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Déjà vu eines Versagers: Wenn man sein Leben noch mal leben könnte, was würde man ändern?
Déjà vu eines Versagers: Wenn man sein Leben noch mal leben könnte, was würde man ändern?
Déjà vu eines Versagers: Wenn man sein Leben noch mal leben könnte, was würde man ändern?
eBook725 Seiten9 Stunden

Déjà vu eines Versagers: Wenn man sein Leben noch mal leben könnte, was würde man ändern?

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Über dieses E-Book

Wer von uns hätte sich nicht schon mal gewünscht, seine im Leben gemachten Fehler korrigieren zu können. Sei es privat, beruflich oder finanziell. Allerdings muss man bedenken, dass jede Änderung zu einem neuen Weg führt und man vermutlich andere Fehler begehen wird, wie Achim Hofmann in dieser Geschichte, der in immer neue haarsträubende Situationen gerät, die mit seinem bisher Erlebten nicht mehr viel gemeinsam haben.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum21. Apr. 2017
ISBN9783742790767
Déjà vu eines Versagers: Wenn man sein Leben noch mal leben könnte, was würde man ändern?

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    Buchvorschau

    Déjà vu eines Versagers - Werner Koschan

    Vorwort

    Also schön, bin ich eben verrückt geworden. So was kommt öfter vor, als wir glauben. Allerdings hätte ich nicht gedacht, dass man dabei so klar im Kopf sein würde. All solche Sachen passieren immer mir, warum eigentlich? Ich kann mich noch genau erinnern.

    »Sehen Se, Hofmann, nichts als Zores hat man«, sagte Kolberg, als er mich lächelnd ruinierte.

    »Nichts als was?«, fragte ich, in Gedanken weit weg im Chaos meiner persönlichen Lebensniederlage.

    »Nichts als was, ›was‹?«

    »Was Sie gesagt haben, was man hat, Zoodingsbums.«

    »Weiß er nicht, was Zores sind, das glückliche Menschele? Zores bedeutet Sorgen, Zores bedeutet Unannehmlichkeiten. Wie steht es nun mit Ihrem Signum unter den Vertrag?«

    Aus und vorbei war es mit der Selbstständigkeit und dem schönen Laden. Das war wirklich ein großartiger Traum gewesen, fini!

    So war das und jetzt bin ich anscheinend in einer Klapsmühle gelandet. Schade um mein schönes junges Leben. Eine weiße Welt, alles um mich herum ist weiß. Ich liege in einem weißen Bett, weiße Wände treffen auf eine weiße Decke. Der Nachttisch neben mir und sogar die Fensterläden sind weiß. Um Himmels willen.

    Mein erster Eindruck ist fürchterlich – ich bin tatsächlich in einer Klapsmühle gelandet. Befürchtet habe ich das ohnehin oft, wenn ich nach einem Gelage irgendwo in einem fremden Bett aufgewacht bin. Selbstverständlich habe ich stets gehofft, mich zu irren. Nun scheine ich in der Tat irre geworden zu sein. Feines Gefühl, muss ich schon sagen!

    Schweiß steht mir auf der Stirn. Was mag ich nur angestellt haben und wie bin ich hierher gekommen? Ich habe keinen blassen Schimmer. Ans Bett geschnallt bin ich jedenfalls nicht. Gott sei Dank – man muss ja für alles dankbar sein.

    Vielleicht träume ich dies auch nur. Ach Quatsch, viel wahrscheinlicher wird sein, ich bin tot. Hat gar nicht wehgetan. Das gefällt mir, ich bin tot und im Himmel. Doppelter Quatsch, ich und in den Himmel kommen – also bin ich tot und in der Hölle gelandet. Hier sieht es überhaupt nicht so aus, wie man sich eine Hölle vorstellt. Eher im Gegenteil und der Gedanke, dass es in der Hölle hell, reinlich und gemütlich sein könnte, hat was. Wie mag es dann im viel gepriesenen Himmel aussehen? Ach was, dreimal Quatsch, das kann nur eine Ausgeburt meines kranken Hirns sein. Oder ein Rätsel, dessen Lösung ein Geheimnis ist.

    Also doch Klapsmühle! Im Schädel donnern Presslufthämmer. Vorsichtig taste ich meinen Kopf ab. Einen strammen Verband fühle ich. Fühlt sich beinahe so an wie jener, der mich quälte, als mein rechtes Auge futsch war.

    Die weiße Tür wird geöffnet, eine Krankenschwester tritt in meinen Irrensalon. Was für eine Schwester, mein lieber Schwan! Die muss einem Katalog für Geisterbahnzubehör entstiegen sein. Solch einen hässlichen Menschen habe ich überhaupt noch nie gesehen, nicht mal, wenn ich in den Spiegel schaue. Nun ja, vielleicht ist diese Szenerie nur eine Ausgeburt meines Irreseins – hoffe ich für die arme Frau. Hoffe ich, weil sie mich auf eine dermaßen nette und freundliche Art anlächelt, dass mir zum Heulen ist. Mit schelmischem Lächeln schiebt sie mir eine Bettpfanne unter. Mein Gott, wie ist das peinlich! Sie scheint nicht zu der Art Krankenschwestern zu gehören, die ich in Deutschland bisher kenne – die Sorte, die vor nichts zurückschreckt. Diese ist hässlich, aber wenigstens liebenswert aufgeschlossen. In den Kliniken, in denen ich bisher verwahrt wurde ... lassen wir das. Ich schaue die Frau neugierig an. Sie streicht mein Kopfkissen glatt und streichelt mit dem Handrücken fast schon zärtlich meine Wange.

    »Bonjour M’sieur, ça va?«

    Das hört sich Französisch an, so verblödet bin ich noch nicht, also nicht Deutschland. Das ist typisch – mein Irrentraum muss natürlich zumindest in Frankreich spielen. Moment mal, wieso Frankreich?

