Einblick – Ausblick – Durchblick: Anthologie mit Kärntner Autorinnen
Von Susanne Bauschke
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Buchvorschau
Einblick – Ausblick – Durchblick - Susanne Bauschke
Impressum
Karin Varch, geb. am 11. 1. 1961, lebt und arbeitet in Villach. Als Ausgleich zu ihrem Kopfjob schreibt sie. Sie liest sehr viel und zaubert mit Acrylfarben Fantasien auf die Leinwand. Im Jahr 2005 setzte sich in ihr der Begriff „Wortmalerei fest und sie begann das Studium „Belletristik
sowie „Sach- und Fachliteratur" an der Hamburger Akademie für Fernstudien.
Veröffentlichungen in diversen Anthologien folgten und in den Jahre 2009 und 2010 erschienen ihre Bücher „Tote Augen – stumme Schreie und „Florine, die Geschichte einer Seherin
im Memoiren-Verlag. Demnächst erscheint ihr neuer Roman „Verkauft".
* * *
Irgendwo im Nirgendwo
von Karin Varch
Unablässig klatschen dicke Regentropfen gegen das Glas, laufen in breiten Schlieren über die Scheibe, sammeln sich auf dem Fensterbrett, um von dort ein Stockwerk tiefer auf dem Asphalt in einem Sprühnebel zu zerplatzen. Das dumpfe, monotone Getrommel übertönt das pfeifende Geräusch aus seiner Lunge.
„C6H12O6 Molekularformel für Zucker", murmelt mein Vater fortdauernd und schwer verständlich, während er vor der Terrassentür sitzt und ins Leere starrt. Sein trüber Blick registriert alles, was sich da draußen abspielt, doch diese Eindrücke verlieren sich im Nichts. Kaum merklich schwankt sein Oberkörper, während er beständig mit der rechten Hand vom Nacken aufwärts über seinen Kopf streicht, die Hand vorne über das Gesicht führt, um über den Nacken und den Hinterkopf die kreisförmige Bewegung fortzuführen. Wirr stehen seine eisgrauen Haare vom Kopf ab und seine Haltung drückt eine Einsamkeit aus, die kaum zu ertragen ist. Knallend schlage ich mit der flachen Hand auf das ledergebundene Notizbuch, das ich in seinem Sekretär gefunden habe, und wische mir die Tränen von den Wangen. Flüchtig habe ich es zur Hälfte aufgeschlagen und lasse nun die Seiten leise raschelnd durch meine Finger gleiten. Was ich gefunden habe, ist das Dokument eines grausamen Schicksals. Seines Schicksals. Ich schaue zu ihm hinüber. Die Hände liegen nun ruhig auf seinem Schoß. Dafür wiegt er seinen Oberkörper begleitet von einem monotonen Singsang vor und zurück. Eine traurige Gestalt, gefangen in einer Welt, zu der ich keinen Zutritt habe. Eine Welt, in der jedes Gefühl in Einsamkeit erfriert. Eine Einsamkeit, die allmählich auf mich übergegangen war. Schleichend, zunächst fast unbemerkt, überkam sie mich, und als ich es bemerkte, war es zu spät. Nun bin ich so allein wie mein Vater. Freunde haben sich von mir abgewandt, da ich nahezu rund um die Uhr für ihn da sein muss. Ich greife zum Handy und wähle die Nummer, die mir so vertraut ist. Eine Nummer, die ich anrufen kann, wann immer ich will, wann immer ich es brauche, wann immer ich jemanden zum Zuhören brauche. Rasch ist die Verbindung aufgebaut. „Hallo, hier ist Angelika", melde ich mich und meine Stimme klingt rau. „Ich muss mir meine Hoffnungslosigkeit von der Seele reden. Eine Hoffnungslosigkeit, die mich fast erdrückt. Kannst du dir vorstellen, wie es ist, wenn ein Mensch, dessen Lenden du entsprungen bist, immer mehr verfällt? Angefangen vom simplen Vergessen, über Beschuldigungen und Kontrollwahn bis zu seinen Aggressionen und dem Verlust seiner Identität. Mit seinem geistigen und auch körperlichen Verfall begann für mich eine Passion, deren Ausmaß ich erst allmählich begreife. Ich muss hinaus. Hinaus aus diesem Haus, das wie ein Gefängnis für mich ist. Hinaus aus dieser Isolation, die mich erdrückt. Hinaus aus seinem kleinen Leben, das mein eigenes verstümmelt, reduziert, zu einem Nichts verkommen lässt. Jede Faser meines Körpers ist auf Flucht programmiert, sehnt sich nach Freiheit, nach Unabhängigkeit. Ich will aufatmen können, durchatmen, Selbstbestimmung inhalieren und Ungebundenheit.
