsam zu sein, vor allem in Straßenverkehr. Vielleicht hätte ich, wenn ich länger in der Meditation geblieben wäre, zusätzliche Voraussignale erkennen können. Aber meine Gedanken waren immer wieder abgeschweift. Wohl auch wegen der Müdigkeit, die mit den drei Stunden Zeitverschiebung von New Mexico nach Kalifornien einhergeht.

    *

    „Der Mensch ist ein Gewohnheitstier," pflegte Oma Anna zu sagen, in deren Haushalt im nordhessischen Witzenhausen ich meine überwiegend glückliche Kindheit verbrachte.

    Wirklich erklären kann ich nicht, warum ich regelmäßig zwei- oder dreimal im Jahr für mindestens zehn Tage nach San Francisco reise. Trotz des oft unangenehm kühlen, windigen Wetters mit Nebelschwaden, die in unschöner Regelmäßigkeit vom Pazifik her über die Stadt ziehen. Meine seit frühester Kindheit anhaltende Faszination für das amerikanische Englisch dürfte ein Grund sein. Hier lebe, denke und träume ich in der Sprache und fühle mich stets beinahe wie ein andere Person. Dass ich wiederholt an Workshops zu Themen wie Kommunikation oder Spirituelle Energiearbeit teilgenommen habe, mag auch eine Rolle spielen. Als aufrichtigste Entschuldigung kann ich nur vorbringen: Ich fühle mich einfach wohl in der Stadt.

    Indianische Stämme, die hier vor den Mexikanern lebten, waren davon überzeugt, dass der Ort über besondere Kräfte, heilende Energiefelder verfügt. Da kann etwas dran sein, denn unter der Stadt verläuft die Berührungslinie zweier Kontinentalplatten. Die ist stellenweise durchlässiger für erdmagnetische Schwingungen, bringt dummerweise aber eine hohe Erdbebengefahr mit sich.

    Amerikanische Touristen mit ihren höchsten zwei Wochen Jahresurlaub kommen selten länger als zwei Tage nach San Francisco. In der Zeit wollen sie möglichst viel von der Stadt „mitnehmen". Mit handy-gelenktem Tunnelblick stürmen sie von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten. Treten sich gegenseitig in den Einkaufs- und Vergnügungsstätten, die man unbedingt gesehen haben muss, auf die Füße. Grant-Avenue in China-Town, Fisherman’s Warf mit Pier 39, Union-Square und natürlich die Endstationen der lauten, teuren und urig unbequemen Cable Cars. Alles Orte, die ich tunlichst meide.

    Mein Ereignishunger richtet sich auf Beschäftigungen, die viele Leute zu langweilig finden dürften, um dafür aus dem Bett zu steigen.

    Manchmal verbringe ich halbe Tage in den Leseräumen der verschiedenen Universitäten im Stadtgebiet oder drüben in Berkeley. Gelegentlich erkunde ich auf gut Glück ein Stadtviertel, das ich vorher noch nicht besucht habe, betrachte die vielfältig bunten Häuser mit und ohne meist winzigen Vorgärten. Bei klarem Wetter fahre mit dem Bus westwärts in den weitläufigen, überwiegend bewaldeten Golden Gate Park oder an den Pazifik dahinter, wo sich flache, graue Sandstrände mit langen, dumpf rauschenden Ozeanwellen mischen.

    *

    Eine Perle San Franciscos wölbt sich hoch über dem Broadway-Tunnel. Der „Russische Hügel. Um das Jahr 1840 wurden hier oben mehrere Seeleute der „Russland-Amerika-Gesellschaft begraben.

    Der Weg dort hinauf gehört zu meinem persönlichen Pflichtprogramm für den ersten Vormittag. Vorbei an dem Kabel-Antriebshaus für die Cable Cars laufe ich zügig die Washington-Straße hinauf. Die steigt an einigen Stellen so steil an, dass mir nach kurzer Zeit die Waden schmerzen und ich außer Puste gerate. Das gehört für mich dazu, um wieder in der Stadt anzukommen.

    Ein kurzes Stück des Oberen Broadway über dem Autotunnel ist eine stille Sackgasse, die ostwärts von einer flachen Mauer begrenzt wird. Dahinter fällt der Hügel steil ab; die Autos in der Straße darunter dürfen nur quer zur Fahrrichtung parken. Wie an kaum einer anderen Stelle bietet sich von der Mauer aus ein offener und weiter Blick auf die Bucht bis hinüber nach Oakland.

    Und auf den wirtschaftlich wichtigsten Teil von San Francisco; halbrechts der Finanzbezirk mit seinen Hochhaustürmen, dahinter die Oakland-Bay-Brücke sowie die Piers der Hafenanlagen, weiter links der „Telegraph Hill mit dem bekannten Coit-Turm, näher im tiefer gelegenen Vordergrund „North Beach mit seinen italienischen Restaurants und Cafés und gleich vor dem Hügel der weite Bereich von „China-Town. Kaum verwunderlich ist „Russian Hill eine der feinen und teuren Wohngegenden der Stadt geworden.

    Die wahre Größe der Häuser und Villen hier oben ist auf den ersten Blick nur schwer zu erkennen, da sich viele an die steilen Hügelfelsen schmiegen und von hohen Mauern, dichten Büschen und alten Bäumen umgeben sind. Die ganze Gegend ist grün, die Luft riecht frisch, es ist angenehm ruhig.

    Etwa fünfhundert Meter weiter nördlich, parallel zum Broadway, gibt es eine zweite ähnliche Sackgasse, die etwas höher gelegene obere Vallejo-Straße. Sie wird zur Innenstadt hin ebenfalls von einer flachen Mauer begrenzt, an die eine schmale, steil abfallende öffentliche Grünanlage anschließt. Auch hier verdecken links und rechts üppige Büsche und Bäume die wahrscheinlich teuren Häuser – ein Ort wie aus einer mediterranen Urlaubslandschaft, beschaulich, zum Verweilen einladend. Wenn – wie an diesem Dienstag Vormittag – die Sonne scheint, ist dies für mich der richtige Ort, um mit Muße dazusitzen und gedankenverloren auf die Stadt hinabzuschauen.

    Zwischen beiden Sackgassen verläuft – mit nur vier oder fünf schmucken Häusern jeweils links und rechts – eine schmale Stichstraße, die nicht zufällig Florence heißt. An deren Ende führt eine gewinkelte und an der Außenseite von dichtem Grün umgebene, steile Steintreppe mit zwei Absätzen hinab zu der flachen Mauer am Oberen Broadway.

    4

    Mein kleines Glück mitten in der Großstadt. Eine gute halbe Stunde sitze ich auf einem schrägen Stück Gras jenseits der flachen Vallejo-Mauer. Tief durchatmen, den Ort fühlen, die Seele baumeln lassen, sich ziellos umschauen. Ein paar Gedanken an meinen Beitrag zu unserem Workshop melden sich von allein.

    Von der Wiese schlendere ich die kurze Stichstraße Florence entlang. Erst später erinnere ich mich an eine Kinderstimme. Unbewusst nehme ich sie von unterhalb heraufklingend wahr, während ich die schmale Steintreppe zum Oberen Broadway hinabsteige.

    „Janey, schnell, lauf weg, nach oben zum Eingang!"

    Die Treppenstufen sind steil; ich achte auf meine Schritte abwärts. Und bekomme die Bewegung mit. Über den Rand der steinernen Treppenbegrenzung hinweg rechts unter mir. Aufwärts, mir entgegen, ein vorgebeugter Kopf mit kurz geschnittenem schwarzem Bürstenhaar, ein Stück männlicher Oberkörper, mit dunkelrotem T-Shirt bekleidet. Ein Mann kommt die Treppe hinauf.

    Der Mann hat es eilig.

    Noch ehe er den Treppenabsatz erreicht, ist wie ein Schatten eine Bewegung vor mir. Etwas stößt gegen mein linkes Knie. Nicht schmerzhaft; trotzdem erschrecke ich. Ein hörbar schnell atmendes, längliches, schwarzgelbes Bündel. Für einen Sekundenbruchteil denke ich an einen Hund.

    Es ist ein Kind.

    Geduckt und eben noch verdeckt durch die steinerne Treppenbegrenzung muss es um die Ecke des scharf gewinkelten Treppenabsatzes gewetzt sein. Ein kleines Mädchen. Es zuckt zurück, stolpert, greift dabei nach meinen Beinen. Keucht: „Hilf mir!"