    »Merci, ça va bien«, sage ich zu meiner eigenen Verwunderung, weil ich von Fremdsprachen so viel Ahnung habe wie ein Kamel vom Eier legen. Komisch, durch die fremde Sprache erinnere ich mich wieder ein kleines bisschen. Irgendetwas war in Frankreich los. Wenn mir nur einfallen würde, was. Was habe ich nur gemacht? Mein Kopf ist leer, aber komplett. Die Schwester wäscht mir den Hintern ab – in Situationen kommt man! Sie zwitschert dabei wie ein Vögelchen. Was für ein Job ... Ich habe nicht zugehört.

    »Pardon, Madame«, sage ich.

    Sie erläutert mir lächelnd in der fremden Sprache, die ich sogar verstehe, dass meine Mom täglich anruft und wissen möchte, wann ich wieder wach sei, um mich zu besuchen. Dies kapiere ich überhaupt nicht mehr. Mom ist doch von zu Hause weggelaufen, als ich fünfzehn war, das ist zwanzig Jahre her und ich habe keinen blassen Schimmer, wo sie lebt. Und dann ... und dann – mir ist schwummerig, pinkeln muss ich gleich noch mal und schweißnass bin ich auch. Ganz bestimmt muss ich jetzt sterben – Gott, ist mir schlecht!

    Ich versuche der Schwester meinen Zustand zu beschreiben, aber meine Zunge klebt. Schlieren trüben die Sicht, ein Farbreigen tanzt vor den Augen, das weiße Zimmer ist auf einmal verschwunden. Ich erhebe mich sanft und leicht wie eine Feder, fliege zum strahlend blauen Himmel und umkreise ein paar Wolken – tatsächlich kann ich fliegen. Unter mir sehe ich eine ungewöhnlich bunte Blumenwiese, ein Fluss trennt sie vom anliegenden Wald. Irgendetwas zerrt an mir, den Fluss zu überqueren. Und ich erkenne mit Schrecken, dass es sich um den Fluss Lethe handelt, der das Reich der Lebenden von dem der Toten trennt. Aus dem dunklen Reich spüre ich große Kräfte, die mich hinüberziehen, aber ich will nicht. Ich schreie so laut ich kann, will nicht nach drüben zu den Toten. NEIN!

    Wie besessen schwimme ich in der Luft gegen die dunklen Mächte aus dem Totenreich an und fühle, wie mir schwindlig wird. So schwindelig war mir lange nicht mehr. Ich erinnere mich, dass es schon einmal eine ähnlich groteske Situation gab. Da war ich ... da habe ich ... Wenn ich nun ohnmächtig werde, bin ich verloren. Es hilft nichts, ich komme einfach nicht von der Stelle. Das Blumenwiesenufer des Flusses Lethe entfernt sich sogar weiter, egal, wie kräftig ich mit den Armen rudere. Das Ufer des Lebens wird unscharf und immer unerreichbarer. Nessun maggior dolore ... Dante fällt mir ein, Dante Alighieri. Der sagte mal Nichts bedeutet mehr Schmerz, als sich im Unglück an Zeiten des Glücks zu erinnern. Der hatte gut reden. Ich glaubte bisher ein Masselmolch zu sein – aus und vorbei. Ich glaube, ich gebe auf, diese Situation ist viel grauenhafter als all die Albträume, die ich bisher hatte, wenn ich wieder einmal stark unter Druck stand ...

    Vorspiel

    Ich träume, dringend pinkeln zu müssen aber das Klo ist verstopft, die Tür lässt sich nicht absperren, alles läuft über, ich kann meine Not nicht länger einhalten und es plätschert aus mir heraus – klatschnass wache ich auf. Trau mich nicht, mein Auge zu öffnen – ich habe leider nur noch eines. Und wie jedes Mal nach einem dieser Albträume frage ich mich voller Furcht, was, wenn es diesmal kein Angstschweiß wäre und ich tatsächlich sozusagen im Bett in eigenem Saft schwimme? Aber ich liege gar nicht im Bett. Ich lehne mit geschlossenen Augen an einer kalten Wand. Habe es wohl doch noch bis zur Toilette geschafft. Mir ist unheimlich schwindelig.

    »Wenn du dein Leben noch einmal leben könntest, was würdest du tun?«, erinnere ich mich an eine Frauenstimme. Sonja heißt sie und wir haben Rotwein getrunken. Und dazu eines ihrer, wie sie sagt, Pillchen geschluckt. Ich war so high, dass ich unbedingt noch ein zweites haben wollte, obwohl sie mich gewarnt hat. Und noch mehr Rotwein dazu, obwohl ich Biertrinker bin? Denn ich habe eine ziemlich dramatische Beziehung zu Rotwein – vielleicht auch der Rotwein zu mir – geradezu explosiv. Immer wenn ich zu viel davon intus habe, passiert mir irgendetwas – manchmal was Schönes, manchmal was Schlechtes. Ach Quatsch, eigentlich nur Schlechtes. Dabei soll Rotwein ja gut gegen Herzinfarkt sein, aber unsereins hat einfach kein Glück. Der mir vom Schicksal zugewiesene Platz ist und bleibt der verlorene Posten.

    Ich bin eine tragische Figur bin ich!«

    Am Freitag ist Sonja geradezu in mich hineingerannt. Hat von meinen Pommes frites gekostet. Und ohne Vorbehalte hat sie mich nach Hause begleitet, weil sie nicht wusste wohin. Unterwegs, beim Gymnasium, an dem wir vorbei mussten, hat sie dann diese Pillchen besorgt. Erst hatte ich ja erwartet, sie holt Kokain oder so etwas. Aber sie hat mir erklärt, das sei nur Spielzeug für Anfänger. Sie kenne viel wirkungsvollere Mittel und ... mir ist so schlecht.

    »In eine andere Dimension werden wir eintauchen«, hat Sonja prophezeit.

    Anschließend hat sie mir ein Gedicht aufgesagt. Wie war das gleich? Vergessen. Von irgendeiner Tante – nein, Dante! Irgendwas mit der Mitte meiner Lebensreise. Und dann kam was mit Tod. Dabei waren wir sehr lebendig.

