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Apokalyptische Variationen
Apokalyptische Variationen
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eBook430 Seiten5 Stunden

Apokalyptische Variationen

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Über dieses E-Book

Antanas Škėma (1910–1961) arbeitete sein ganzes Leben daran, das von ihm Durchlebte in Literatur zu verwandeln. Sein einziger Roman, "Das weiße Leintuch", gibt Zeugnis von seinem New Yorker Exil. Daneben sind aus allen Phasen seines Lebens literarische Stücke überliefert: Erzählungen, Skizzen, Szenen und Verdichtungen. Es sind in Blickwinkel und literarischer Gestaltung einzigartige Schlüsselszenen der Weltgeschichte: die Kindheit während des Ersten Weltkriegs und des Bürgerkriegs in der russischen und ukrainischen Provinz, Schulzeit und Studium, frühe literarische Versuche im unabhängigen Zwischenkriegslitauen sowie unter sowjetischer und deutscher Besatzung, die dramatische Flucht vor den Sowjets, das Leben als displaced person in Thüringen und Bayern und als Neuankömmling in Chicago und New York. All das spiegelt sich in facettenreichen Prosastücken.

"Apokalyptische Variationen" umspielt die Verheerungen der Geschichte des 20. Jahrhunderts und den Riss, der die Existenzen durchzieht. Schreibend vergewissert sich Škėma seiner Biografie und versucht Sinn und Bedeutung in ihren Splittern aufzuspüren. Wir können lesend nachvollziehen, wie sich die Aussichtslosigkeit in seine Sprache einschreibt, wie diese immer mehr zerspringt, sich auflöst – und wie aus der sprachlichen Entgrenzung eine ganz neue Form entsteht. Claudia Sinnig greift in ihrer Übersetzung die Vielfalt von Škėmas Erzählstilen auf, schürft tief im Sprachmaterial, lotet Trauer und Dunkelheit aus und geht auch der Hoffnung und dem Vorwärtsstreben auf den Grund. Erlösung findet sich vielleicht nicht in Škėmas Leben, aber in seiner Literatur.
SpracheDeutsch
HerausgeberGuggolz Verlag
Erscheinungsdatum18. Aug. 2020
ISBN9783945370841
Apokalyptische Variationen

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    Buchvorschau

    Apokalyptische Variationen - Antanas Škėma

    [1945]

    SCHWELBRÄNDE UND FUNKEN

    DIE STILLE DER NACHT

    Du öffnest die Augen, vielleicht weil sich dein Herz zusammenschnürt. Plötzlich erwacht, allein, in einer hellen Nacht, sagst du, wieder und wieder: »Wie still es ist …«

    Warum bist du aufgewacht? Tiefe Ruhe erfüllt dein Zimmer, und auf deinen Armen liegt der Abglanz der Sterne. Die Sterne stehen hoch am Himmel, ihre himmlischen, suchenden Strahlen bringen Seligkeit. Aber als sie deine ohnmächtigen Arme fanden, bist du erschauert. Der winzige Muskel an deinem linken Augenlid zuckt jetzt noch. Warum? Die Sterne stehen so hoch am Himmel, und das Licht des Himmels ist so segensreich.

    Weißt du es nicht? Dann schlaf wieder ein und öffne nachts die Augen nicht, wenn die Gardinen reglos an den Fenstern hängen wie die Gewänder von Statuen. Schlafe, bis der Tag heraufzieht. Am Tag wird die scharfe Sonne die Erde peitschen, in grellen Farben werden die Pflanzen und die Dinge schreien, und die Menschen werden schimpfen und lachen.

    Beruhige dich, ruh dich aus, ich stehe dir bei, ich bin die Stille der Nacht. Es gelingt dir nicht? Deine Augen sind tief wie Brunnen in den Bergen, dein Blick dringt durch den Gardinenspalt, du horchst bis es schmerzt, und es kommt dir so vor, als würdest du hören. Du hast recht. Jetzt leben jene, die Er bestattet hat, und Sein Thron ist über den Sternen. Sie sind ruhlos, auch nach dem Tod.

    Sie sind verflucht und wissen selbst nicht warum. Wenn du nicht schläfst, dann hör zu, achte nicht auf diesen winzigen Muskel an deinem linken Augenlid, der so hartnäckig zuckt.