    Ein kleines, gehetztes Stimmchen.

    Das Ganze braucht kaum zwei Augenblicke.

    Ich greife zu, um mich selbst vor dem Stolpern zu bewahren. Mit der rechten Hand in einer leichten Verbeugung nach dem eisernen Handlauf an der Mauer. Mit der Linken fange ich instinktiv das Mädchen, um es vor dem Zurückfallen auf den Treppenabsatz zu bewahren.

    Das Kind rennt davon, durchzuckt es mich.

    Es wird verfolgt.

    Gleichzeitig kommt der schwarzhaarige Mann um den Mauerwinkel des Treppenabsatzes, dreht sich in meine Richtung, setzt zum Sprung die nächsten Stufen hinauf an. Er schaut hoch, sieht mich, hält überrascht für einen Sekundenbruchteil inne. Wahrscheinlich bringt mich sein entschlossener Blick dazu; ich greife auch mit der rechten Hand nach dem Kind, erwische es unter dem Po. Schwups. Das Mädchen hängt, beide Arme um meinen Hals gehakt, vor meiner Brust. Ehe ich es richtig begreife.

    Der Mann ist sofort an uns, zwei oder drei Stufen unter mir. Er packt meine rechten Hand, erwischt mit der anderen ein strampelndes Bein des Kindes. Er ist höchstens dreißig Jahre alt, hat asiatische Gesichtszüge, eine sportliche Figur mit strammen Muskeln an den Oberarmen und unter dem T-Shirt. Er stößt einen keuchenden Laut aus. Ich spüre, wie mein Arm nachgibt und das Mädchen ein Stück abwärts rutscht.

    Der Mann zieht ruckartig an uns beiden.

    Er tut es kräftig.

    Beinahe entgleitet mir das Kind. Aber es hält fest, klammert sich an mich. Intuitiv lehne ich mich zurück und trete zu. Nicht fest genug, aus Angst, selbst die Treppe hinabzufallen. Ich erwische den Mann irgendwo unten am Brustkorb. Sein Zug an meiner Hand lässt nach.

    Das Mädchen heult auf:

    „Aua, lass los, aua!"

    Zum Glück.

    Ihr Schrei löst einen Schub Entschlossenheit in mir aus.

    Ich trete erneut zu. Der Kerl hat es geahnt, lässt das Mädchen los und schlägt mit der rechten Handkante auf meinen Oberschenkel. Ein spitzer, heftiger Schmerz durchfährt mich. Mein Bein fühlt sich einen Augenblick lang wie taub an. Ich kippe vorwärts, zwei Stufen hinab, dem Mann entgegen. Mit dem weinenden Kind vor mir sehe ich nur einen Teil seiner Gestalt. Im Fallen drehe ich mich seitwärts, suche Halt an dem eisernen Handlauf an der Mauer, greife ins Leere, spüre flüchtig einen unangenehmen Zug im Nacken. Das Kind klammert sich an mich, mit aller Kraft.

    Von unserem Fall überrascht versucht der Mann auszuweichen. Doch die Begrenzungsmauer des Treppenabsatzes lässt ihm keinen Raum. Ich gebe mir zusätzlichen Schwung, falle von der vorletzten Stufe mit der linken Schulter voll gegen den Kerl, er stöhnt, verdreht kurz die Augen, ruckt sogleich seinen Brustkorb empor und greift erneut nach dem Mädchen. Unsere Blicke treffen sich; schwarze asiatische Augen, durchdringend, verächtlich; dicht vor mir. Mich packt pure Angst. Schrecksekunde. Womöglich ist der Mann kampfsportgeübt. Wenn der voll in Fahrt kommt, sind das Kind und ich geliefert.

    Bleib dran an ihm, möglichst dicht!

    Völlig wehrlos bin ich nicht, will es nicht sein. Ich spanne meinen Körper an, gedankenlose Vorwärtsbewegung. Der Mann zieht sein Knie hoch, stößt mäßig schmerzhaft gegen meinen linken Oberschenkel. Wir hängen zu nah aneinander. Er versucht einen Kopfstoß, trifft das Mädchen an der Schulter. Mit dessen Aufschrei übernimmt heiße Wut in mir das Kommando. Du Scheißkerl! Sie befeuert mich. Ich beuge mich ein wenig zurück, schwinge meinen linken Arm, der das Mädchen am Rücken fasst und an mich drückt, ruckartig nach außen. Mein Ellbogen trifft den Mann voll auf die Nase. Mir ist, als knirscht etwas unter meinem Unterarm. Sofort quillt ein Blutstrom aus seiner Nase, unerwartet stark. Ich richte mich auf, umfasse den Rücken des Mädchens wieder, weiche einen Schritt zurück, überrascht, dass ich beinahe außer Atem bin.

    Der Schwarzhaarige hebt ruchartig seinen Kopf in den Nacken, betastet kurz seine deutlich verformte Nase, zieht eine Grimmasse des Schmerzes. Starrt mich an, blanker Hass in den Augen. Und greift in seine Hosentasche. Panik in mir. Wenn er ein Springmesser zieht ... Wie ferngesteuert, eher ungeschickt, trete ich ihm zwischen die Beine. Er hat den Tritt erwartet, schnappt meinen Schuh. Immerhin fühle ich seine Weichteile am Fuß. Der Mann verzieht das Gesicht – vor Schmerz oder in hämischer Wut grinsend –, ergreift meinen Schuh auch mit der anderen Hand. In Panik schlage ich ihm erneut den Ellbogen auf die Nase. Dieses Mal spritzt ihm Blut in die Augen, er stöhnt in sich hinein, wirkt orientierungslos, ich rucke mein Bein nach unten, bekomme meinen Fuß frei und torkele rückwärts.

    Die Begrenzungsmauer der Treppe fängt mich seitlich hart auf.

    Der Angreifer wischt sich über die Augen, seine Hand fährt wieder in die Hosentasche. Ich trete ihm gegen den Oberschenkel, schlage erneut nach seiner blutenden Nase. Doch er weicht aus, reißt seinen Arm hoch, zieht dabei an drei Fingern einen grobgewirkten gelben Lappen aus der Hosentasche. Während er die Hand zum Gesicht führt, spannt er seinen Oberkörper an, wirft sich gegen uns, duckt sich nach rechts, rennt in mehreren federnden Sprüngen die Treppe hinab und verschwindet links unterhalb der Treppenbegrenzungsmauer. Etwas Hellblaues rutscht beim ersten Sprung aus seiner Hosentasche – ich sehe es nur zufällig –, prallt von seinem Oberschenkel ab und bleibt ein paar Stufen tiefer liegen.

    Ich schnaufe heftig, kann kaum aufrecht stehen. Und habe ein bebend weinendes, fremdes Kind im Arm. Das sich an meinem Hals festklammert. Zwischen seinem Schluchzen wird mir das grell jaulende und zwischendurch trötende Signal eines näher kommenden Polizeiwagens bewusst. Der Angreifer muss es früher als ich wahrgenommen haben. Wohl deshalb hat er die Flucht ergriffen.

    Als das Signal erkennbar in die Sackgasse hineinklingt, gehe ich – mit unsicheren Schritten und einem ziehenden Schmerz im Oberschenkel – langsam den unteren Absatz der Florence-Treppe hinab zu dem freien Platz vor der niedrigen Broadway-Mauer.

    Dem Polizeifahrzeug entgegen.

    Da stehen wir jetzt.

    5

    Das Mädchen in Zeitlupe vor mir auf den Boden stellen, das müsste ich tun. Um dem Beamte meine freien Hände zeigen zu können. Nur, die Kleine klammert sich fest seitlich an meinen Nacken. Dreht dem Beamten vorsichtig den Kopf zu, ängstliche Neugier in den Augen.

    „Zum letzten Mal ... lass das Kind los, Mann!"

    „Brian!"

    Der Polizeibeamte schreckt zurück. Unvermittelt kreischt die Kleine los, fuchtelt mit ihrem rechten Arm vor meiner Schulter.

    „Wo hast du denn gesteckt, Brian?, kräht sie, ihr Gesicht dicht neben meiner Nase. Schlagartig strahlend, immer noch mit Tränen an den Augenwimpern, erklärt sie mir: „Brian ist mein großer Bruder.