    »Wenn wir Rotwein trinken«, hat Sonja orakelt, »und so ein Pillchen dazu schlucken, das wird ganz unglaublich wirken. Könnten aber heftige Nebenwirkungen auftreten.«

    »Je heftiger, desto geiler«, habe ich begeistert zugestimmt.

    Und nun stehe ich in meinem stillen Örtchen und muss mich an die kalte Wand lehnen, sonst haut es mich um. Ich werde mal mein Auge riskieren, wie gesagt, ich habe nur eines. Ogottogottogott! Lieber Gott, mach, dass dies alles nicht wahr ist!

    Nackt, splitternackt stehe ich in einer Reihe lauter nackter junger Männer, die allesamt meine Söhne sein könnten. Da brate mir einer eenen Storch, denke ich, und de Beene recht saftig.

    Was um Himmels willen hat das jetzt wieder zu bedeuten? Wieso träume ich solch einen Superquatsch? Noch dazu, wenn ich mit der Hand vergeblich nach einer Unterhose taste. Ausgerechnet ich im Adamskostüm, das ist eine sehr peinliche Situation – die anderen sehen ja wenigstens sportlich aus, die meisten zumindest. An mir sieht nichts mehr sportlich aus. Na ja, die Zeit vergeht. Und ich esse so gerne.

    Mir sagt es nichts, wenn ich Männer sehe. Einer allein wirkt auf mich schon albern genug, aber noch dazu splitternackt – was für eine Farce. Zudem empfinde ich diese Szene eher traumatisch als traumhaft. Und möchte bitte gerne aufwachen. In Romanen heißt es doch so schön, man soll sich kräftig kneifen, um festzustellen, ob man träumt oder nicht. Kann ich nur lachen.

    Habe ich nämlich früher schon mal versucht. Als ich mit einer Kundin im Clinch lag, hinten beim Leergut. Die war gelenkig wie eine Katze und die grünen Augen in ihrem Gesicht unter der schwarzen Mähne unterstrichen diesen Eindruck.

    Meine Frau hat vorne in unserem Getränkemarkt Brötchen geschmiert und hinten beim Leergut ist die Schwarze über mich hergefallen, weiß der liebe Himmel, wieso? Junge, Junge. Ich wusste gar nicht mehr, ob ich hin oder weg war. Also habe ich sie ein wenig in den Po gekniffen. Ganz leicht. Sie hat mir daraufhin in die Lippen gebissen, dass ich vor Schmerz kaum atmen konnte.

    Meine Frau hat mich danach ausgelacht, weil sie dachte, ich wäre unters Leergut gekommen. Seitdem lasse ich das lieber mit dem Kneifen. Besonders jetzt, wer weiß, was diesmal hier passiert?

    Vor allem, wo ich wieder einmal so ungemein realistisch träume. Von nackten Frauen träume ich ja ganz gerne. Aber nackte Männer? Noch dazu, wo das überwiegend recht junge Burschen sind. Und dazwischen ich. Ein Mann in den besten Jahren, wie man sagt. Was schlichtweg bedeutet, dass meine guten Jahre schon eine Weile vergangen sind. Achtunddreißig bin ich Freitag vor einer Woche geworden. Und ganz schlimm, in zwei Jahren werde ich sogar vierzig – nur nicht dran denken.

    Was habe ich zwischen dieser Popoparade bloß zu suchen? Wenn ich nur wüsste, warum ich so etwas träume – wenn ich denn träume! Könnten wirklich allesamt meine Söhne sein. Und ich alter Esel stehe zwischendrin. Mit dünnem Haar und schäme mich wegen meines Bauches. Ich esse so gerne Pommes frites und Pizza. Muss ein seelischer Komplex sein. Ich bin mir schon lange nicht mehr so lächerlich vorgekommen. Und weshalb ich nackt hier herumstehe, kann ich mir ums Verrecken nicht vorstellen, wenn ich es genau nehme.

    Wir stehen nebeneinander in einer Reihe vor einem Tisch. In einem hellen Raum, der nach muffiger Schulklasse riecht. Tisch stimmt gar nicht. Es handelt sich um zwei rechteckige Tische, die mit den schmalen Seiten gegeneinander gestellt sind. Dahinter sitzen weitere vier Männer in weißen Kitteln. Klarer Fall. Ich muss in meines Lebens Mitte schwul geworden sein. Eijeijei!

    Die Weißkittel hocken närrisch ernst hinter dem Tisch, vor dem wir in lächerlicher Nacktheit stehen, und starren uns Nackedeis an. Ulkigerweise kommt mir die Szene irgendwie bekannt vor. Wie nennen so was doch gleich die Franzosen?

    »Déjà vu.«

    Ich habe nur ganz leise vor mich hin gemurmelt, aber die Jungs neben mir haben es trotzdem gehört und sehen mich leicht irritiert an.

    Ich nicke freundlich. Das hier ist jetzt wahrscheinlich so etwas wie ein Déjà vu-Traum, denke ich. Klar, ich träume etwas längst Vergangenes. So wie mir der Schädel brummt, ist das eher ein Angsttraum. Vor allem, weil ich nicht wie sonst in meinen Träumen unbeteiligt zuschaue, sondern sozusagen mittendrin bin in der Dramatik. Vielleicht Delirium?

    Wenn ich jetzt nicht mit einem lauten Grunzen wach werde, hat mich Sonja irgendwie verhext. Was war gestern Abend? Irgendwas wollte sie von mir wissen. Irgendwelche mit Leben noch mal leben. Unsinn! Also Delirium tremens soll ja widerlich sein, mit rosa Elefanten und Stimmen von Leuten, die man nicht mag und so. Also jetzt bitte schön noch mal von vorne und ganz sachlich nachgedacht. Nehmen wir mal an, ich träume nicht. Könnte ja sein, denn diese Situation hat etwas unwirklich Wahres an sich. Ich habe immer schon befürchtet, dass bei mir eine Schraube locker sein muss, wahrscheinlich sogar mehrere. Wieso könnte es sein, dass ich zwischen lauter männlichen Nackedeis stehe? Das finde ich abstrus und fühle mich reichlich unwohl in meiner Haut. Wie gesagt, wenn es Frauen wären, nackte junge Frauen! Holla die Waldfee! Lieber nicht dran denken.

