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Ein Quartett für Paul: Novelle
Ein Quartett für Paul: Novelle
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eBook140 Seiten1 Stunde

Ein Quartett für Paul: Novelle

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Über dieses E-Book

"Schon vor vielen Jahren war Anna Henriette Kamrath, eine kleine, sehr hagere Dame von neunundsiebzig Jahren, gestorben, zumindest teilweise. Eine klare Angabe, wann das geschehen war, lässt sich nicht machen. Es war nicht von ihr beabsichtigt gewesen." Anna Henriette ist noch ein Kind, als ihr Bruder Paul in den 1930er-Jahren verschwindet. Zunächst in ein Heim, dann für immer. Paul war anders als die anderen Kinder. Jahrzehnte später kreuzen sich die Wege der Lehrerin Clara, des Musikers Hannes und des Jugendlichen Viktor in dem kleinen Ort, in dem Anna Henriette mittlerweile lebt. Sie erfahren von dem Schicksal des Jungen - und beschließen, es der Vergessenheit zu entreißen … Behutsam nähert sich Heide Eickmann mit ihrer Novelle dem Thema Kinder-Euthanasie während der NS-Zeit und damit einem lange unbeleuchteten Kapitel deutscher Geschichte.
SpracheDeutsch
HerausgeberBuch&media
Erscheinungsdatum29. Mai 2013
ISBN9783865204752
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    Buchvorschau

    Ein Quartett für Paul - Heide Eickmann

    1

    Auf Reisen

    Der Zug fuhr auf die Sekunde im Bahnhof ein. Ich stand so, dass das Abteil mit dem reservierten Platz schnell gefunden war. Ich streifte den Mantel ab, klappte das kleine Tischchen aus und entnahm meiner Tasche den Roman, der schon lange zu Hause auf mich gewartet hatte. Ruhe und Gelassenheit breiteten sich in mir aus. Der Druck der vergangenen Wochen fiel von mir ab. Bis zur nächsten Haltestelle des Zuges.

    Jetzt platzte ein Jugendlicher, vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, in das Abteil, das ich schon als mein eigenes angesehen hatte. Er ließ sich mit einem Seufzer auf den Platz mir gegenüber fallen, rutschte weiter nach vorne und saß mit weit auseinanderstehenden Beinen vor mir. Er blickte mich eindringlich an. Ich rückte ein wenig in meinem Sitz zurück. Seinem kräftigen »Tach« hauchte ich ein »Hallo« entgegen, nicht gewillt, in irgendeiner Form mit meinem Gegenüber Kontakt aufzunehmen. Als der Zug mit einem leichten Ruck wieder anfuhr, hielt ich mein Buch vor mich, was gar nicht so einfach war, denn meine Lektüre umfasste viele Seiten und war deshalb schwer. Auf Dauer würde ich mich auf diese Weise nicht verbergen können. So ließ ich das Buch das ein und andere Mal auf meinen Schoß sinken und betrachtete verstohlen meinen Mitreisenden. Mir wurde kalt.

    Kleine silberne Ringe an Augenbrauen, Nase, Mund und –wie ich später feststellte –der Zunge glänzten aus dem Gesicht. Die Arme waren bis zum Ansatz eines etwas zerfledderten T-Shirts mit allerhand von mir nicht klar erkennbaren Motiven tätowiert, die Haare durch eine Kappe verdeckt. Unmerklich stöhnte ich in mich hinein. So hatte ich mir meine Reise, die Stunden dauern würde, nicht vorgestellt.

    Vielleicht steigt er ja schon an der nächsten Station aus, dachte ich und machte mir Hoffnung.

    Die Geschwindigkeit des Zuges ließ in einer kleinen Senke langsam nach. Rechts und links war Wald zu sehen. Eigentlich schlich der Zug jetzt mehr, als dass er fuhr. Unbehagen breitete sich in mir aus, das in dem Moment anstieg, als er in der Waldeinsamkeit stehen blieb. Mehrfach würde ich umsteigen müssen. So stand es in meinem Plan. Der Blick aus dem Abteilfenster verhieß Frühling.

    Buschwindröschen bildeten einen weißen Teppich unter dem ersten Grün der Bäume. Freude für die Sinne, eigentlich. So sollte meine Reise sein. Aber damit war es vorbei. Ich wollte einfach nur weiter und meine Anschlussverbindungen nicht verpassen. Dafür wäre mir die Aussicht auf Schornsteine, Fabrikgelände, verrottende Hinterhöfe und Einkaufsmärkte auch recht gewesen.

    Nach einer Viertelstunde erschien der Zugbegleiter, um die Fahrscheine zu kontrollieren.