    Der Beamte ist ebenso überrascht wie ich.

    In einen Anflug von Erleichterung denke ich, mit dem Kind vor meinem Bauch schießen die Beamten nicht so schnell.

    Eine makabere Form der Sicherheit.

    In der angedeuteten Richtung, zwischen zwei schräg geparkten Autos, einige Meter hinter dem Polizeiwagen, steht ein vielleicht achtjähriger Junge, leicht gebückt, blass, erkennbar verschüchtert.

    Der Zuruf seiner Schwester hat ihm Mut gemacht. Er richtet sich auf, winkt linkisch, läuft beinahe hüpfend los. An den Autos vorbei hin zu dem Beamten, der mich angesprochen hat.

    Der Mann entspannt sich sichtlich.

    „Mister Police Officer," sagt der Junge höflich und zugleich bestimmt.

    „Sie machen einen großen Fehler. Der da ist einer der guten Kerle."

    Zum Betonung winkt er erneut in meine Richtung.

    Der Beamte schaut kurz zu seinem Kollegen neben der Beifahrertür, dessen Pistole zwar noch in meine Richtung weist, aber wenigstens nicht mehr in Schusshaltung.

    „Erkläre das, Junge. Du meinst, der da ist ein guter Mann. Wieso das?"

    „Oh Mann, der Kidnapper ist der Böse!"

    „Der Kidnapper? Also doch er da?"

    „No way! Der nicht! Der Kidnapper ist schon weg. Abgehauen. Da ... die Treppe runter."

    Der Beamte dreht sich dem Jungen ganz zu und fragt geduldig weiter.

    „Das heißt, der Kidnapper ist ein anderer?"

    „Ja klar, das sage ich die ganze Zeit. Der Mann da hat Janey geholfen. Er hat sie gerettet, bestimmt."

    Jetzt erkenne ich die Stimme des Jungen. Er hatte vorhin gerufen, dass die Kleine weglaufen soll.

    Der Beamte nickt kurz und ruft über mich hinweg:

    „Okay, Brüder, alles ist cool! Danke, aber bleibt noch da!"

    Ich schaue hinauf zum oberen Anfang der Florence-Treppe. Dort stehen zwei weitere Polizisten mit gezogenen Pistolen. Einer von beiden grüßt mit der Hand an der Dienstmütze und steckt seine Waffe weg.

    „Hey, Herr Polizist, spricht Brian den Beamten vor mir wieder an, „der Kidnapper ist weg. Aber sein Auto steht noch da.

    Ich wage zwei langsame Schritte auf die beiden zu.

    Der schmale, schlanke Junge – in Jeans und hellgrauem Sweatshirt – hat bemerkenswert schwarze Augen in einem offenen, ovalen Gesicht mit einer asiatischen oder mexikanischen Anmutung. Seine mit sorgfältigem Scheitel gezogenen schwarzen Haare schwingen seitlich ein wenig über die Stirn; ein gutaussehender, wohlerzogener, aufgeweckter Bursche.

    „Ah ja, und welches Auto ist das?"

    Brian dreht sich zur Seite und deutet auf einen älteren Ford Taurus.

    „Da, der graue Schrotthaufen. Da hat er böse Mann drin gesessen. Wir haben da vorn gespielt. Wir malen gern mit Kreidestiften oben auf die Steinmauer. Der Kerl hat uns erst beobachtet. Seine Schrottkiste stand eine Zeitlang da."

    Der Junge zieht die Schultern hoch und errötet. Er schaut verlegen zu Boden. Schließlich überwindet er sich und erklärt mit leiser Stimme:

    „Als er ausstieg und zu uns lief, wusste ich sofort, der Mann bedeutet Ärger. Wie der geguckt hat, vor allem auf Janey. Ich habe es leider zu spät kapiert."

    Als er zu dem Beamten aufschaut, glänzen Tränen in seinen Augen.

    „Ich hätte besser auf Janey aufpassen müssen. Es tut mir leid."

    Ein prima Junge, denke ich.

    Und der Beamte? Er nickt knapp, greift links über seine Brusttasche, nimmt seinen vergoldeten Polizei-Stern ab und reicht ihn dem Jungen.

    „Das war sehr klug von dir. Du hast dich versteckt, scharf wie ein Adler beobachtet und mir bei der Arbeit geholfen. Schenken kann ich ihn dir nicht, Junge. Aber als kleine Anerkennung für deinen Mut darfst Du ihn halten und dir anschauen."

    „Oh, Mann, wirklich?! Ein echter Polizei-Stern?! Cool! Danke, Herr Polizist, vielen Dank."

    Der Junge greift erfreut zu.

    Der Beamte gibt ihm einen Klaps auf die Schulter und tritt ein paar Schritte näher zu mir.

    „Ich bin Officer Clayton. Sagen Sie mir Ihren Namen bitte."

    „Robert Berkamp."

    Zur Sicherheit buchstabiere ich meinen Nachnamen noch einmal langsam. Das Mädchen auf meinem Arm dreht sein Gesicht weg.

    „Gut, Danke, Herr Berkamp. Die Sache ist die. Wir haben einen Anruf bekommen. Da oben, auf dem Balkon in dem Haus nebenan. Jemand hat beobachtet, wie die beiden Kinder erst hier gespielt haben und dann ein Mann das Mädchen schnappen wollte. Deshalb sind wir hier. Jetzt wollen wir natürlich wissen, wie Sie zu dem Kind kommen. Sie können sich ausweisen?"

    Also schildere ich das unerwartete Zusammentreffen mit dem Mädchen und dem Mann bis zu seiner Flucht. Clayton hört aufmerksam zu, schaut kurz zur Treppe.

    „Dann sind wir also gleich danach hier eingetroffen, richtig?"

    „Stimmt. Man kann fast sagen, Sie haben die Kindesentführung verhindert."

    „Wir? Verstehe ich nicht. Sie hatten doch das Kind."

    „Richtig, als der Kampf zu Ende war. Der Kerl war kräftig und wirkte entschlossen ... ich habe Angst gekriegt, dass er ... wenn das länger gedauert hätte, ... ich weiß nicht, wie es ausgegangen wäre."

    „Gut, Herr Berkamp. Ich bin froh, dass die Sache dieses Ende genommen hat und soweit gut aussieht. Allerdings müssen Sie hier bleiben für eine förmlich Befragung mit Protokoll. Eigentlich sollten wir zunächst die Kinder befragen. Am besten unabhängig voneinander. Aber ohne deren Eltern ist das praktisch ausgeschlossen. Das könnte uns rechtlich in Teufels Küche bringen."

    Wie der redet betrachten die Beamten den Vorfall als schwerwiegend genug, um eine offizielle Meldung zu erstellen. Statt sich freundlich zu verabschieden und davonzufahren.

    Officer Clayton dreht sich nach dem Jungen um.

    „Mein junger Freund, komm mal her."

    Wir gehen zu dem schwarzweißen Polizeiwagen, wo der Junge, mit dem Dienst-Stern winkend, neugierig in das Innere schaut.

    „Du, sag mir noch mal deinen Namen?"

    „Ich heiße Brian."

    „Okay, Brian. Und wie weiter?"

    „Wong. Ich heiße Brian Wong."

    Der Beamte nickt sehr langsam, als fühlte er eine Ahnung bestätigt.

    „Und deine Schwester, wie heißt die?"

    „Ich heiße Janey Wong," tönt die Kleine über meine Schulter hinweg. Dann richtet sie sich auf, dreht ihren Kopf zu dem Polizeibeamten und erklärt mit größter kleinkindlicher Selbstverständlichkeit:

    „Ich heiße Janey Wong und wir wohnen da oben. Vielen Dank, Herr Polizist, dass Sie uns geholfen haben. Ich mag trotzdem keine Polizei. Bist Du mir jetzt böse?"

    „Mann, Janey, Du spinnst, so etwas sagt man nicht," fährt Brian seine Schwester mit gutgemeintem Tadel an.

    „Wieso?, gibt die wie bestellt zurück, „wenn es doch stimmt! Außerdem, Brian, Du sollst nicht dauernd an mir nörgeln. Ich warne dich, wenn ich groß bin, nörgele ich an dir zweimal soviel.

    Officer Clayton lacht erheitert.