    Zweiter Versuch, nehmen wir mal an, dass es sich doch um einen Traum handelt, dann allerdings um einen äußerst realistischen, denn es riecht. Der Kerl vor mir stinkt geradezu ranzig. Kann man beim Träumen etwas riechen? Keine Ahnung, eher unwahrscheinlich. Ich habe mich an eine gewisse Durchschaubarkeit des Zufalls gewöhnt – ich glaube sogar, dass das sogenannte Unwahrscheinliche in gewisser Weise sogar logisch ist. Aber das hier ...

    Die vier Nackten, die vor mir in der Reihe stehen, gehen ein paar Schritte bis zum Tisch. Sie heben die Arme, als wollten sie Äpfel pflücken, drehen sich um die eigene Achse, bücken sich wie auf Kommando und greifen mit beiden Händen hinter sich. Ich lache laut auf.

    »Schnauze da hinten, Saukerl!«

    Aus dem Kragen eines der vier Weißkittel auf der anderen Tischseite reckt ein roter Glatzkopf mit rostfarbenem Vollbart. Dem hat es anscheinend den Haarwuchs nach unten verschlagen. Die Glatze hat mich angeschrieen und schlägt mit der Faust auf den Tisch, dass die Papierstöße, die darauf liegen, erzittern.

    Das kommt mir irgendwie bekannt vor. Wo habe ich so was Ähnliches bloß schon mal erlebt? Ich komme einfach nicht drauf.

    Die Jungs haben den Tisch verlassen und gehen in Richtung einer Körperwaage.

    »Die nächsten vier vortreten!«

    Ich bin der Vierte. Der zweite Weißkittel von rechts winkt mit der Hand, näher zu treten. Wir stehen vor dem Tisch. Ich habe ein saublödes Gefühl, im Adamskostüm vor fremden Leuten zu stehen. Und ausgerechnet natürlich vor der roten Glatze, auf der Schweißperlen wässerig glänzen.

    »Name?«

    »Wieso?«

    »Sie sollen Ihren Namen nennen und nicht mit mir diskutieren!«

    Der schwitzt bestimmt, weil er so viel schreit. Den roten Knallkopf habe ich mal irgendwo gesehen und stelle ihn mir in Unterhosen vor. Das ist so ein Tick von mir und ich muss automatisch grinsen. Ganz in Gedanken nenne ich meinen Namen. Der Mensch kritzelt auf ein Blatt Papier. Was soll der ganze Zauber?

    »Arme ausstrecken und einmal langsam umdrehen!«

    Ach du dickes Ei, das ist ja wie bei der Musterung. Du liebe Zeit, wieso träume ich solch einen Unsinn? Träumen stimmt nicht so ganz, das ist niemals ein Traum, aber ...

    Ich kann mich plötzlich ganz genau erinnern. Das war vor etwa 20 Jahren, ich hatte mich freiwillig gemeldet, weil ich von meinem Alten wegwollte. Und Anfang Oktober wurden wir in der Kaserne nochmals untersucht. Wir mussten uns nackt in einem Raum vor vier Männern in weißen Kitteln ... Ich fantasiere mich in eine Szene aus meiner Vergangenheit, klar. Die hatten uns aufgefordert, die Pobacken mit den Händen auseinander zuziehen und uns dann lapidar für tauglich erklärt. Nur schwer konnte ich mir damals das Lachen verkneifen, ohne auch nur im Entferntesten zu begreifen, womit diese Diagnose begründet sein könnte. Unvermittelt muss ich an Milan Kunderas Das Buch vom Lachen und Vergessen denken.

    Was mag nur in dem Pillchen gewesen sein, dass mir die Erinnerung so fürchterlich realistisch erscheint – als ob mir dies tatsächlich passiert? Wie war das gestern Abend? Irgendwas mit meinem Leben. Wie zum Henker komme ich hierhin? Das kann doch alles nicht wahr sein. Aber es gibt gar keinen Zweifel, ich stehe vor dem Tisch dieser Musterungskommission. Die drei, die neben mir stehen, können sich kaum beherrschen zu grinsen.

    Ich muss mich mal etwas ablenken. Der Bursche, der neben mir steht, hat genau denselben beschnittenen Kolben wie damals. Zu gerne hätte ich schon damals gewusst, ob die Tatsache der Beschneidung Auswirkungen – nun sagen wir mal – auf die Standfestigkeit habe.

    »Sag mal«, frage ich ihn deshalb heute immer noch interessiert, »ist deiner«, ich weise mit dem Kinn in Richtung seiner Leistengegend, »abgehärteter? Kannst du länger?«

    Jetzt glotzt mich das Rindvieh groß an, wird rot.

    »Entschuldigung, hätte mich nur mal interessiert, Mann.«

    »Sagen Sie, Hofmann, Sie sind ja wohl völlig verrückt geworden!« Die Glatze wird eine Spur rötlicher – neigt fast zu violett. »Schnauze, Kerl!«

    Je mehr der schreit, desto zwanghafter muss ich grinsen. Was bildet der sich bloß ein? Sitzt wie ein Fels auf einem Stuhl und trägt den Betonkopf direkt auf den Schultern.

    »Hier rede nur ich, merken Sie sich das gefälligst!«, brüllt er wütend.

    »Das nennen Sie reden? Für mich ist das absurdes ... egal. Aber an Ihrer Stelle würde ich auf meinen Blutdruck achten. Weswegen spielen Sie sich so auf? Nur weil Sie anderen Leuten in die Ärsche gucken? Wo haben Sie Medizin geschwänzt? In Auschwitz?«

    Es macht Spaß zu beobachten, wie dem Herrn die Adern schwellen. Zwei andere Weißkittel wirken betroffen und einer schaut mich an wie ein kleiner Junge den Weihnachtsbaum – das scheint der Ruhigste zu sein. Er ergreift das Wort.