    Psst … Hörst du? Dort, vor dem Fenster, geht ein toter Soldat. Seine weit aufgerissenen Augen sind blind, ein Flammenwerfer hat sie ausgebrannt. Er geht mit lautlosen Schritten, dieser arme Blinde, und er sucht sein Zuhause. Täusch ihn nicht, beweg dich nicht, sonst könnte der Soldat meinen, dass die Wellen der Gardinen von schlanken kleinen Händen geteilt werden. Bleib liegen. Er weiß ja nicht, der arme Blinde, er weiß nicht, dass der Krieg sein Zuhause verweht hat. Er tastet sich mit den Händen voran, jetzt befühlt er eine Kletterrose, die an der Hauswand blüht. Die Rose ist weich, wie die Haare seines Kindes. Weißt du, warum der Soldat sein Zuhause sucht? Er möchte die Haare des Kinds betasten und sie langsam streicheln, so langsam wie diese Kletterrose hier. Der arme Blinde … poch, poch … und wieder poch, poch …

    Ich frage dich, ich, die Stille der Nacht, hörst du dieses schwache Klopfen an einer Mauerwand? Fern von hier kriecht ein kleines Kind umher, das Kind des Soldaten, es wurde in einem Bunker verschüttet, es sucht nach seiner Mutter. Das Kind zittert, ihm ist kalt, es wurde ja nur im Hemdchen hinausgetragen, es bittet um den warmen Körper seiner Mutter. Poch, poch … die ganze Nacht hindurch, zu mehr ist es nicht imstande, dieses dumme Kindchen in dem schmutzigen Hemdchen. Weißt du, dass die beiden sich niemals mehr begegnen werden? Der Fluch wird aufgezeichnet für die Ewigkeit, und Er, der diesen Fluch ausspricht, ist groß und mächtig.

    Pssst … Wo siehst du hin? Ah, du schaust durch den Gardinenspalt zu dem fahlen Stern. Ja, du würdest ihn gern vom Himmel holen und an die Brust drücken. Du glaubst, der fahle Stern könnte deine verblassende Hoffnung erwärmen und sie würde kühn und unsterblich brennen wie ein Feuer auf einem Berggipfel. Weißt du, dass denselben Stern ein Mensch gesehen hat, als er verhungerte? Einer von denen, die aufgelesen wurden wie Holzscheite. Weißt du, wie er sich danach gesehnt hat, dieses traurige silberne Licht nicht sehen zu müssen, aber er konnte sich nicht mehr bewegen, er hat auf dem Rücken gelegen, dieser gequälte Mensch, und gierig auf seinen Tod gewartet. Er wurde ruhig und seufzte froh, als kurz vor dem Tod bunte Kreise das weiße Silber erstickten. Doch Er, der den Fluch ausspricht, Er ist erbarmungslos. Unweit von deinem Zuhause ist ein Friedhof. Dort ist einer von denen verscharrt, die wie Holzscheite aufgelesen wurden. Und jetzt liegt er dort auf dem Rücken, und das weiße Licht des Sterns dringt unnachgiebig durch die Erde und brennt in seinen Augenhöhlen. Denn Er, der den Fluch ausspricht, Er mag die Qual.

    Warum leuchten deine Augen auf? Ah, im Haus der Nachbarin ist ein fröhliches Licht angegangen. Ein angenehmes, alltägliches. Und dir ist leichter. Jetzt vertreibst du mich, die Stille der Nacht, jetzt machst du mir Vorwürfe, jetzt verstreust du Worte. Du sagst, dieses Land sei so wunderbar ruhig, es sei kaum berührt vom Krieg, die Menschen hier hätten das Lächeln nicht vergessen und würden Blumen pflanzen. Du sagst: Sie seien oft sanft wie schnurrende Katzen. Ja, im Haus deiner Nachbarin ist das Licht angegangen. An und wieder aus. Dort sind zwei Liebende vereint. Jetzt liebkosen sie einander, leidenschaftlich und glücklich. Du kennst sie, deine Nachbarin, sie grüßt dich jeden Morgen mit Gottes Namen. Ich sehe, du freust dich und erinnerst dich an das alte, eingepaukte Sprichwort – die Liebe ist stärker als der Tod. Aber siehst du denn den Mann nicht, der sich an die Mauer drückt? Es ist der Ehemann deiner Nachbarin, er beobachtet die Verliebten. Du meinst, er sieht ruhig zu, die Hände in die Taschen gesteckt. Weißt du, dass er nicht imstande wäre, sie so leidenschaftlich zu liebkosen wie der Neue?

    Ich flüstere dir zu, ich – die Stille der Nacht: Der Mann deiner Nachbarin hat keine Hände mehr. Sie wurden ihm abgeschnitten, im Winter, im hohen Norden, weißt du, dass es dort im Winter furchtbar kalt ist? Dann ist er gestorben, wie viele Häftlinge, und seine unstillbare Sehnsucht hat ihn hierher geführt. Du meinst, er würde seelenruhig zusehen, die Hände in den Taschen? Ich sage dir, ich, die Stille der Nacht, was dieser ruhige Mann sich wünscht. Er wünscht, er hätte wenigstens eine Hand, denn auch die Leblosen vergießen schmerzliche Tränen, und er kann sie sich nicht abwischen. Doch Er, der den Fluch ausspricht, verzieht nur die Mundwinkel zu einem Lächeln.

    Pssst … Beweg dich nicht. Besser nicht. Er ist groß und böse.