    *

    Zum ersten Mal, seit es mir in die Beine gelaufen ist, nehme ich das Bündel Mädchen richtig wahr. Janey Wong. Sie steckt in einem goldgelben Ringelpulli und einer schwarzen Jeanshose. Sie ist schlank, zierlich und leicht auf meinem Arm, wirkt aber nicht zerbrechlich. Tiefschwarze, glänzende Mandelaugen und ein herzförmiges Gesicht ähnlich einem jungen Kätzchen deuten wie bei ihrem Bruder auf eine chinesisch-asiatische oder indianische Abstammung hin. Dazu passt das über der Stirn schräge Pony in einem Mopp aus kurzen, schwarzen Haaren, die sich in der Andeutung eines Scheitels seitwärts der Mitte teilen. Ein niedliches Mädchen mit wachen Augen. Mit seiner unbekümmert direkten Art fällt mir spontan das Wort „kleiner, goldiger Schatz" ein. Jetzt schaut sie triumphierend auf ihren Bruder herab.

    Der verdreht nur wissend die Augen und wendet sich wieder dem Streifenwagen zu.

    „Hey, Janey, magst Du auch runter?," frage ich sie.

    Sie schüttelt entschieden den Kopf.

    „Ich mag zu meiner Mammi. Und lieber hier oben bleiben. Wir können doch zu ihr gehen. Herr Polizist, wollen Sie bitte mitkommen?"

    „Mammi ist noch gar nicht da, Dummy," erklärt Brian von Fenster des Wagens her.

    „Selbst Dummy, gibt seine Schwester prompt zurück. „Dann kommt sie eben gleich.

    Der Beamte auf der Beifahrerseite ist inzwischen eingestiegen und schreibt auf der Tastatur des stoßgeschützten Data-911-Laptop-Computers, der serienmäßig bei diesen Dienstfahrzeugen mit dem Funkgerät über der Mittelkonsole eingebaut ist.

    Brian schaut interessiert zu.

    „Junge, komm mit, lass uns sehen, ob eure Mutter zu Hause ist."

    Wir gehen auf die Florence-Treppe zu. Brian folgt einige Augenblicke später wieder hüpfend und laufend nach.

    „Hier, bitte, ich möchte Ihren Stern zurückgeben, damit er heile bleibt. Und danke noch mal. Das war toll."

    Sogleich übernimmt der Junge die ortskundige Führung.

    „Wir können leider nicht hier unten reingehen. Da geht es zum Arbeitszimmer meines Vaters. Ist heute abgeschlossen, weil er auf Reisen ist. Geschäftlich."

    Brian läuft einige Schritte voraus zum linken Ende der flachen Broadway-Quermauer und der Aussparung, durch die der Kidnapper die Steigung hinab geflohen ist.

    Links wird die Aussparung von einer dicht mit üppigen grünen Hängepflanzen bewachsenen Grundstücksmauer begrenzt. Den Anfang der Grundstücksmauer bildet ein dicker, ebenfalls begrünter, viereckiger Steinpfosten mit einer weißen Abschlussplatte darauf. Der Pfosten trägt links eine schmale, mannshohe Tür aus schmiedeeisernem, schwarzem Gestänge mit einem kunstvoll geformten Wappen oben in der Mitte. In all dem Grün der großen Mauerflächen voller Hängepflanzen kann Tür leicht übersehen werden.

    Officer Clayton geht zu der Tür, findet sie verschlossen, betrachtet den schmalen Gang hinter der eisernen Gittertür. Der Gang führt direkt an wuchtigen, ebenfalls grün bewachsenen meterhohen Fundamentmauern entlang zur Rückseite des mehrgeschossigen, links in den Bergfelsen hineingebauten Hauses.

    „Sage ich doch, Herr Officer. Mein Vater ist verreist. Wir müssen die Treppe nehmen hoch zu unserem Vordereingang. Deswegen musste Janey vorhin da hinauf, als sie vor dem Mann weglaufen wollte."

    6

    Von hier unten sieht man gut, wie eng und steil die Florence-Treppe mit der grauen Steineinfassung ist. Wohl auch deshalb endete der Zweikampf glimpflich. Weit ausholen und kräftig zuschlagen konnte der Angreifer nicht. Seine böse funkelnden Augen wieder vor mir, nehme ich erst nach einigen Augenblicken das dünne Streicheln an meinem Hals wahr, höre kaum das fröhlich kichernde „Das ist dein Kinn" neben meinem Ohr. „Und hier deine Nase."

    Beinahe muss ich niesen.

    Mit ihrem kleinen Zeigefinger fährt Janey munter in meinen Gesichtszügen herum. Wie es früher unsere Claudia-Tochter gelegentlich getan hat. Nur dass dieses goldige Mädchen erst vor kaum einer Stunde in mein Leben gestolpert ist. Die Unbekümmertheit, mit der sie mit meinem Gesicht spielt, empfinde ich anrührend. Am liebsten möchte ich die Kleine küssen. Statt dessen tippe ich mit dem Zeigefinger sanft auf ihr Näschen und flüstere ihr ins Ohr:

    „Du bist ein verspielter, kleiner Schatz."

    „Und Du bist mein großer, starker Bodyguard," erklärt sie herzig in entwaffnender Offenheit.

    „Gut, dann steigen wir Treppen," meint Officer Clayton zu mir.

    „Teure Gegend, reiche Leute, die hier wohnen. Haben Sie hier mit jemandem geschäftlich zu tun, Herr Berkamp?"

    „Nein, ich kenne niemanden hier. Ich mag die Gegend, die Ruhe und die hübsche Aussicht auf die Stadt und die Bucht."

    „Kann ich verstehen. Dass Sie Deutscher sind? Ihr Englisch hat die Klangfarbe aus dem Norden, Wisconsin oder Illinois, typisch für deutsche und skandinavische Einwanderer. Die mochten die Gegend, weil sie wohl von daheim den harten Winter gewöhnt waren," ergänzt er verlegen.

    Schau an, der Herr Polizist kann auch zu mir freundlich sein.

    „Danke für das Kompliment. Mein Vater war amerikanischer Soldat in Deutschland. Das hat abgefärbt."

    „Was Sie nicht sagen?! Jedenfalls sprechen Sie besser Englisch als die Hälfte der Einwohner von San Francisco."

    In seiner Hochachtung wachse ich bestimmt um zusätzlich sechs Fuß, etwa einmeterachtzig.

    „Vorhin, Sie verstehen, wie Sie dastanden mit dem Kind ..."

    „Ist schon vergessen. Sie sind lehrbuchmäßig vorgegangen."

    Verwunderter Blick:

    „Das können Sie beurteilen?"

    „Ein wenig. Ich habe vor Jahren an einem Sicherheitstraining an der Universität Santa Cruz teilgenommen. Mit Polizeitrainern aus Los Angeles. Die haben uns einige Grundlagen beigebracht und ähnliche Szenen durchgespielt. Stichwort Verhandlungstechnik."

    „Dann danke ich Ihnen für das Kompliment. Lassen Sie uns gehen."

    Janey hockt die ganze Zeit, erkennbar zufrieden, auf meinem Arm, schaut aufmerksam zwischen dem Beamten und mir hin und her.

    Als wir die Treppe betreten, fällt mir wieder ein, dass der Angreifer beim Wegrennen etwas verloren hat.

    „Wo? Hier?"

    Eine Stufe höher liegt es, hellblau, wahrscheinlich Papier.

    „Cliff, wir brauchen einen Beweismittel-Beutel," ruft Clayton zu dem Streifenwagen hinüber.

    Der Kollege nickt und kommt mit einem weiß und rot als „Beweismittel" gekennzeichneten Plastikbeutel sowie einer Pinzette zu uns.

    „Wo, wer, wie, was?," grinst er mich an, stellt sich aber nicht vor.

    Das Fundstück liegt am Rand der zweiten Stufe. Der Beamte geht in die Knie, greift den verformten Gegenstand, hebt ihn schräg vor seine Augen. Brian hockt in gebührendem Abstand neben dem Polizisten und verfolgt sein Tun mit wachen Augen. Der erklärt halblaut:

    „Okay, was haben wir? Dickes Papier, einmal gefaltet. Da ist Blut, hey, Mann, kein Zweifel, da ist frisches Blut drauf! Und Zahlen, von Hand geschrieben, teilweise blutverschmiert."