    »Das ist eine Unverschämtheit, junger Mann. Meinen Sie, das macht uns Spaß?«

    »Ja, genau das glaube ich! Scheint mir, als ob Sie Spaß dran haben, nackte junge Männer anzuschauen.«

    Mal sehen, was jetzt passiert. Ich hätte das damals schon sagen sollen. Ist wirklich drollig zu beobachten, wie der Rotkopf vorm Platzen steht.

    »Sie Nachteule! Sie nachgemachter Mensch, Sie! Sie kriegen wir hier schnell kirre!«

    Sonderbar. Den Kasernenhofton erfuhren wir seinerzeit erst etwas später.

    »Lassen Sie uns mal den Ton etwas dämpfen«, sagt der ruhigere Weißkittel. »So kommen wir nicht weiter. Sie, junger Mann, haben sich freiwillig zum Dienst mit der Waffe gemeldet, wie alle hier. Wir prüfen lediglich abschließend, ob Sie gesundheitlich dazu in der Lage sind. Sie können jederzeit gehen.« Er macht eine Kunstpause, die anderen am Tisch nicken. »Aber dann stehen Sie bald wieder vor uns, weil Sie eingezogen werden, und zwar ohne den Vorteil des Freiwilligenstatus. Das sollten Sie überlegen, bevor Sie Beleidigungen äußern. Und nun tun Sie gefälligst, was man von Ihnen verlangt oder verschwinden Sie!«

    Er hat ja recht, ich kann es nur nicht ertragen, wenn man mich anschreit. Na gut, mache ich eben mit, obwohl es in meinem Bauch genauso rumort wie seinerzeit. Ich weiß noch wie heute, dass ich mich nur schwer beherrschen konnte, besonders beim Auseinanderziehen der ... egal.

    Verdammt, der rote Brüller hat irgendetwas getobt und ich habe es nicht gehört. Die andern Jungs haben sich schon umgedreht und präsentieren ihre Schließmuskel. Ich stehe als einziger Proband aufrecht. Soll ich auch? Na gut, der Klügere gibt nach, denke ich. Überhaupt wollen wir doch mal sehen, ob dies ein Traum ist oder nicht, also bücke ich mich eben. Aber ich bin viel zu spät dran. Viel später als damals. Wenn ich mich jetzt hinten öffne, geht es böse aus, das weiß ich genau. Aber ich muss, der Kerl will das so. Außerdem, was habe ich zu verlieren? Dieser Traum ist eigentlich ganz lustig.

    Mein Furz zerreißt das Geschrei des vorgeblichen Arztes. Ich bin mal gespannt, ob der jetzt platzt. Ich richte mich mit den Kameraden wieder auf. Lauter grinsende Gesichter um mich herum. Mühsam unterdrücktes Gelächter. Hier ist vielleicht was los! Der Pulverkopp ist zurückgesprungen, als hätte ich ihn angeschossen.

    Die Weißkittel verkneifen sich ebenfalls das Lachen. Nur ein dunkelviolettes Gesicht grinst nicht, aber der Mund darin schreit wenigstens nicht mehr. Immerhin ein Fortschritt, denke ich erheitert. Die wartenden Jungs hinter mir glucksen vor Vergnügen. Die Freude währt nur kurz. Vielleicht platzt er nun, hoffe ich. Schade, er schreit nur wieder.

    »Hier wird nicht gelacht! Wenn ich Sie sehe, fällt mir glatt ein Ei aus der Hose.«

    Ich zucke mit den Schultern. Bevor ich eine passende Antwort geben kann, antwortet der Beschnittene neben mir in hessischem Dialekt: »Ha noi, awwer da müsse Se es nur feschthalde.«

    Ich wollte damals eigentlich nur so schnell wie möglich von zu Hause weg und kostenlos den Führerschein machen, das weiß ich noch ganz genau.

    Punkt eins hat ja auch hingehauen. Bloß mit dem Führerschein hat es leider nicht geklappt, wegen des Unfalls. Verdammte Scheiße! Die kräftige Stimme reißt mich aus den trüben Gedanken.

    »Sie«, der Glatzkopf schaut mich vernichtend an, »werde ich ganz persönlich beobachten. Ihnen werde ich helfen!«

    »Ach danke, muss nicht sein.«

    Ich kann mich einfach nicht beherrschen, noch viel weniger als früher.

    »Raus!«

    Erstes Buch

    1. Kapitel

    »Hast du schon mal daran gedacht, dein Leben noch einmal zu leben?«

    Sonja hob den Kopf und schaute mich interessiert an. Wir hatten ausgiebig gebadet und uns Pizza mit Rotwein bestellt. Nun warteten wir auf den Pizzaboten.

    »Egal, wie oft du mich fragst, ich weiß es nicht. Was soll das bringen?«

    Seit ich sie vor zwei Tagen kennengelernt hatte, faszinierte sie mich ständig mit ihren grotesken Ideen, Thesen und Fragen.

    Sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite und beobachtete mich wie eine Katze, die vorgibt die Maus, die sie gefangen hat, zu lieben.

    »Na, ob du dir vorstellen kannst, dein Leben noch mal zu leben?«

    »Wäre ohnehin nur brotlose Kunst. Wozu sollte ich den Scheiß erneut durchmachen?«

    Eine kleine Zornesfalte erschien auf Sonjas Stirn.

    »Hast du nicht vorhin selbst gesagt, dass in deinem Leben so manches schiefgelaufen ist? Also gibt es mit Sicherheit Situationen oder Erlebnisse, und du bedauerst, dich nicht anders verhalten oder entschieden zu haben. Das kannst du nicht leugnen?« Sie lachte.

    »Und nun möchtest du wissen, woran ich vorhin gedacht habe?«

    Sie legte die Innenflächen der Hände wieder gegeneinander. »Nein, dann wäre die Fantasie ja im Eimer. Aber wenn du dein Leben noch einmal leben dürftest, könntest du doch besonders in diesen Situationen, die für dich negativ erscheinen, anders reagieren. Und ich möchte einfach von dir wissen, ob du dir das vorstellen kannst?«

    Es klingelte und das gab mir Gelegenheit, ein paar Momente zu überlegen, ohne dass Sonja mich beobachten konnte.