    »Was mache ich, wenn ich meine Anschlusszüge allesamt verpasse?«, fragte ich. »Warum«, meine Stimme sollte energisch klingen, zitterte aber ein wenig, »…warum stehen wir eigentlich mitten im Wald und fahren nicht weiter?«

    Mürrisch blickte er auf meinen Fahrschein. »Wo wollen Sie denn hin? Ach, nach Lükenwerda? Mit Ü? Brandenburg? Hm, da muss ich nachsehen, da komm ich später noch einmal vorbei. Wir haben einen Betriebsschaden. Da kann ich jetzt noch gar nichts Genaues sagen.«

    Er zog die Tür mit einem lauten Krachen hinter sich zu, als wolle er die Verbindung zu meiner Nachfrage durchtrennen, und verschwand.

    »So, nach Lükenwerda. Äh …ich auch …Nee, sogar weiter. Nach Schönchen. Das kennen Se bestimmt nich. Oder kennen Se Schönchen?« Der Junge sah mich eindringlich an. Er lächelte unfreundlich. Ein ironischer Zug lag um seinen Mund.

    Auch das noch, dachte ich und brachte etwas mühsam »Doch, da genau will ich hin« hervor.

    Lange fiel kein weiteres Wort, bis mein Gegenüber mit einem Unterton der Schadenfreude, dass es noch etwas Wichtiges mitzuteilen gab, weitersprach. Meine doch eigentlich spürbare Ablehnung schien er nicht wahrzunehmen. Während er versuchte, mir etwas zu erklären, sah er abwechselnd aus dem Fenster oder zur Abteiltür. Seine Augen flackerten unruhig hin und her, als warte er auf jemanden. Mit mir allein hier zu sitzen war ihm offenbar unangenehm. Mir allerdings auch.

    »Schönchen, also, sach ich Ihnen, is een völlig verschlafenes Nest. Muss man eigentlich nich hin. Nee, echt. Was wollen Se denn da?«

    »Ach …«, irgendwie sah ich mich genötigt zu antworten, »ausspannen. Abstand von so manchem. Eine kleine Ferienwohnung da in der Nähe …Freunde besuchen. Vielleicht sogar länger bleiben. Mal sehen.«

    Es entstand eine Pause.

    »Jetzt? Um diese Jahreszeit? Da ist aber noch nich mal Frühling. Nischt mit Schwimmen und so. Und dann das Dorf! Ab-stand gibt’s reichlich –zum Rest der Welt. Die Häuser da, gucken Se, lassen sich …«, er hielt seine Hände hoch, »also die lassen sich an zwei Händen abzählen. Echt tote Hose. Da können Se sogar am Tag die Flöhe husten hören. Vielleicht Vögel, wer’s mag …« Er räusperte sich. »Aber die Seen darum herum, echt geil, sag ich Ihnen. Schwimmen, im Sommer, bis zum Abwinken. Wäre in dieser Jahreszeit allerdings nur was für ganz Harte. Zu kalt. Oder wollen Se …? Training vielleicht. Abhärten. Manche mögen’s.«

    Wieder entstand eine Pause, diesmal allerdings kürzer.

    Andere in seinem Alter haben doch immer so Dinger im Ohr oder ein Handy vor der Nase, dachte ich. Warum um Himmels willen nicht auch dieser Junge hier? Angestrengt blickte ich nach draußen.

    »Schönchen ist ein Zwischenreich. Sach ich. Ein Zwischenreich.«

    »Zwischenreich? Wie meinst du, äh, wie meinen Sie das denn?« Ich wollte nicht unhöflich sein.

    »Se können mich ruhig duzen. Bitte.« Er räusperte sich. »Ja, Zwischenreich. Zwischen schön und kaputt eben.«

    »Aha, da sind wohl viele Häuser abrissreif, wie? Davon habe ich gehört. Meine Freunde dort …die will ich da besuchen. Die wohnen in einem kleineren Häuschen und finden es schön.« Warum klang meine Stimme nur so kläglich?

    »Ja, ja, die Gegend. Bilderbuch. Äh, die Seen natürlich.«

    Wann würde er endlich seinen Mund halten? Wieso redete er überhaupt mit mir? Er rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her. Irgendwie schien er in seinem Redebedürfnis nicht zu bremsen zu sein. Aber warum gerade heute, in diesem Abteil, bei mir?

    Sein Knie stieß an meins. »Tschuldigung. Wollte nich …« Er räusperte sich erneut. »Nich nur Bilderbuch. Trotz Frischanstrich. Soll ja alles hübsch aussehen. So neu. Glatt vielleicht auch. Und verdammt ordentlich. Verdammt, ja. Bleibt aber was Wildes. Restposten, irgendwie. Ungemähtes Gras, ne riesige Kastanie, Grabsteine von ganz früher und so. Ne Kirche, die auch beinahe in sich zusammengefallen is. Wird gerade wieder aufgepäppelt. Alles kurz vorm Umkippen. Nich so in Reih und Glied und gerade wie sonst überall. Das nich. Nee …«

    Wieder schwieg er eine Weile.