    „Ha!," lacht Officer Clayton bissig erfreut.

    „Ich liebe solche Tatorte. Warum hat dieser Knubbelkopf nicht gleich seine Adresse hier gelassen? Das würde uns die Rückzahlung für seinen Blutverlust erleichtern."

    Sein Kollege hat das hellblaue Papier, etwas größer als eine Visitenkarte, mit der Rückseite eines Fingernagels gespreizt und mit der Pinzette in den Plastikbeutel geschoben.

    „Datum Oktober vier, Uhrzeit elfzehn vormittags, ..."

    Der Rest geht in seinem Murmeln unter, während er den Beutelaufkleber beschriftet. Mit dem Inhalt sicher verstaut, steht der Beamte auf, streicht den Beweismittel-Beutel glatt, betrachtet das Papier darin.

    „Und, was steht drauf?" fragt Clayton.

    „Weiß nicht, Zahlen, teilweise verschmiert, schwer zu lesen."

    „Komm, vergiss es. Lass die Technik die DNA sicherstellen. Dann können die sich auch um die Zahlen kümmern."

    „Es sind zwei Zeilen, sagt der Kollege. „Oben steht BW 1032, da drunter nur Zahlen, die letzten drei voll Blut.

    „Mann, cool! Ganz einfach!, springt Brian auf und hüpft auf der Stelle. „Das ist unsere Adresse. Die von meinem Daddy, von seiner Firma, bestimmt. BW heißt Broadway, wetten? Das Andere ist die Hausnummer, 1032. Leute, kommt, schaut her.

    Er läuft einige Schritte auf die seitliche Eisentür zu, deutet erregt auf den Steinpfosten rechts daneben. Kurz unter dem weißen Abschlussstein, teilweise von Blättern verdeckt, wird ein hellblaues, viereckiges Emaille-Schild mit der Zahl 1032 sichtbar.

    „Ich glaube es nicht! Wenn das den Kerl nicht festnagelt," brummt Clayton zufrieden. Dann blickt er mich eindringlich an.

    „Berkamp, und vor Gericht beschwörst Du, dass der Zettel aus der Tasche des Angreifers gefallen ist!"

    Ich muss lachen.

    „Ja, denkst Du, ich habe den da hingeworfen?"

    „Natürlich nicht. Ich will nur alle meine Enten auf der Reihe habe. Wie ich die Sache sehe, das sind brauchbare Spuren, deutliche Hinweise. Dazu das Blut an dem Papier. Wenn wir Glück und seine DNA im Computer haben, ist das Fall so gut wie gelöst."

    Officer Claytons Einschätzung sollte sich als ein ziemlicher Trugschluss erweisen.

    *

    Auf der untersten Stufe der Florence-Treppe erklärt Janey zappelig:

    „Ich will ... runter. Ich muss ... Lass mich runter, bitte."

    Dieses herzige Mädchen weiß, was es will. Keine Spur verstört oder ängstlich. Du musst sie einfach mögen, wie sie zwei Stufen höher dasteht, mit strahlenden Mandelaugen zu dir aufschaut. Sie reckt sich kurz hin und her, läuft flink an mir vorbei nach unten, schnappt Claytons Hand.

    „Du bist jetzt der Böse, okay," eröffnet sie dem überraschten Beamten.

    „Los, Du musst hinter mir herrennen. Von unten nach oben. Nein, jetzt noch nicht. Hey, Du da, mein Bodyguard, geh dort hinauf, und dann kommst Du wieder die Treppe runter und fängst mich. Und dann kämpft ihr beiden. Nicht wirklich natürlich. Ihr müsst nur so tun, wie in echt."

    Keine Frage, wir beide sind einverstanden.

    Clayton ruft seinem Kollegen etwas zu, der eilt zum Dienstfahrzeug und kommt mit einer Videokamera zurück.

    „Kann losgehen," erklärt er, lässt das Objektiv ausfahren und hält die Kamera vors Auge.

    Die Kinder laufen aufgeregt hin und her, Brian ruft zwischendurch:

    „Erst habe ich gedacht, der will etwas fragen. Aber er hat böse geguckt, richtig fies. Deshalb bin ich weggelaufen nach dort links, nein, das ist rechts von hier, egal. Er wollte erst mich fangen, aber ich war schneller. Dabei habe ich Janey zugerufen, sie soll ins Haus flüchten. Weil der Mann sie ganz komisch angeschaut hat, als er kam."

    Als Clayton in einer angedeuteten Verfolgung die Treppe hinaufgeschnauft kommt, dreht Janey sich ihm zu, streckt etwas linkisch ihren kleinen Arm rückwärts in meine Richtung:

    „Der da hat dem bösen Mann voll eine auf die Nase geknallt. Da hat sein Blut gespritzt wie verrückt. Richtig toll. Keine Angst, Herr Polizist, jetzt macht er das natürlich nicht. Hier, wo die Treppe den Knick macht, hier müsst ihr kämpfen."

    Spricht es, dreht sich auf dem Absatz um und streckt mir beide Arme entgegen.

    „Du musst ihm jetzt zeigen, wie Du mich festgehalten hast. Aber Du darfst ihm nicht wehtun, versprochen!"

    Kinder sind wahre Überzeugungskünstler.

    Der Kollege, der mit der Kamera unseren Schritten folgt, schüttelt breit grinsend den Kopf. Clayton lächelt Janey an und stellt gelassen fest:

    „Gut, Du kleiner Schatz, das hast Du großartig gemacht. Jetzt weiß ich genau, was geschehen ist. Nun schauen wir mal nach deiner Mammi."

    7

    Gut zehn Schritte vor uns oberhalb der Treppe, am Ende der Florence-Stichstraße, steht ein zweiter schwarzweißer Ford-Polizeiwagen. Der Motor ist ausgeschaltet, die Warnlichter gelöscht. Einer der Uniformierten lehnt halb sitzend gegen die Vorderseite des Autos.

    „Niemand zu Hause," befindet der zweite, ein stämmiger, junger Mann mit Latino-Gesichtszügen und dichtem, schwarzen Haar. Er deutet mit dem Kinn seitwärts.

    Rechts von uns, neben einem mit Büschen und Bäumen bepflanzten Streifen Erde, liegt ein rotbraun verputztes Haus, vielleicht dreißig Jahre alt, mit einem schmalen, mattgrünen Sims unter der Kante des flachen, roten Ziegeldachs. Von der Straße aus gleicht das Haus einem Bungalow mit einem Hauch Toskana.

    Hier also wohnen Brian und Janey; und ihre Eltern natürlich.

    Schon bei früheren Spaziergängen habe ich das Haus gesehen, mir darüber Gedanken gemacht. Vor allem über die Bauleistung, die darin stecken dürfte. Es muss echt Geld gekostet haben. Seine Hanglage sowie das üppige Grün davor verdecken die wirkliche Größe. Darunter erstrecken sich mindestens zwei weitere, geräumige Stockwerke bis hinab zu der steil abfallenden, grünbewachsenen Außenwand am Broadway-Seiteneingang. Hier oben, links an den Bungalow, grenzen eine breite Garage für zwei Autos mit einem dunkelbraunen Rolltor und eine gleich hohe bewachsene Steinmauer. Zwischen der Garage und dem Bungalow, gut einen Meter zurückgesetzt, führt eine dunkelbraune Tür aus dickem Eichenholz ins Haus.

    „Werden wir hier noch gebraucht?," fragt der stämmige Beamte.

    „Hier nicht, aber unten an der Mauer, gibt Officer Clayton zurück. „Fahrt runter zu dem grauen Ford Taurus. Achtet darauf, dass sich niemand daran zu schaffen macht. Der Abschleppwagen ist bereits verständigt. Die sollen vorsichtig sein, wenn sie die Kiste zur Spurensicherung bringen. Vielleicht steckt mehr hinter der Sache, als auf den ersten Blick erkennbar.

    *

    Noch während er spricht, ertönt ein ratschendes Knacken. Mit leichtem Summton rollt das dunkelbraune Garagentor aufwärts.

    „Wird auch Zeit. Mammi kommt," erklärt Brian und winkt vorbei an dem Polizeiwagen zum Anfang der kurzen Stichstraße.