Ich will wieder mein Leben leben in meiner Welt. Eine Welt, die ihn ausschließt, die ihn nicht mehr teilhaben lässt, die ihn ignoriert und die er in dieser Form nicht mehr registriert. Eine Welt, die nicht mehr seine ist, die ihn dennoch zwingt zu existieren. Bis der Tod ihn – nein: uns – erlöst. Bis seine Seele in Frieden die letzte Reise antreten kann. Wann immer das auch sein wird. Was soll ich nur machen, wenn meine Kraft nicht mehr für uns beide reicht?"
Als ich das Handy beiseite lege, war es heiß geworden. So heiß wie die Tränen, die ihre Spuren in meinem Gesicht hinterlassen haben. Ich schaue auf das abgegriffene Notizbuch, das auf meinen Oberschenkeln liegt, und öffne den Deckel. In seiner großen, kantigen Handschrift, die ohne jeden Schnörkel auskommt, hat er Buch geführt über das, was ihn bewegt. Auch wenn es mir schwer fällt, ich muss wissen, was er niedergeschrieben hat:
Viele führen ein Tagebuch – ich führe Buch über das, was meine Krankheit mit mir macht. Damit lasse ich dich teilhaben an meinem Verfall, an diesem beispiellosen Akt der Selbstzerstörung, dem mein Körper mich aussetzt.
Tage – was sind schon Tage? Für die einen bedeuten sie die Unterteilung des Jahres in 365 Segmente, die sie anfüllen mit Rastlosigkeit, Arbeit und Strapaze. Für mich sind sie winzige Orientierungspunkte, die von Zeit zu Zeit, und in der letzten Zeit immer öfter, zu einem undurchsichtigen Konglomerat verschmelzen. Daher verzichte ich bewusst darauf, meine Aufzeichnungen in Tage zu unterteilen. Diese Aufzeichnungen, Situationsberichten gleich, sollen vielmehr eine Niederschrift meines Untergangs werden – ein Dokument zum begreifbar machen des Unbegreiflichen. Dabei wähle ich bewusst die Gegenwart. Sie ist es, die mich aufrecht hält. Sie ist es, die mir Sicherheit gibt. Sie allein lässt mich die Realität, das Leben, mein Dasein, spüren. Aber genug mit überflüssigen Ausschweifungen, ich beginne im Hier und Jetzt: Ich verharre an meinem Platz am Fenster und glotze in die Nacht, die sich mittlerweile über die Stadt gelegt hat. Es regnet nicht mehr. In den Ästen hängen fette Tropfen, die nach und nach mit sattem Plop ins bunte Laub fallen. Im nassen Asphalt spiegelnde Straßenlaternen winken mir zu. Scheinwerfer fressen sich durch die Dunkelheit und da und dort schälen sich Nachtschwärmer aus den Schatten der Häuser. Träge zieht der späte Abendverkehr vorüber. Die Geräusche der Nacht bahnen sich ihren Weg durch die Ritzen und füllen die Stube. Töne – ich höre sie, doch sie versickern, dringen kaum zu mir durch. Begleitet von leisem Ticken ziehen die Stunden durch den Raum. Ein Luftzug schwebt durch mein Zimmer. Jene Frau, die mich allabendlich daran erinnert, dass es Zeit ist, ins Bett zu gehen, ist gekommen. Mein Blick tastet die schlanke Gestalt ab, die vor mir steht. Ich suche nach etwas Bekanntem. Kenne ich dieses Gesicht, umrahmt von langen blonden Locken? Kenne ich diese Hände, die mich fürsorglich berühren? Ich kann mich nicht erinnern. Furcht beschleicht mich. Ob ich keinen Hunger hätte, will die Frau wissen, die mir über das Haar streicht. Meine Angst steigert sich zur Panik. „Sie kommen. Ich habe es gesehen. Die Waffen … sie bringen ihre Gewehre mit", sage ich zu ihr.