    Richte deinen Blick auf diese Mauer. Du schaust nach Nordosten. Dort, im Nordosten, wachsen Kiefern und Fichten, Birken und Weiden. Dort riecht es nach Harz und nach Moos, dort würdest du gern herumtollen, wie früher, und fröhlich krakeelen. Dort ist ein Wald in deinem Land. Dort steht eine hohe, eine sehr hohe Fichte, sie ist so schlank wie ein siebzehnjähriges Mädchen, und unter der Fichte tollt dein Bruder herum. Ein Fremder hat ihn erschossen. Er tollt herum, bis er erstarrt und neben ihm eine Frau kniet, die sich aus Verzweiflung die Lippen zerbissen hat. Über ihr Kinn laufen kleine Rinnsale von Blut, sie erreichen die Delle in ihrem Kinn, und das Blut tropft auf den Gestorbenen. Du weißt, die Frau sagt immer und immer wieder dasselbe:

    »Wir sind vergessen, wir sind vergessen, wir sind vergessen.«

    Ihre Gedanken werden verworren, Wahnsinn ergreift sie.

    Doch Er, der den Fluch ausspricht, verzieht nur die Mundwinkel zu einem Lächeln. Er sitzt oben, hoch oben, höher als die weißen Sterne, und Seine Augenhöhlen sind finster. Niemand hat je Seine Augen gesehen. Er sitzt da mit verschränkten Armen, unbarmherzig und höhnisch, und Er gestattet es nicht, für immer zu sterben.

    Pssst … Beweg dich nicht. Ich weiß, du möchtest aus dem Bett springen, du möchtest Ihm drohen und laut schreien, dass Er es hört, dass Er sich regt, dort oben, über den weißen Sternen, dass Er erklärt:

    Warum ist das so?

    Du musst wissen, dass Er, der diesen Fluch ausspricht, ängstlich ist. Er wird mit dir nicht offen kämpfen. Er wird es dir vergelten, ohne das Geheimnis zu lüften. Er wird dich dazu bringen, deinen Menschenbruder zu vernichten, und dieser wird lachen an deinem Leichnam.

    Pssst … Hör genau hin. Ich werde leise flüstern, ich – die Stille der Nacht. Ich sage dir:

    Warum ist es so?

    Weil … Er sich fürchtet vor dir, weil du nicht aus Ihm geboren bist, weil du ein Mensch bist und weil du in dir den Funken eines einst bezwungenen Gottes trägst. Erinnerst du dich an die alten Legenden, die heiligen Schriften? Dort gibt es immer zwei Namen. Dort gibt es immer zwei, die miteinander ringen. Osiris und Seth, Ahura Mazda und Ahriman, Gott und Satan. Erinnerst du dich an das Märchen vom Paradies, das Märchen vom Goldenen Zeitalter? Das ist sehr lange her, und Er, der den Fluch ausspricht, hat gesiegt. Und dieser zweite – Er lächelt zufrieden, sitzt über den weißen Sternen, erbarmungslos und höhnisch, und Er straft die Menschen, denn sie tragen einen Funken des besiegten Gottes in sich.

    Doch … vielleicht, eines Tages … Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht – ich, die Stille der Nacht, aber wenn diese Funken den Himmel entzünden, dann geht Sein Thron über den weißen Sternen vielleicht in Flammen auf. Und vielleicht ersteht dann der Gott des Lichts wieder auf.

    Pssst … Er könnte es hören. Beweg dich nicht. Schlaf besser wieder ein. Und öffne in einer hellen Nacht die Augen nicht, wenn dein Herz beklommen ist. Möge es still sein, mögen die Gardinen vor dem Fenster reglos herabhängen wie die Gewänder einer Statue.

    DER EGOIST

    Aus den Erzählungen eines Freunds

    Sieh mal, diesem Herrn Professor bin ich einige Male in Vilnius begegnet. Zu jener Zeit fanden wir uns öfter bei einem jungen Chirurgen zusammen, einem Liebhaber von Wissenschaft und Literatur. Der Professor ist meines Wissens Litauendeutscher. Und seine Ernennung zum Professor hatte unter den Deutschen stattgefunden. Aber das Wesentliche besteht darin, dass er für mich ein Symbol ist. Ein Symbol für die heutige Denkweise, die diese egoistischen, unmenschlichen Verhältnisse hervorgebracht hat. Ich werde versuchen, mir meine letzte Begegnung mit ihm in dieser fantastischen Stadt in Erinnerung zu rufen.

    Nun denn, der längliche Innenhof der Universität. Hinter der lauten Piliesstraße – die plötzliche Stille, eingezwängt in ein Rechteck aus zweigeschossigen Häusern. Das holprige, von Studentenfüßen ausgetretene Pflaster. Von Studenten, die dicke Mützen trugen, sich lange, gelockte Haare wachsen ließen, zahllose Weinfässer leerten und Tausende Worte verloren mit geröteten Gesichtern und glühenden romantischen Augen. Der Nebel aus erhabenen Worten und Träumen vermischte sich mit dem Dunst des Weins und berauschte die leidenschaftlichen Köpfe der Studenten.

    Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit … Ein großes, mütterliches Vaterland …

    Friede den Unterdrückten, Krieg den Ausbeutern …

    Die hitzigen studentischen Köpfe vergammelten, die seidigen Locken verkamen, und der Nebel aus erhabenen Worten und Träumen zerstreute sich mit dem Weindunst.

    Nun denn, dieser Hof im Rechteck der zweigeschossigen Häuser. Und die Stille. Und die verschlungenen orangenen Kaskaden von Kletterpflanzen, die mit dem einfachen Gras in den Ritzen der Pflastersteine verwachsen waren. Und diese niedrige Tür, bei der man den Kopf einziehen musste, und endlich ein geräumiges Zimmer, mittlerweile weiß gestrichen, mit einer Decke wie in einem Kloster. An den Wänden hingen Grafiken von Vilnius, der Besitzer der Wohnung, der junge Chirurg, mochte Grafik. In einer Ecke ein kleines Büffet. Auf dem Tisch eine Flasche Schnaps. (Oh, eine große Seltenheit im deutsch besetzten Vilnius!) Den Schnaps stellte ein Bekannter des Chirurgen her, der im Universitätslabor arbeitete. Was blieb ihm anderes übrig in dem leeren Labor? Studenten gab es keine mehr. Sie fanden den Militärdienst und den Kampf für das Neue Europa wenig verlockend. Diejenigen, die nicht Neo-Europäer werden mochten, zogen scharenweise in die sich zusehends bevölkernden litauischen Wälder. Der Laborant hatte in dem verwaisten Labor gesessen und gähnend die leeren, verstaubten Retorten, Kolben und Fläschchen angestarrt, bis ihn eines Morgens die in einer leeren Retorte spielenden Sonnenstrahlen an gelben Honigschnaps erinnerten und … in seinem Gehirn eine geniale Idee aufkeimte. Aus verschiedenen Resten (mit reichlich »O« und »H« und anderen Buchstaben der organischen Chemie) machte sich der Laborant daran, Alkohol herzustellen. Und bald glätteten sich die Falten der Langeweile auf seiner Stirn, und die Kolben, Retorten und Fläschchen blitzten wieder sorgfältig geputzt. Und der Laborant empfing wieder selbstgewiss seinen Monatslohn, sein Gewissen war beruhigt, das Labor war in Betrieb.

    An jenem Abend war es ein besonderer Schnaps. Der Laborant hatte eine mit Äther angereicherte Flasche geschickt, und diese überraschende Veredelung veranlasste uns zu einem Moment der Besinnung. Wir waren zu viert. Der Chirurg und Hausherr, der Chemieprofessor, mein Kollege, so wie ich Lehrer für Literatur, und ich. Wie ein Götzenbild stand in der Mitte des Tischs die Flasche, und aller Augen starrten unverwandt auf das Wasser des Lebens. Ja, wir hatten es wahrlich nötig, dieses Wasser des Lebens. Unsere Lebensgeister waren stark geschwächt. Die Jagd nach Lebensmitteln und Tabak – und sonst fast nichts. Natürlich, wir verrichteten unsere berufliche Arbeit. Der Chirurg öffnete und untersuchte menschliche Körper, mein Kollege und ich – menschliche Seelen, doch es mangelte uns an Selbstgewissheit, in uns herrschte ein Zwiespalt, und er breitete sich wie ein Krebsgeschwür aus. Es war eine Krankheit, es war Schizophrenie.

    Ich unterrichtete zu jener Zeit die Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. In Augenblicken der intensivsten schöpferischen Ergriffenheit, wenn ich die Gehirne von Menschen des vergangenen Jahrhunderts erkundete, wenn in meiner Vorstellung ferne und doch nahe Männer mit hohen Stirnen und buschigen Schnauzbärten und Frauen mit geschnürten Taillen und kämpferisch aufgerichteten Brüsten weinten und zürnten, liebten und scherzten, wenn Ibsens oder Hauptmanns Helden an Subtilitäten starben, die die Menschheit nicht so bald wieder erreichen würde, unterbrach oft ein scharfer, perfider kleiner Hintergedanke plötzlich mein lebhaftes Schattenspiel.

    ›Du musst zum Abteilungsleiter gehen, mein Lieber, damit er dir Brennholz gibt. Weißt du noch, was deine Frau gestern Abend und heute Morgen zu dir gesagt hat? Sie hat mehrmals betont: Wir haben kein Brennholz mehr. Das Brennholz ist aus, verstehst du, du Genie. Ich habe gerade das letzte Stückchen verbrannt. Heute Morgen habe ich ein paar Scheite aus dem Schuppen von unserem Nachbarn genommen, aber so kann es nicht weitergehen, weil der Nachbar es bemerken könnte. Heute muss Brennholz beschafft werden.‹

    Und wie auf ein Plakat druckte der kleine Hintergedanke deutlich sichtbare, nüchterne, rationale Sätze aus:

    ›Deine Frau hat gesagt, es ist kein Brennholz mehr im Haus. Du musst zum Abteilungsleiter gehen. Du musst sympathisch lächeln und ihn mit schuldbewusstem Gesichtsausdruck um Brennholz bitten. Es geht nicht an, dass deine Frau im Nachbarschuppen stiehlt. Der Nachbar könnte es bemerken.‹

    Der letzte Satz war wenigstens erheiternd. Es war nicht wichtig, dass sie überhaupt Brennholz stahl, sondern dass es der Nachbar bemerken konnte. Und da fiel das Kartenhaus von Ibsens und Hauptmanns edler Psychologie in sich zusammen. Mein Kopf wurde leer. Wie vereinzelte Flugzeuge flogen in ihm die Trümmer von Sätzen umher …

    … er lächelte, aber sie erkannte an seinem Lächeln ihre Niederlage nicht …

    … wenn der Abteilungsleiter uns zwei Kubikmeter geben würde, wäre es nicht schlecht …

    … ihre Ohnmacht löste bei ihm innere Freude aus …

    … es gibt Brennholz aus Kiefer, Fichte, Pappel …

    Und einmal, mitten in einer Unterrichtsstunde, da sickerte plötzlich still, aber aufdringlich, sehr aufdringlich, in der Klasse die Nachricht durch:

    »Eine Lieferung Fleisch. Sie wird gerade verteilt. Die Ersten bekommen die besten Stücke. Eine Lieferung Fleisch, sie wird gerade verteilt

    Nein, er, der Lehrer, war kein Betrüger, wenn er die Maske des neunzehnten Jahrhunderts trug.

    Aber der Hunger nach Fleisch war ja sichtbar – in den funkelnden Blicken, und er war echt – in den Mundwinkeln.

    Ja, wir waren gespalten. Der Steinzeitmensch drang grob in unser präzises Bewusstsein ein. Wir waren zu spät geboren, wir waren nicht mehr imstande zu fallen mit dem ins Chaos fallenden zwanzigsten Jahrhundert. Das neunzehnte Jahrhundert war bereits sehr weit entfernt, die Fallgeschwindigkeit war enorm, wie der Fall eines Steins in den Abgrund, und wir wollten uns mit erhobenen Armen an irgendetwas festhalten, was uns zurückversetzt in die luftigen Gefilde der edlen Psychologie. Deshalb dürsteten wir so sehr nach dem Wasser des Lebens. Deshalb starrten unsere Augen unverwandt diese Schnapsflasche an, die wie ein Götzenbild in der Mitte auf dem Tisch stand.

    Die Stille wurde von der scharfen Stimme des Professors gebrochen. Er war ein noch junger Mann und Professor der Chemie. Ein erst vor kurzem berufener. Ein kräftiger, schwarzhaariger Mann, dessen kantiges Gesicht durch die Erforschung von Formeln und Flüssigkeiten intellektuelle Züge bekommen hatte.

    »Fangen wir an.«

    Der Geruch von echtem Bohnenkaffee breitete sich aus. Oh, das war ein besonderes Fest. Dankbare Blicke streichelten das kleine, erschöpfte, bereits verkahlende Köpfchen des Hausherrn und Chirurgen. Er tat so, als würde er die stummen Komplimente nicht bemerken. Seine etwas zu große Brille verbarg komfortabel die wohlige Verlegenheit. Wir fingen an. Die letzten Sonnenstrahlen fielen in das Rechteck des Hofs, sie glitten über die Kletterpflanzen, färbten sie grell rot und schmolzen zwischen den Steinen. Nur ein einziger, der behändeste, schlüpfte in unser Zimmer. Schlüpfte herein und breitete sich auf dem Boden aus, erschöpft und verblasst.

    Der Schnaps wärmte. Der Schnaps hüllte unsere gereizten Hirne in weiches Behagen ein. Das Deckengewölbe sah jetzt leicht und gerundet aus. Und die ein wenig zu roten Kletterpflanzen dort, vor dem Fenster, versprachen ein seltenes, nicht alltägliches Abenteuer. Es könnte doch einmal im Leben etwas Außergewöhnliches geschehen, oder nicht? Vielleicht würde es plötzlich läuten und nach längerem angespanntem Warten mit beschleunigtem Herzschlag jemand hereinkommen und eine so gute, so rührende Neuigkeit überbringen, dass man den Wunsch nach einem festen Handschlag verspürt, nach völliger Hingabe mit einem freundschaftlichen Blick, vielleicht würde es einer von uns sogar wagen, seinen Nachbarn zu küssen. Ja, unsere Hirne funkelten schon, unsere menschliche Stimmung hätte Wörter erzeugen können, die wir, da wir alltäglich waren, sonst nicht auszusprechen wagten.