    Dort ist ein Edel-SUV Mercedes GL 450 eingebogen, beigemetallic, in der Sonne goldschimmernd. Der Wagen rollt im Schritttempo heran, stoppt hinter dem Streifenwagen, der einen Teil der Garagenzufahrt versperrt. Kaum steht der Mercedes, öffnet sich die Fahrertür.

    Eine Frau steigt aus.

    Oh!

    „Mammi!," kräht Janey, reckt beide Arme hoch, bleibt aber auf meinem Arm hocken.

    Ihre Mutter schließt die Wagentür, schaut verständnislos zu uns. Als sich unsere Blicke flüchtig treffen, läuft es mir heiß über den Rücken. Auf Deutsch: Mir fallen fast die Augen aus dem Kopf.

    Nicht gerade stillvoll für eine erste Begegnung.

    Hübsch ist das falsche Wort.

    Die Frau ist bildschön, hat eine unaufdringlich elegante Ausstrahlung. Ihr dunkelbraunes, knapp schulterlanges Haar fällt mit einem formvollendeten Schwung seitwärts über die Stirn, ihr Make-up verleiht der Augenpartie große Ausdruckskraft. Sie trägt einen leichten hellgrauen Anzug aus schimmerndem Stoff, wahrscheinlich Seide, darunter eine beige Bluse mit einer dezenten weißen Halskette. Ihre tadellose Haltung und geschmeidigen, katzenhaften Bewegungen verraten regelmäßige sportliche Betätigung.

    Ich kann nur dastehen und schauen. Mich durchzuckt ein Gefühl wie – in welchem Film hast du die schon einmal gesehen?

    Ihr Aussehen ähnelt einer Mischung aus der jungen Jane Fonda und Jennifer Lopez. Die Frau hier mag knapp über dreißig sein. Ihre glatte Haut mit einer leichten Olivefärbung in dem ovalen Gesicht schimmert wie Samt. Eine Person mit der blendenden Erscheinung eines Fotomodels, zugleich einer frischen Natürlichkeit. Anders als ihre beiden Kinder hat sie braune Augen. Ihr Blick spricht für ein aufgeschlossenes, gebildetes Wesen.

    Nach zwei zögernden Schritten neben dem Polizeiwagen fragt sie eher neugierig als besorgt in die Runde:

    „Was ist denn los? Warum seid ihr hier draußen?"

    „Wir warten auf dich, Mammi," ruft Brian ihr zu.

    „Was ist, ist etwas passiert? Habt ihr beiden etwas angestellt?"

    „Guten Tag, gnädige Frau, ich bin Officer Clayton von der San Francisco Polizei."

    „Das sehe ich, mein Herr," unterbricht sie ihn.

    Ehe sie weitersprechen kann, läuft Brian zu ihr, fasst sie an der linken Hand und sprudelt los.

    „Stell dir vor, Mammi, Du wirst das nicht glauben ..."

    „Wo ist Carmen?," unterbricht sie erneut.

    „Weg, rüber nach Oakland zum Hafen gefahren," antwortet der Junge mit einer Spur Enttäuschung in der Stimme.

    „Wieso ist sie nach Oakland ... Was will sie da, Brian?"

    „Das hat Papa ihr doch gesagt. Sie holt für ihn Papiere aus dem Zoll."

    Er schaut sie unsicher an.

    „Verstehe ich nicht. Wieso macht er das nicht selbst?"

    „Weil er doch verreist ist, Mammi."

    „Ja, Junge, Schätzchen, ich weiß. Trotzdem. Entschuldigung, Herr ... wie war Ihr Name ..."

    Sie schaut auf das Namensschild über seiner rechten Brusttasche.

    „Tut mir leid, Herr Clayton, ich bin ein wenig verwirrt. Ist etwas passiert? Seid ihr okay, ihr beiden; Janey? Wieso haben Sie mein Mädchen auf dem Arm? Sind Sie auch Polizei? Kann mir mal jemand ..."

    Dieses Mal unterbricht Officer Clayton sie.

    „Ich nehme an, Sie sind die Mutter der beiden Kinder, richtig?! Ist Ihr Name Wong?"

    „Na klar sind die beiden meine Kinder und natürlich heiße ich Wong."

    „Schön, Frau Wong. Wie wäre es, wenn wir kurz ins Haus gehen und ich Ihnen erkläre, weshalb wie hier sind."

    „Darum möchte ich sehr bitten."

    Sie geht eilig zu ihrem SUV zurück, schaltet den Motor aus.

    „Müssen Sie alle mit rein? Macht nichts. Also gut, kommen Sie, ich mache uns auf. Obwohl, eigentlich müsste offen sein."

    Der Stämmige der beiden anderen Streifenpolizisten erklärt, während sein Kollege bereits einsteigt:

    „Okay, Clayton, wir kümmern uns um den Taurus und den Abschleppwagen. Lassen Sie, Frau Wong, wir kommen an Ihrem Wagen vorbei. Guten Tag zusammen."

    Clayton nickt ihnen zu.

    „Ja, macht, Leute, und danke nochmals. Fahrt sicher."

    Frau Wong parkt ihren SUV dicht vor die Garage, während der Streifenwagen langsam zurücksetzt.

    Als wir zur Haustür gehen, trällert Janey los.

    „Ist das nicht toll, Mammi?! Ich habe jetzt auch einen Leibwächter. Der Mann hier ist mein neuer Bodyguard."

    Zur Bestätigung zwickt sie mit zwei kleinen Fingern zart in meine Nasenspitze.

    Ihre Mutter stutzt und errötet ein wenig.

    „Herzchen, bitte rede kein dummes Zeug."

    „Aber es stimmt, Mammi! Er hat mich richtig gerettet. Wie im Superman-Buch. Sonst wäre ich jetzt bestimmt weg und gekidnappt. Dafür hat der Kidnapper eine toll blutige Nase."

    Kinder. Clayton neben mir verdreht nachsichtig die Augen.

    Zumindest ist die Frau vorgewarnt.

    8

    Wir betreten der Reihe nach den kühlen Hausflur.

    Rote mexikanischen Fußbodenfliesen. Ein Stück weiter rechts eine geräumige Küche mit chromblitzenden Geräten und einem derben Tisch aus hellem Holz und fünf passenden Stühlen nahe der Fensterseite. Als letzter folgt der Kollege mit der Videokamera.

    Wir setzen uns.

    Natürlich hocken die beiden Kinder dabei, Janey auf dem Schoß ihrer Mutter. Brians einleuchtende Begründung:

    „Ohne uns wäre das Ganze schließlich nicht geschehen."

    Die beiden betragen sich artig zurückhaltend, aber keineswegs ängstlich oder verschüchtert.

    Officer Clayton führt das Gespräch, schildert knapp den Entführungsversuch, lobt Brians Mithilfe bei der Aufklärung des Missverständnisses über mein Verhalten.

    Frau Wong hört mit großen Augen zu, zieht ihr Töchterchen an sich, fragt sie eindringlich, ob ihr etwas wehtut, sie nicht besser einen Arzt rufen soll. Die Kleine beteuert, alles sei bestens, nur schrecklich aufregend gewesen. Schließlich habe sie sich ganz toll stark an mir festgehalten.

    Ich sitze die meiste Zeit schweigend dabei, falle mehrmals zurück in innere Bilder vom Geschehen auf der Treppe. Zwei-, dreimal ertappe ich mich dabei, Frau Wong verstohlen anzuschauen. Das Wort „Star springt mir wiederholt in den Sinn. Im Vergleich zu ihr wirkt Claudia, meine liebste, vielleicht zwei Jahre ältere Tochter in Santa Fe, „nur wie eine patente, nicht unattraktive Durchschnittsfrau; auch wenn sie Dreiviertel der Woche als anerkannte Kinderärztin tätig ist.

    In einer ähnlichen Situation hätte sie alsbald besorgt hinter Ehemann und Hausmädchen hertelefoniert. Frau Wong nimmt während der ganzen Zeit kein Mobiltelefon in die Hand. Ihre volle Aufmerksamkeit gilt uns und dem Gespräch.