    Ein junger Mann mit rotem Schirmkäppi reichte mir die bestellten Pizze in Pappschachteln und die Flasche. Ich drückte ihm den Geldschein in die feucht schimmernden Hände und verzichtete aufs Wechselgeld. Er legte eine Hand ans Käppi, an der besonders die weit abgekauten Nägel beeindruckten, und trollte sich. Von solchen Händen möchte ich mich nicht anfassen lassen. Hoffentlich hat der die Pizza nicht angerührt oder gar gebacken, schüttelte ich mich. Werde ich besser für mich behalten. Ich betrat die Küche und stellte die Schachteln und die Flasche vor Sonja auf den Tisch. Sie schaute mich forschend an.

    »Und?«

    »Wollen wir nicht erst mal essen?«

    »Wir können ja beides gleichzeitig machen.«

    Sie öffnete eine Pappschachtel, nahm ein Stück der bereits geschnittenen Pizza und biss gierig zu.

    »Ich will ja nur wissen, ob du dir das ausmalen kannst? Stell dir vor, du wärst noch mal geboren, aber mit allen Erinnerungen.«

    »Tja, vorstellen könnte ich mir das schon. Vorstellen kann ich mir fast alles«, meinte ich, zog den Korken aus der Flasche und goss den Rotwein in die Gläser.

    »Fällt dir ganz spontan etwas ein, was du beim nächsten Mal, also, wenn du einen zweiten Versuch hättest, dein Leben zu leben, anders machen würdest? Ich meine jetzt nicht ein Mädchen, sondern irgendetwas wirklich Wichtiges.«

    Hm, Wichtiges. Was ist schon wichtig in meiner Situation? Ich biss in meine Pizza und spülte mit einem Schluck Wein nach.

    »Irgendetwas? Irgendetwas ist gut, sehr gut sogar. Wenn ich all das erzählen soll, was ich an gemachtem Scheiß gerne wieder geradebiegen würde, wird das hier eine recht lange Sitzung.«

    »Zum Beispiel? Erzähl mir bitte definitiv, welchen Scheiß du anders machen würdest.«

    »Wo soll ich da anfangen? In der Schule vielleicht? Englisch liegt mir, aber Latein musste ich stattdessen pauken – ›Dulce et decorum est pro patria mori‹.«

    »Was bedeutet das?«

    »Das war der Lieblingsspruch meines Lateinpaukers Grindmann. Latein und Religion. Auf Lateinisch hat der gewagt, uns das anzubieten. ›Süß und ehrenvoll ist es fürs Vaterland zu sterben‹. Nun ja, ich war auf einem humanistischen Gymnasium. Das sagte ich bereits.«

    »Keine Ahnung. Was soll denn daran süß sein?«

    »Fragst du mich! Frag das jene Patentpatrioten, egal, in welchem Land sie vom Sieg träumen. Ein paar in die Fresse jedem Militaristen!«

    »Nun beruhige dich mal. Kann ich noch einen Schluck Wein haben? Danke. Und was haben deine Eltern zu dem Stuss gesagt?«

    »Eltern? Ha! Mein Alter ist einer der glühendsten Verfechter des Treu- und Gehorsamanspruchs. Vorgesetzte haben immer recht, basta! Mein Alter ist zeitlebens in jeden Hintern reingekrochen, der ihm vorstand. Zu dumm nur, dass er solches ebenso von mir verlangt hat. Einer der Gründe, weshalb ich hoffe, bei der Geburt verwechselt worden zu sein. Denn mir ist eine gravierende Eigenschaft in die Wiege gelegt worden, die militärischem Gehorsam im Wege steht: Ich denke. Zu Hause wurde bedingungsloser Gehorsam verlangt, bloß nicht denken – auf Denken stand Prügel.«

    Sonja schürzte die Lippen. »Na ja, verprügelt bin ich auch worden.«

    »Nette Formulierung, was soll das sein? Vorgegenwart?«

    »Wie bitte?«

    »Ach lass nur. Du bist also auch verprügelt worden? Weswegen?«

    »Mir haben Jungs schon sehr früh gefallen.« Sie beleckte die Lippen.

    »Tja, das merkt man. Wer hat dich bestraft wegen der Jungs? Dein Vater?«

    »Nein, der ist irgendwann abgehauen, als ich noch ein Baby war. Das Strafen hat mein Stiefvater besorgt, und zwar nach einer ganz besonderen Methode. Der hat im Badezimmer Sachen von mir verlangt zur Strafe, da könnte man ... der glaubte, ich würde die Jungs nicht mehr mögen, wenn ich mich nur genügend vor ihm ekele. Aber selbst wenn das so gewesen wäre, hätte ich weitergemacht. Ich habe ja gewusst, dass den das rasend eifersüchtig macht.«

    »Und deine Mutter hat das zugelassen?«

    »Meine Mutter war so ein schales Mäuschen und hatte eine Menge Bammel vor ihrem Mann vor Sorge, dass er auch verschwinden würde. Sie wollte gar nicht wissen, was er mit mir macht.«

    »Warum hast du den Kerl nicht angezeigt?«

    »Sinnlos, beweise das mal. Meine Mutter hätte mich sogar festgehalten, wenn der es von ihr verlangt hätte. Die hätte bei allem, was ihr heilig ist, geleugnet, um nur ja den Ruf sauber zu halten. Und ich habe nicht die geringste Lust, irgendwelchen Richtern und Anwälten die Einzelheiten zu erzählen, damit die sich gleichermaßen dran aufgeilen können. Nein, danke. Ich bin dann abgehauen, war gar nicht schwierig. Hör auf, ich will nicht mehr daran denken. Weißt du, was das Beste ist gegen Cafard?«

    »Wogegen?«

    »Cafard. Ist ein französischer Begriff, bedeutet so viel wie Weltschmerz, Trübsinn, Melancholie, Depression, Todessehnsucht ohne ersichtlichen Grund. Französisch kannst du nicht?«

    »Doch«, beteuerte ich. »Bloß mit dem Sprechen hapert es!«

    Sonja lachte gemein. »Bei dem Thema muss ich dir sagen, habe ich auch eher das Gefühl, dass du dich lieber zurücklehnst und dich bedienen lässt!«

    2.