    Ich sah die große Brille des Chirurgen funkeln, sein Blick wollte durch sie hindurchbrechen, das wäre für mich jetzt der Blick gewesen, den ich am meisten gebraucht hätte. Nun ja, und da legte er seine Hand auf die meine, und das verband uns sofort, unsere Gedanken waren im Begriff zu verschmelzen, und ich konnte deutlich erkennen, wie sich seine Lippenmuskeln anspannten, der Chirurg wollte etwas sagen …

    »Ich bin ein Egoist.«

    Diese Überraschung kam völlig unvermittelt. Drei Männer zuckten zusammen. Und einer bewegte sich nicht. Er starrte mit aufgerissenen Augen vor sich hin. Die Falten an seiner Nase wurden schwarz, und seine markanten Gesichtsknochen waren noch deutlicher sichtbar, als wären sie hervorgesprungen. Erst jetzt verstanden wir, dass es der Professor war, der diesen unerwarteten Satz ausgesprochen hatte. Erst jetzt erinnerte ich mich, dass er nicht ganz bei uns gewesen war, dass er sich die ganze Zeit an der Flasche zu schaffen gemacht hatte und an den Kaffeetassen und …

    »Ich bin ein Egoist. Ich muss es sein.«

    Seine Stimme zerriss endgültig die warme, gemütliche Blase, in der wir versunken waren. Die Zellen in unseren brennenden Hirnen spannten sich an. Die kleinen, engen Augen meines Kollegen. Sie waren verschwunden gewesen, im Nirwana. Jetzt bohrten sie sich wie zwei Nadeln in den Mund des Professors. Mein Kollege wagte es als erster:

    »Warum?«

    Der Professor blickte uns aufmerksam an. Unsere wie bei einem plötzlichen Angriff nach vorn gebeugten Körper amüsierten ihn. Aber er riss sich sofort zusammen und schenkte uns nach.

    »Trinken wir zuerst.«

    Wir tranken. Und beruhigten uns. Sein beherrschtes kleines Lächeln versetzte uns in den Alltag zurück. Die Gewölbedecke war nicht mehr gerundet und nicht mehr leicht. Und die Kletterpflanzen vor dem Fenster … Na und? Im Sommer gibt es viele rote Abende. Am nächsten Tag würde es wahrscheinlich windig. Und … es war wirklich komisch. Dieses Vilnius war romantisch. Diese Höfe, diese Häuser, umso mehr, wenn man etwas getrunken hatte … Ein ungutes Gefühl machte sich in uns breit. Wir schämten uns dafür, dass wir in unseren Herzen fest verschlossene Kostbarkeiten hatten hervorholen und einander schenken wollen. Ja, man sollte kühl denken, objektiv und logisch. Das grausame Leben, der Existenzkampf und so weiter.

    »Es wäre interessant zu erfahren, warum der Herr Professor ein Egoist sein muss.«

    Mein Kollege hatte diesen Satz mit ganz und gar höflicher Stimme gesprochen, sogar in einem zuvorkommenden Tonfall mit feinsten höchsten Nuancen. Der Professor lehnte sich bequem zurück. Er war ein Sieger und fühlte, dass seine Zuhörerschaft seine Gedanken gehorsam aufnehmen und sich einzuprägen versuchen würde. Wir waren jetzt vorbildliche Schüler mit gewaschenen Ohren und gekämmten Haaren.

    »Erstens bin ich mir gewiss, dass ich am Leben bin. Ich möchte essen und schlafen, ich fühle Schmerz, Zufriedenheit und so weiter. Das ist für mich eine Tatsache. Weiter. Ich kommuniziere mit meiner Umgebung, sie beeinflusst mich. Auch das ist eine Tatsache. Diese beiden Tatsachen genügen mir.«

    »Und wir?«

    »Sie?«

    Der Professor lächelte. Gute Zähne hatte der Professor. Gerade, regelmäßige, weiße. Wirklich egoistische.

    »Sie … Sie sind Tatsachen unklarer Sorte. Tatsachen, die mit der Umgebung verknüpft sind. Ich würde sagen, vorübergehende. Sie existieren, solange ich mit Ihnen zu tun habe. Danach verschwinden Sie hinter den Grenzen der Umgebung. Sie sind einzelne Elemente der Umgebung, sonst nichts.«

    »Aber auch wir fühlen Schmerz, Zufriedenheit, die Umgebung … Auch wir sind Tatsachen. Jeder von uns ist eine Tatsache für sich …«

    Während ich diese verstreuten Sätze von mir gab, griffen meine Hände unbewusst nach der leeren Kaffeetasse und streckten sie zur Kanne aus. Meine Hände zitterten merklich. Der Professor nahm mir behutsam, wie einem Kind, die Tasse ab, goss laborantisch genau Kaffee hinein und stellte sie vor mich hin.

    »Darüber brauchen wir nicht zu streiten. Sie für sich – gut möglich, aber für mich … Verzeihung. Wenn ich nach Hause komme, sind Sie nicht da. Sie sind aus der Umgebung hervorgetreten, Sie haben eine Zeit lang auf mich gewirkt, angenehm gewirkt …«

    Er schenkte uns wieder ein Lächeln.