    Als ich mich unbeobachtet fühle, atme ich einmal tief durch, um mich zu entspannen, und betrachte Frau Wongs Energiefeld, auch Aura genannt. Interessant! Eine dichte, silbrige Strahlenhülle, fast zwei Hände breit gleichmäßig um Kopf und Oberkörper, wird sichtbar. Eine vitale, ausgeglichene, selbstsichere Persönlichkeit, mindestens so beeindruckend wie ihre äußere Erscheinung. Wetten, männliche Blicke und Gesten der Aufmerksamkeit fliegen ihr nur so zu. Wegen ihres Wesens? Wohl mehr wegen ihres Aussehens. Sie weiß es genau; hat gelernt, damit umzugehen. Wenig überraschend, dass eine derartige Schönheit meist mit innerem Abstand einhergeht. Wie auch immer, Frau Wong verhält sich uns gegenüber unverkrampft selbstbewusst und zugewandt.

    Ich dagegen – fühle meinen Puls stärker als normal gehen.

    Die Frau verwirrt mich, je länger wir zusammensitzen. Das Bild ihrer Aura bleibt mir im Gedächtnis haften. Ich versuche, sie mir als Tochter vorzustellen, dann als Geliebte. Beide Male sperrt sich etwas in mir gegen entsprechende Gefühlsregungen. Obwohl mein Blick immer wieder Frau Wongs Gesicht sucht und ich ein Spur Bewunderung für sie empfinde.

    Sie schaut uns offen und freundlich an, ihr Lächeln kommt schnell und wirkt echt. Die Frau hat einen scharfen Verstand, dessen bin ich mir sicher.

    Na schön. Wir reden, wir verabschieden uns. Und gehen. Fertig.

    Sie bewegt sich in anderen sozialen Kreisen als wir drei Männer, okay? Und ist geschickt genug, uns das nicht spüren zu lassen.

    Janey schielt ein paar Mal zu mir herüber, lächelt verschmitzt.

    Ich lächele zurück.

    Was es zu dem Zwischenfall zu sagen gibt, erledigen die zwei Polizisten. Auch gut. Die beiden Kinder sind heile und sicher. Angeberei ist nicht meine Stärke. Was soll ich noch hier? Also mache ich, was ich oft tue bei Menschen, denen ich erstmals begegne; und die etwas in mir anregen. Ich lenke meine Aufmerksamkeit in die eigenen Energiezentren. Und lauere darauf, Frau Wong sprechen zu hören.

    Es muss mit meiner Hellsichtigkeit zu tun haben. Weshalb ich fast nie darüber rede. Wenn ich darauf achte, sehe und fühle ich den Klang menschlicher Stimmen in meinen Energiezentren. Wie ein Kribbeln oder einen Druck auf der Haut, durch die Bekleidung hindurch. Gesungen deutlicher als gesprochen. Mit Empfindungen wie wohlig, offen und mitschwingend. Oder unangenehm, starr, abwehrend. Zugleich erscheinen die Klänge in Lichtfarben; mal kreisförmig, mal wie tanzende Strahlen oder näherkommende Wölkchen. Oben am Körper in dunkel- und hellblau, in der Mitte grün, vom Bauchnabel abwärts orange bis rot.

    Clayton fragt, wer die Kinder gewöhnlich betreut.

    Ihr Hausmädchen. Und Frau Wong hängt eine längere Erklärung an.

    Nach dem Anblick ihrer Aura die zweite Erleuchtung. Meine Kehlkopf- und die Herzgegend summen in gefälligem ,Blau’ und angenehmem ,Grün’. Doch das Summen bleibt an der Oberfläche, ohne weiter innen zu schwingen.

    Oh, oh! Vor meiner Stirn erscheint das Bild eines blau-grün gestreiften Tigerkopfes, der mich aufmerksam, fast neugierig betrachtet. Beachtlich; denn unerwartet stark spüre ich, wie eine ergänzende Erklärung: Die Frau ist in Gedanken sehr beschäftigt. Mit mir. Ohne mich anzusehen, ohne es sich anmerken zu lassen. Der Tiger-Kopf ist zu markant, um ihn schnell zu vergessen. Und blitzt wieder auf, als ich Frau Wong erneut ansehe.

    Bei diesem Klang-Sehen schließe ich gelegentlich ungewollt die Augen und verliere den Gesprächsfaden. Menschen, die mich dabei erwischen, fühlen sich peinlich berührt, halten mich für erschöpft oder geistig weggetreten.

    Tatsächlich bin ich innerlich hellwach und nehme Dinge wahr, die mir oft wertvolle Hinweise auf hervorragende Wesenszüge des Menschen geben, mit dem ich es zu tun habe. Die Zellnetzwerke in meinem Kopf werden dadurch zusätzlich auf Trab gebracht.

    Was mag Frau Wong zu verstärktem Nachdenken über mich anregen? Eine Laune des Schicksals hat mich an ihren Küchentisch geführt. Das Ereignis an sich? Oder meine Person? Wie mag die Frau mich wahrnehmen? Einen fremden, älteren Mann von gewöhnlicher Alltagserscheinung in Jeans, dunkelgrauem Sweatshirt, darüber eine lederne, etwas abgewetzte, braune Bomberjacke. Den sie sicher ebenso schnell zu vergessen hofft wie den unschönen Vorfall mit ihren Kindern.

    Wenn Officer Clayton mein Verhalten erwähnt, sieht Frau Wong mich mit leichtem Nicken flüchtig an, stellt mir aber keine Fragen. Ich bin froh darüber. Natürlich reizt es mich, mit ihr zu sprechen; jedoch ohne die Polizisten und die Kinder. Ich möchte ihr das Geschehen aus meinem Erleben schildern. Auch weil ich überzeugt bin, dadurch selbst besser damit fertig zu werden. Mit der Angst vor einem möglichen Messerstich und dem Schrecken der auf mich gerichteten Polizeipistole. Wenigstens ein bisschen Eindruck machen bei der Dame – dagegen hätte ich auch nichts.

    Wenn nicht, auch gut. Ich weiß, was ich getan habe.

    Jetzt geht keiner der Anwesenden näher auf mich ein. Immerhin: Während des ganzen Gesprächs entdecke ich bei der Frau keine Spur von Herablassung mir gegenüber. Aber auch keine dankbare Bevorzugung im Vergleich zu den beiden Polizisten.

    *

    „Meine Herren. Der Vorfall beunruhigt mich selbstverständlich," beendet Frau Wong meine intuitive Kurzbetrachtung.

    „Wie Sie zweifellos wissen, ist dies eine sehr sichere Wohngegend."

    Keine Gefahren durch Straßenverkehr. Deshalb lebt die Familie gern hier. Die Kinder spielen ab und zu draußen, oben vor dem Haus oder unten an der Mauer, neben dem Seiteneingang. Die beiden dürfen höchsten eine Stunde am Tag fernsehen, und Videospiele sind vollkommen tabu. Aber man kann die kleinen Rangen ja nicht festbinden. Der Gedanke, dass sie vor der eigenen Haustür nicht mehr sicher sind, hat etwas sehr Beunruhigendes.

    Clayton nickt bedächtig.

    „Gnädige Frau, das kann ich gut verstehen. Meine Frau und ich – wir leben drüben am Telegraph Hill – führen gelegentlich ähnliche Gespräche, auch wenn unsere zwei Söhne schon älter sind."

    Sie unterbricht ihn.

    „Vielleicht sollte ich mir einen Polizisten zum Ehemann nehmen."

    Sekundenlange Stille.

    Clayton meint wie beiläufig:

    „Doch nicht Sie! Tun Sie uns das nicht an!"

    Nach einem erneuten Augenblick überraschter Stille lachen alle drei herzhaft – oder verlegen. Wenn das ein Witz gewesen ist, bin ich wohl der Einzige, der dessen Pointe nicht versteht.

    9

    Officer Clayton rückt auf dem Stuhl hin und her.

    „Natürlich, das verstehe ich. Aber der Vorfall muss keine große Sache sein. Solange wir nicht mehr wissen, empfehle ich, keine Vermutungen anzustellen, wer oder was dahinter ..."

    „Entschuldigen Sie, Officer, wenn ich entschieden widerspreche," unterbricht Frau Wong.

    „Ein Kind zu entführen ist eine große Sache."

    „Sie haben natürlich recht, Madam. Was ich sagen will: Sie glauben gar nicht, wie dumm die meisten Kriminellen sind, wie planlos sie handeln. Meist lassen sie sich leicht von einer Wiederholung abschrecken. Wenn wir ein paar Mal mehr als üblich durch die Gegend fahren."