    Auf dem Rücken zu liegen gefällt mir nun mal am besten, kann ich mich viel besser konzentrieren. Und es strengt nicht so an. Was für ein Mumpitz – ›Nur Fliegen ist schöner‹. Was soll am Fliegen schöner sein? Das hier ist am schönsten. Ich dachte, werde mal mein Auge riskieren und mir Sonja ansehen, selbst wenn es dann um mich geschehen sein sollte.

    Sie hockte vor mir, den Kopf im Nacken, die Arme als Stützen hinter sich. Welch ein Anblick. Brüste hat die Frau. Ich glaubte, ich würde wahnsinnig. Auf der Stelle. Im Liegen. War überhaupt alles genau so, wie ich es mag und ich dachte, schnell das Auge wieder schließen, sonst wäre ich sofort verloren.

    »Mach noch ein bisschen weiter und du kannst alles von mir haben«, flüsterte ich. O heiliger Himmel, so war es noch nie. Ich hörte schon Stimmen, wie ich sie sonst nur vernehme, wenn ich mal zu viel gefeiert habe, wie man im Rheinland zum Sich Besaufen sagt, bis optische oder akustische Halluzinationen eintreten, wie diese Stimme eben.

    »Wenn du dein Leben noch mal leben könntest, was würdest du tun?«

    Bitte nicht, lieber Gott, nur einen Augenblick. Aber die Stimme quatschte weiter. Verdammt, diese Frage habe ich irgendwann mal gehört. Wer um Himmels willen hat mal von so einem Gedanken geredet und wann? Das muss wirklich das Delirium sein, diese Stimme. Aus. Vorbei. Fini. Da soll man auch den Kopf nicht hängen lassen, sehr peinlich – wenn es wenigstens nur der Kopf gewesen wäre, den ich hängen ließ. Wie war das gleich? Die Ente sprach zum Enterich: Im kalten Wasser ... Dabei konnte von kaltem Wasser überhaupt nicht die Rede sein. Sondern sozusagen im Gegenteil. Und aus voller Fahrt. Zero. Zu allem fähig, aber zu nichts zu gebrauchen. Anscheinend nicht mal mehr dazu.

    Ich öffnete mein Auge. Sonjas lange schwarze Haare rahmten das Gesicht einer scheinbaren Zigeunerin, in deren pechschwarzen tiefen Augen die Geheimnisse aus Jahrtausenden lagen. Die Gesichtszüge wirkten bestimmt und weiblich zugleich. Den leicht gebräunten Körper schmückten feste Brüste mit dunklen Höfen, die kein Babymund zersaugt hatte, und eine fast unwirkliche Figur. Sonja schaute mich fragend an. Zumindest den Teil von mir, der sich erschreckt zurückgezogen hatte, und bewegte die Lippen.

    Puh, ich muss mich beherrschen und hören, was sie sagt.

    »Was ist denn bloß geschehen? Tut dir was weh?«

    »Nein. Ich habe Stimmen gehört, verdammt! Und dabei war ich so kurz davor.«

    »Und ich erst! Na egal. Welche Stimmen?«

    »Nun ja, wenn ich zu viel gesoffen habe, höre ich manchmal Stimmen. Und rede mit Leuten, die es gar nicht gibt und die ich überhaupt nie gesehen habe. Das ist für mich dann das Zeichen, aufzuhören. Tut mir leid, Sonja.«

    Sie legte den Kopf ein wenig in den Nacken und grinste. »Den kriege ich schon wieder hin, keine Sorge. Aber du hast mir nicht geantwortet.«

    »Ich?«

    »Na klar, wer denn sonst? Was du tun würdest, wenn du dein Leben noch einmal ...«

    »Ach du lieber Himmel, du hast mich das gefragt?«

    »Dich muss es ja ordentlich erwischt haben.«

    »Jetzt weiß ich wieder, das war doch die Stimme, die mich so aus dem Konzept gebracht hat.«

    »Hast du mir nicht gesagt, dass ich alles von dir haben kann?«

    »Ich?!«

    »Natürlich, kurz bevor ... Egal. Und deswegen habe ich dich gefragt – ist meine Lieblingsfantasie, mir so was vorzustellen. Also, was würdest du tun?«

    Musste ich gar nicht erst lange nachdenken. »Ich hätte nicht die geringste Lust, den ganzen Kokolores ein zweites Mal durchzumachen. Wenn ich es mir andererseits recht überlege, hätte ein zweites Leben durchaus Vorteile. Könnte ich vieles anders machen, was ich verhunzt habe in meinem jetzigen Leben. Na ja, müßige Gedanken.«

    »Nein, gemachte Fehler sind die einzig zuverlässige Grundlage für Reife und Entwicklung, sagte mein Opa immer. Wenn es Geschehnisse in deinem Leben gegeben hat, wo du Mist gebaut oder falsch entschieden hast, könntest du das ja ändern. Vielleicht eine verpasste Gelegenheit bei einem Mädchen, dem du nachtrauerst.«

    Sonja streichelte sich selbst mit einigen Seitenblicken zu mir. Diese Teufelin macht eine Show und heizt meine Fantasie damit an. Es war seltsam, denn unvermittelt fielen mir Dinge ein, die ich längst verdrängt hatte. Ganz besonders ... ach, das ist Blödsinn. Verpasste Chancen musste ich mir kaum welche vorwerfen. Allerdings ... wenn ich mein Auge schließe, ist dieses Bild in meinem Kopf. An eine bedauerlicherweise verpasste Gelegenheit muss ich ab und an denken, und mir wird schon wieder ganz warm.

    »Ich schwitze wie ein Schwein«, versuchte ich von der Erinnerung abzulenken.