    »… und dann sind Sie verschwunden. Sie sind nicht mehr da. Ich dagegen bin die ganze Zeit da, selbst im Schlaf. Und die Umgebung bleibt. Natürlich, sie ist beweglich, aber die Tatsache ist konstant, weil sie ständig da ist, diese Umgebung. Ich und sie. Diese beiden Tatsachen genügen mir. Und aus diesem Grund muss ich ein Egoist sein. Ich bin schließlich allein. Ich muss mich allein bewegen, untertauchen, an die Oberfläche zurückkehren, weiter schwimmen. Wenn ich stark bin, komme ich voran. Wie in einem dichten Wald. Äste versperren mir den Weg, knacks-knacks, und ich gehe weiter. Wenn man schwach ist, nun ja, dann mag man herumsitzen und jammern. Aber es gibt noch einen anderen Ausweg für die Schwachen. Einem Stärkeren folgen, natürlich nur, wenn es diesem recht ist. Na ja, man kann sich ja einschmeicheln. Sagen wir, einem Starken juckt der Rücken, dann kratzt ihn flink ein Schwacher – und geht ihm dann hinterher. Dem Starken ist der Schnürsenkel aufgegangen, ein Schwacher bindet ihn blitzartig zu – und geht ihm hinterher.«

    Und wieder ein Lächeln. Und dann ein forschender Blick zur Zuhörerschaft. Ob der Clou gelungen ist.

    »Man kann anderer Meinung sein, aber klar ist es. Und genau. Auf originelle Weise einfach.«

    Mein Kollege attestiert dem Professor Weisheit. Mit einem Schluck trank ich meinen Kaffee aus. Der Schnaps war zu stark. Und meine verfluchten Hände … Ich konnte mein Gleichgewicht nicht wiederherstellen. Der Professor war ruhig. Betont ruhig. Der Schnaps zementierte seine Gehirntätigkeit. Seine grauen Augen verfolgten ganz bewusst meine unsicheren Handgriffe. Ich aber wollte mich aus dem Dunstkreis des Professors lösen, ich wollte in meine anfängliche Stimmung zurück, als die Gewölbedecke so leicht, so gerundet schien, als die allzu roten Kletterpflanzen vor dem Fenster ein seltenes, nicht alltägliches Abenteuer versprachen …

    Der Hof vor dem Fenster hatte sich (so plötzlich?) in einen grauen Vorhang eingehüllt. Und die Farben und Konturen verschwanden. Alles war jetzt grau und vage. Graue, nicht alltägliche Abenteuer gibt es nicht. Graue, im Herzen verschlossene Kostbarkeiten auch nicht. Ach, diese ungestümen Studenten! Es waren vermutlich sonnige Tagen, wenn der Hof in klaren, frohen Farben erstrahlte, an denen sie unter lauten Rufen ihre dicken Mützen in die Luft geworfen haben.

    Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit … Menschenliebe …

    Und, und, und.

    Der Chirurg, der in sich zusammengesunken neben mir saß, summte im Bass eine trübsinnige, endlose, vermutlich von ihm selbst erfundene Melodie. Warum im Bass? Es hatte etwas Groteskes, dieses kleine zusammengesunkene Wesen. Ich hatte den Wunsch, durch seine übergroße Brille hindurch die Blitze in seiner Seele zu beobachten …

    Nein, jetzt wurde es bereits dunkel im Zimmer. Die Augen des Chirurgen gab es nicht mehr. Und sein erschöpfter, verkahlender kleiner Kopf erzeugte diese trübsinnige, endlose Melodie im Bass. Aa, aa, ooo, aa, aa, ooo … Irgendetwas ziepte an meinem Herzen, irgendetwas fehlte in meinen Hirnzellen. Mein Zorn brach aus dem Zellgewebe aus und löste sich mit Lichtgeschwindigkeit im Blut auf. Hunderte Wörter wollte ich diesem selbstgewissen Mann entgegenschleudern, der uns professorenhaft in diesen unterwürfigen Gehorsam eingesperrt hatte. Hunderte Wörter gegen eine Weltsicht, die Kriege, Hunger und Hass erzeugte. Schließlich waren solche vorübergehenden einzelnen Elemente der Umgebung unwichtig für seine Tatsachen für sich. Man konnte sie gegebenenfalls vernichten, einzeln oder en gros. Ganz gleich, ob mit langen dicken Rohren oder mit kurzen schlanken. Ganz gleich, ob durch Versetzung ins katholische, protestantische oder muslimische Paradies oder durch Fortsetzung der langen Agonie von Qualen und Schrecken. Ganz gleich … Nein. Nur nicht in diesem einschläfernden Grau. Aa, aa, ooo, aaa, ooo … Jetzt reicht es aber! Ich sprang plötzlich auf, der von mir verlassene Stuhl knarrte, und ich war mit einem Satz am Lichtschalter. Ich knipste ihn an. Weiches elektrisches Licht verbreitete sich von einer matten Kugel an der Decke. Schreibstubenlicht. Ich stand mit geballten Fäusten vor dem Professor, und mein Gesicht sah nicht besonders gemütlich aus, glaube ich.