    „Haben Sie keinen Hund?," erkundigt sich Cliff, der zweite Beamte. Ein schmaler blonder Mann Mitte dreißig mit rötlichem Gesicht, einem deutlichen Adamsapfel und dem Namen Anderson auf dem schwarzen Schild an seinem Hemd.

    „Einen Hund? Wieso ...? Ach, Sie meinen zum Schutz? Nein, wir haben keinen. Mein Mann sagt, Hunde gehören in den Suppentopf, aber nicht ins Haus. Ich habe für diese kläffenden Viecher ebenfalls nichts übrig. Unser Shushi-Tiger streift auf der Veranda und im Garten umher. Aber was nutzt das bei solch einem Angriff?!"

    „Natürlich nichts, Frau Wong, bestätigt Anderson. „Wie dem auch sei; glauben Sie mir, wir arbeiten sehr sorgfältig. Immerhin hat der Täter uns einige Blutstropfen und ...

    Mir ist, als träte Clayton dem Kollegen unterm Tisch gegen das Bein.

    „Ja, also, fährt Anderson stotternd fort, „wir unterstellen ... wir haben etwas gefunden, was sein Blut sein könnte. Und gehen jeder Spur nach, auch den kleinsten Hinweisen.

    „Okay, Frau Wong," beginnt Clayton einen Ton dienstlicher.

    „Bitte verstehen Sie, wir müssen das fragen ..."

    „Selbstverständlich, fällt sie ihm ins Wort. „Sie machen nur Ihre Arbeit und ich freue mich, wenn Sie die gut machen. Sie fragen sich, wo ich heute Vormittag war. Ich war den ganzen Vormittag in meinem Büro. Fragen Sie meine Kolleginnen; ich beschäftige übrigens auch Männer. Fragen Sie, wen und was Sie fragen müssen. Ich halte mich da raus.

    Die Frau wirkt jetzt gelassener als bei ihrer Ankunft, geschäftsmäßig in einer angenehmen, überzeugenden Art. Wie jemand, der gewohnt ist, mit Mitarbeitern umzugehen und Entscheidungen zu treffen.

    *

    Officer Clayton klappt sein Notizbuch zu, will das Gesprächs beenden.

    „Was geschieht nun, meine Herren? Wie geht es weiter?"

    „Natürlich kommen wir gern wieder, Frau Wong, für ein offizielles Protokoll. Auch wenn alles gut ausgegangen ist, es handelt sich um eine in ihrem Verlauf gestörte, versuchte schwere Straftat. Schon von Gesetzes wegen sind wir verpflichtet, das Geschehen sorgfältig zu untersuchen und zu dokumentieren. Dabei nehmen wir gern Rücksicht auf ..."

    „Ach was, meine Herren. Ich weiß Ihre Bemühungen zu schätzen. Was immer, wann immer – melden Sie sich. Ich werde meiner Sekretärin Anweisung geben, mich unverzüglich einzuschalten. Ich bitte Sie nur um die gebotene Diskretion nach außen."

    „Absolut, unsererseits ganz einverstanden," erwidert Anderson.

    Frau Wong ist im Begriff, aufzustehen, sieht mich an und fragt:

    „Und Sie, was geschieht jetzt mit Ihnen? Oder muss ich das die Herren Polizisten fragen?"

    „Er soll hier bleiben," meldet Janey sich sogleich.

    „Finde ich auch, erklärt Brian, „wenigstens, bis ich ihm meine Wikinger-Schiffe gezeigt habe. Bitte, Mammi.

    „Ich fürchte, Brian, antwortet Clayton an ihrer Stelle, „wir müssen Herrn Berkamp erst einmal mitnehmen ...

    Brian unterbricht entrüstet.

    „Wollen Sie ihn etwa verhaften? Das wäre total unfair."

    „Keine Sorge, Junge. Wir haben uns die ganze Zeit mit euch beiden beschäftigt. Jetzt müssen wir mit ihm reden. Er kann den bösen Mann beschreiben. Das hilft uns sicher, ihn zu fangen und zu bestrafen."

    „Na hoffentlich."

    „Kommst Du danach wieder zu uns?," fragt Janey vorsichtig.

    „Ganz sicher, Schätzchen, antwortet ihre Mutter. „Das fordern wir einfach von ihm. Wenn er das nicht freiwillig tut, bitten wir die Polizei, ihn hierher zu bringen. Nicht wahr, Officers, das tun Sie dann?

    „Und wenn ich von mir aus komme? Ein anderes Mal. Ehrlich gesagt werde ich langsam hungrig."

    „Oh Gott, entschuldigen Sie bitte. Ich hätte Ihnen allen mindestens einen Kaffee oder Tee anbieten müssen. Wo Carmen nur bleibt? Die ist sonst für diese Dinge zuständig."

    „Bitte, vielen Dank, keine Umstände, erklärt Clayton und erhebt sich. „Auf uns wartet genug Arbeit. Eine Cola und einen Hamburger zu dritt, das schaffen wir noch selbst.

    Er nickt den beiden Kindern zu.

    „Danke, ihr beiden Hübschen. Seid weiter vorsichtig. Okay?"

    Die Kinder geben uns artig die Hand, folgen bis in den Flur.

    *

    An der Haustür berührt Frau Wong mich am linken Arm, wartet, bis die beiden Beamten das Haus verlassen haben.

    „Herr ... Berkamp? Bitte entschuldigen Sie. Ich habe mich kaum um Sie gekümmert."

    „Nicht der Rede wert, Frau Wong. Die Polizei war wichtiger."

    Sie schaut mich an, als suche sie nach der Antwort auf eine ungestellte Frage. Mein Herz macht einen kleinen Hüpfer. Die Frau hat ein angenehmes Wesen und sieht einfach klasse aus. Etwas Freundliches zum Abschied möchte ich ihr schon noch sagen.

    „Gestatten Sie mir eine Bemerkung?!"

    „Selbstverständlich. Bitte."

    „Ihre Kinder sind großartig. Und ich wünsche Ihnen ..."

    Sie lässt mich nicht weitersprechen.

    „Oh ja, vielen Dank. Meine Goldstücke. Ehrlich gesagt, ich muss selbst erst einmal verdauen, was ich gerade gehört habe."

    Die zwei Polizisten bleiben verwundert an der Steintreppe stehen.

    „Bitte verzeihen Sie, erklärt Frau Wong unbeeindruckt halblaut, „aber meinerseits habe ich noch eine Menge Fragen an Sie.

    Das fällt dir etwas spät ein, Mädchen.

    „Natürlich nicht jetzt. Wie ist das, haben Sie Familie?"

    Die Frau stellt Fragen!

    „Bitte verstehen Sie das richtig. Ich lade Sie ein. Am liebsten allein, wenn Sie das einrichten können. Um den Vorfall in Ruhe zu besprechen. Wie wäre es heute Abend ab sechs? Oder kurz danach, damit die Kinder Sie noch sehen können vor dem Schlafengehen. Nach dem, was Sie gemeinsam erlebt haben."

    Die Einladung überrascht mich. Alles Wesentliche ist gesagt.

    Und ein fester Zeitpunkt kommt mir ungelegen. Ich möchte allein sein, das Ereignis zunächst für mich verdauen. Außerdem weiß ich nicht, wie lange die Polizei mich noch beschäftigen wird.

    Was immer die Dame wissen möchte, hat bis morgen Zeit. Wenn ich ihre Kinder erst dann sehe, ist es auch gut. Der Schmerz des Handkantenschlags auf meinen Oberschenkel bittet förmlich um Wundsalbe. Den Abend in Ruhe mit einer ausgedehnten Meditation zu verbringen, erscheint mir verlockender.

    Lieber treffe ich die Dame, wenn ich mich wohler fühle.

    Berkamp, was soll das Zögern? Wer weiß, wozu es gut ist?!

    Ihr Blick tut es. Kein Lächeln, sondern eine unerwartete Wärme in den Augen, eine unwiderstehliche Aufforderung.

    „Okay, Frau Wong, danke für die Einladung. Ich hoffe, das Gespräch bei der Polizei wird nicht ewig dauern. Eine anschließende Dusche könnte nicht schaden."

    „Das verstehe ich. Wie wäre es später?"

    „Wenn ich bis zwanzig vor sieben nicht

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