„Wir verstecken uns vor ihnen, komm!", erwidert sie und führt mich ins Badezimmer.
Als ich später im Bett liege, hat sich die Angst gelegt. Eine Angst, die ich nicht beschreiben kann, von der ich nicht weiß, woher sie kommt. Aber wenn sie da ist, erdrückt sie mich beinahe. Diffus bestrahlt der Fluter die Zimmerdecke. Ich lasse meinen Blick schweifen. Das Mobiliar kommt mir fremd vor und dennoch so vertraut. Der auf Hochglanz polierte Sekretär, der kleine Beistelltisch, der große schwere Ohrensessel, dessen beigefarbener Bezug schon abgenutzt wirkt. Oder die bordeauxroten Samtvorhänge. Was war nur mit diesen Vorhängen? Ich erinnere mich nicht mehr daran, aber ich habe sie schon einmal gesehen. Irgendwo. Irgendwann. Ich weiß nur nicht mehr wo, nicht mehr wann. Auf einem Bord in der linken Zimmerecke steht das Foto einer Frau. Sie blickt aus graublauen Augen lächelnd zu mir herüber. Das schlohweiße Haar hat sie adrett zu einem Knoten geschlungen. Was macht ihr Foto in meinem Zimmer? Ist das überhaupt mein Zimmer? Wer ist diese Frau? Ich kenne sie nicht, dennoch berührt sie mein Herz.
Irgendwann hat das Vergessen begonnen. Dieser schleichende Verfall der Gehirnzellen. Dieses gnadenlose Versinken in einer Vorwelt, die keine Gegenwart zulässt. Diese grausame Erkenntnis, dass sich mein Leben auf ein Minimum an Aktivitäten reduziert und ich dadurch meinen Wert verliere, meinen Stolz, meine Selbstachtung. Gestern? Was war gestern noch gleich? Ich versuche mich zu erinnern. Ich zermartere mein Hirn, doch da ist kein greifbares Bild in meinem Kopf. Verdammt, wie kann Gott so etwas zulassen? Wie kann er zulassen, dass mein Körper weiter existiert, doch mein Gehirn alles vergisst, was die Existenz meiner lebendigen Masse ausmacht?
Heute geht es mir gut. Locker gleitet die Federspitze über das Papier und meine Hand zittert kaum. Ich spüre, wie meine Gehirnzellen arbeiten. Da sind Erinnerungen greifbar. Das ist ein Gefühl wie ... wie… ich finde keine Worte dafür. Egal. Erinnern. Das ist, wie etwas ein zweites Mal erleben. Oder ein drittes Mal. Immer wieder. So oft man will. Erinnern. Ein schönes, ein seltenes Gefühl. Es füllt das Herz, lässt das Leben spüren, lässt es durch die Adern strömen bis in die kleinsten Gehirnzellen, lässt die Haut prickeln. Nur manchmal, da würde auch ich mir wünschen zu vergessen. Dann, wenn die Klauen der Vergangenheit mich fest im Griff haben. Wenn ich in einer Erinnerung gefangen bin wie damals in der alten Baracke während des Krieges: Wir hockten zusammengepfercht auf dem feuchten Lehmboden und warteten auf das Erschießungskommando. Ich war erst siebzehn damals. Alt genug, um in den Krieg geschickt zu werden, doch zu jung zum Sterben. Ich spürte die Körper der Mitgefangenen, die sich schützend vor meinen pressten.