    Endlich, dachte ich.

    »Da is die Zeit stehen geblieben. Und die Zeit, die alte, die sieht man hier irgendwie. Is einfach nicht wegzurenovieren, echt nich. Zwischenreich passt. Zwischen leben und sterben, zwischen reden und schweigen. Oder umgekehrt. Ich weiß auch nich so genau. Und zwischen leben lassen und morden, das auch.«

    Ich erschrak. »Morden?«

    »Klar doch. Morden …«, redete er unbekümmert weiter, »vielleicht nur ein Mord. Keine Ahnung. Reicht ja schon. Finden Se nich? Mord im Zwischenreich. Oder im Reich der Einsamkeit. Da brauchen Se gar nicht so dicke Schinken lesen wie den da.« Er schaute verächtlich auf mein Buch, auf das ich mich so gefreut hatte. »Brauchen Se echt nich. Können Se alles in Schönchen, in dem netten kleinen Ort …Da haben Se dann ne Geschichte. Von …«

    Die Abteiltür wurde aufgerissen. »Kaffee? Tee? Cola? Eine Brezel?«

    Ich entschied mich für Kaffee. Mein Gegenüber für nichts.

    Ich nippte an meinem Kaffeebecher.

    »Ich heiße übrigens Shakespeare.«

    Hustenreiz und Lachschwall überfielen mich, so dass ich mit Mühe ein wenig Kaffee hinunterschlucken konnte. Der Rest spritzte mir aus Mund und Nase und landete tröpfchenweise auf meiner sorgsam ausgesuchten Reisekleidung. Alle möglichen Namen hätte ich mir für den Jungen vorstellen können, aber nicht diesen.

    So sieht also Shakespeare aus, dachte ich. Wieder musste ich lachen. Ich verschluckte mich und Shakespeare stand auf und klopfte mir auf den Rücken. Beinahe beruhigend und an-scheinend von meiner Reaktion völlig unbeeindruckt meinte er: »Meine Freunde nennen mich so. Unser Shakespeare, sagen se. Naja, Freunde …Die sagen das so, weil ich mich für vieles interessiere, was andere nich hören wollen. Ich sach ja, Morde zum Beispiel. Die besonders. Nur schreiben kann ich leider nich. Und Shakespeare, hat der was geschrieben?«

    Er sah mich fragend an, beinahe erwartungsvoll. Ich vergaß das viele Silber, die wilden Zeichnungen auf den Armen. Ich sah seine Augen, sein Lächeln, das jetzt gar nicht mehr ironisch wirkte. Ich hörte die Scheu, die in seiner Frage lag.

    Unversehens war ich neugierig geworden. Der Junge entdeckte es in meinem Gesicht, das er immer wieder erforschte. Er wartete ab, bis ich meine Kleidung geordnet, den Pappbecher entsorgt und das Buch weggepackt hatte. Dann räusperte er sich und verstummte. Sein Blick verlor sich in der Frühlingslandschaft, die er nicht wahrzunehmen schien. Ab und zu gab er abgehackte Sätze von sich. Wiederholt vernahm ich »Schönchen«; immer wieder fiel ein Name.

    So lernte ich Anna kennen. Wortfetzen verwandelten sich beim Hören in einen Film, in den ich eintauchte und in dem sie die Hauptrolle zu spielen schien. Eine riesige Kastanie musste vor ihrem Haus gestanden haben. Grabsteine tauchten vor meinem inneren Auge auf. Mit all dem musste Anna verwachsen gewesen sein.

    2

    Anna

    Schon vor vielen Jahren war Anna Henriette Kamrath, eine kleine, sehr hagere Dame von neunundsiebzig Jahren, gestorben, zumindest teilweise. Eine klare Angabe, wann das geschehen war, lässt sich nicht machen. Es war nicht von ihr beabsichtigt gewesen. Es war einfach passiert. Und sie wehrte sich auch nicht dagegen. Wie hätte das auch gehen können? Die Kraft dazu fehlte, der Wille war ihr schon lange abhandengekommen, und so ließ sie es einfach geschehen.

    Spürte sie selbst den Schatten, der sich über sie legte, jede Sekunde, Minute, Stunde, jeden Tag, in all den vergangenen Monaten und Jahren?

    Ein einziges Mal, lange nachdem ihr bisheriges Leben nach und nach verschwunden war, durchzuckte sie einen kurzen Atemzug lang die Sehnsucht nach Auflehnung gegen das Unvermeidliche. Das war an dem Tag, an dem das Klavier abgeholt wurde. Das Haus ihrer

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