    »Ich bin sehr dankbar, dass Sie Licht gemacht haben. In der Flasche ist noch etwas übrig, in der Dunkelheit hätte ich beim Nachschenken die Gläser nicht mehr erkennen können.«

    Und der Professor kümmerte sich laborantisch um mein Glas. Er hatte mich ganz einfach entwaffnet. Mit zwei banalen Sätzen, mehr nicht. Ich musste mich nur noch vorsichtig, um niemanden anzustoßen, wieder auf meinen Platz setzen und meine Rolle spielen … Dieses unvermeidliche Rollenspiel. Eines der wenigen Dinge, das uns die berühmte Evolution eingebracht hat. Wie oft ich auf der Flucht vor der Front und in Schutzräumen dieses Rollenspiel erlebt habe. Ich habe gesehen, wie unwillig, mit welch einer nervösen Angst, die sich nicht verbergen ließ, die deutschen Soldaten sich auf die Schlacht vorbereitet und vor uns eine Rolle gespielt haben. Schlecht und laienhaft, aber trotzdem haben sie die Rollen von mutigen Kriegern gespielt. Und einmal, als an unserem Schutzraum eine Bombe einschlug und das ganze Gebäude aus Stahlbeton wankte, als würde es von riesigen Händen gezogen, habe ich in den Augen eines vor mir stehenden Mannes die Todesangst gesehen, aber sein Mund hat gelächelt. Er hat die Rolle eines Mannes gespielt. Wenn es dieses Geschenk der berühmten Evolution nicht gäbe, dann hätte der Soldat vielleicht nicht auf diese wahnsinnige Tatsache für sich gehört und wäre nicht in den garantierten Tod gegangen, und der Besitzer dieses bedauernswerten Lächelns hätte vielleicht nicht in einer Tag und Nacht bombardierten Stadt herumgesessen. Es ist nicht männliche Selbstbeherrschung, dieses Rollenspiel, es ist unterwürfiger Gehorsam.

    Ich versuchte noch einmal, mich aufzurichten und einen Streit anzufangen. Zugegeben, mit gespielter Höflichkeit, aber ich habe es versucht.

    »Sie haben, Professor, einige von der Menschheit erschaffene Dinge vergessen. Den Humanismus, die Nächstenliebe, das Strahlen dieses kleinen, ewig schlagenden Gefäßes. Sie haben, Professor, das menschliche Herz vergessen.«

    Der Professor brach in Gelächter aus. Seine großartigen glänzenden Zähne drangen durch seine fleischigen Lippen. Er lachte lautlos, wie in einem Stummfilm. Nicht verletzend, nein. Sondern als hätte ich einen komischen und sehr warmherzigen Witz erzählt. Dann ging er behutsam zwischen den anderen hindurch und setzte sich neben mich auf das Sofa. Seine große Hand, eine Hand, die man männlich nennt, drehte an einem losen Knopf meines Jackenärmels.

    »Das ist das Mittel, mein Teurer, das Mittel. Der Starke hat sich ein Mittel ausgedacht, um den Schwachen abzulenken. Manchmal kann ja sogar eine Mücke schmerzhaft stechen. Und der Schwache spielt gern mit Abstraktionen. Was bleibt ihm denn auch anderes, als zu spielen. Und dann stellt er sich vor, dass er irgendeinen Wert hat, irgendeine Mission zu erfüllen hat. Er kratzt dem Starken den Rücken und denkt: ›Das tue ich aus Nächstenliebe. Zugleich stähle ich meinen Willen, ich erziehe mein inneres Ich.‹ Man wirft einem Kind einen Span hin, und die kindliche Fantasie erschafft sich daraus ein Schiff. Verzeihung.« Der Knopf meines Ärmels hatte sich gelöst. Der Professor steckte ihn mir in die Jackentasche und kehrte wieder zu dem Götzen – der Flasche – zurück:

    »Trinken wir.«

    Der Chirurg flüsterte mir schnell, sich verschluckend, ins Ohr:

    »Ich habe vorgestern einen Menschen umgebracht. Es war eine um zwanzig Minuten verspätete Operation. Es war meine Schuld – ich hatte mich verspätet. Und ich hatte mich verspätet, weil meine Vermieterin das Mittagessen zu spät zubereitet hatte. Und die Vermieterin hatte sich mit dem Essen verspätet, weil die Verkäuferin das Geschäft später geöffnet hatte. Und auch die Verkäuferin war aus irgendeinem Grund zu spät gekommen. Was glaubst du, dieser Mensch, den ich umgebracht habe, war er einer von den Schwachen oder von den Starken?«

    Endlich zeigte der Alkohol Wirkung. Alle redeten, und sie redeten über alles. Zerfetzte, paradoxe

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