    Sonja zog das Kissen, auf dem sie hockte, unter sich hervor und reichte es mir. »Dann trockne dich ab. Und erzähle weiter, die Erinnerung scheint dir gut zu tun. Ich spüre es ganz deutlich. Denk an sie, die verpasste Gelegenheit, und mach weiter. Mach einfach weiter und hör nicht auf mich.«

    »Wenn ich viel früher nur auf mich selbst gehört hätte, wäre mir so manches erspart geblieben. Mit kleinbürgerlichen Ansichten habe ich mich erpressen lassen und bin deswegen letztendlich ins Abseits geflutscht. Ich habe viel zu lange angenommen, dass ich grundsätzlich das tun muss, was andere von mir erwarten. Und jetzt fragst du mich, ob ich mein beschissenes Leben noch mal leben will? Nein! Jeder gelebte Tag ist ein Tag Dasein weniger, das beruhigte mich bisher, denn ich warte genau genommen nur auf den Tod. Komisch eigentlich, wenn man tot ist, kümmern sich die Menschen um einen. Wenn man vegetiert, ist man allen gleichgültig. Nein, ich will den ganzen miesen Dreck so nicht noch einmal durchmachen müssen. Wenn natürlich ein Wunder geschähe und ich wirklich ein paar Änderungen vornehmen könnte, wäre die Idee nicht einmal schlecht. Blödsinniger Blödsinn! So Mädchen, deine Show war hilfreich. Die Liebe ist ein Zeitvertreib – man nimmt dazu den Unterleib, jetzt will ich dich zum Jodeln bringen. Na, wie gefällt dir das?«

    »Gut.« Sie nickte und lächelte wie jene Zigeunerinnen, die vorgeben, die Zukunft voraussagen zu können. Mich interessiert hingegen die Zukunft nicht. Ebenso wenig die Vergangenheit. Das eine ist viel zu weit weg und das andere elend lange her. Meine Fantasie reicht gerade mal für die Gegenwart. Und daran hatte sich absolut nichts geändert, als ich Sonja traf. Oder richtiger: gar nicht traf, sondern praktisch in sie hineinlief.

    3.

    Vielleicht war Sonja auch in mich hineingelaufen, je nachdem, wie man es nimmt. Vermutlich war es meine Schuld gewesen, ich gleiche nicht gerade einem Adlerauge. Weil ich leider sozusagen blind bin wie ein Maulwurf. Kurzsichtig auf dem einen Auge, das andere hat durch den beschissenen Unfall damals sowieso komplett geschlossen.

    Am letzten Donnerstag im September, drei Tage vorm Monatsende kam zu meiner, sagen wir mal, optischen Schwäche der ablenkende Umstand hinzu, endlich ein bisschen Bargeld in der Tasche zu haben. Nach endloser Warterei und brütender Langeweile auf den Fluren zweier Ämter. Zunächst wartete ich beim Arbeitsamt, wie jedes Quartal, auf die Bescheinigung, dass ich immer noch vergeblich nach Arbeit gesucht hätte. Ein für mich zwar zwingend notwendiger Vorgang, aber trotzdem lediglich reine Routine.

    Arbeit finde ich traumhaft schön, obwohl sie den Charakter verdirbt. Ich könnte stundenlang zusehen, ohne zu ermüden. Persönlich allerdings konnte ich bestens auf jegliche Art von Arbeit verzichten, andererseits braucht man nun mal ein wenig Geld zum Leben. Das meine ich mit Routine, wenn schon positive Perspektiven nicht in Aussicht sind.

    Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass Aufsteigen nicht allzu schwer ist. Dazu benötigt man nur Ideen, Ellenbogen und Durchsetzungsvermögen. Aber absteigen, vielleicht sogar runterfallen und sich dann wieder fangen, das gelingt nur wenigen – mir war dies auf jeden Fall nicht gelungen.

    Also nahm ich die Bescheinigung über meine angeblichen und misslungenen Bemühungen bei der Arbeitssuche dankbar, mit der eingeübten zerknirschten Miene entgegen und setzte mich damit beim Sozialamt in den Warteraum. Nach munteren einhundertundelf Minuten Wartezeit unter Leidensgenossen – darunter äußerst junge Mütter mit quengelnden Kleinkindern, sowie einigen kräftigen jungen Männern mit nervösen Zuckungen der Beine und gestandene Personen in Fliegerseide, die ebenso wie ich selbst über die lange Wartezeit schimpften – erhielt ich von der für mich zuständigen Sachbearbeiterin, einer kompakten Person mit feuchtem Sprachfehler und deutlich sichtbarem Überdruss an der eigenen Berufswahl, kommentarlos den für meine Finanzen lebenswichtigen Bewilligungsschein ausgehändigt, sowie einen Auszahlungsschein für den Kaufpreis eines Paars neuer Schuhe. Damit stürmte ich ins Erdgeschoss zur Kasse und stellte mich in die Reihe der wartenden Leistungsempfänger.

    Es lebe der Staat und seine Fürsorge!

    Einzig lästig an solchen Tagen empfand ich den Umstand, die regelmäßige Nebenbeschäftigung nicht ausüben zu können. Täglich bin ich nämlich vier Stunden im Großmarkt damit beschäftigt, Kisten und Kartons zu sortieren. Dafür gab es 12 Euro baT (bar auf Tatze), ohne Quittung. Nicht, dass es mich geistig beeindruckt, Obst - und Gemüsebehältnisse umzuladen und die leeren nach draußen zu tragen, aber zwölf Euro für vier Stunden leichter Arbeit war nun mal nicht zu verachten. An den Tagen der vorgeschriebenen Anwesenheit in Amtsstuben blieb mir diese Einnahme leider vorenthalten.

    Gegen Mittag hatte ich meine für die staatliche Versorgung vorgeschriebene Verpflichtung endlich erledigt. Warten macht hungrig, und ich liebe Pommes frites. Also hatte ich mir, quasi als erste Nachamtshandlung, Fritten mit viel Ketchup und Mayonnaise gekauft. Auf einem Pappteller. Mit Plastikgabel. Vor der Imbissbude kaute ich genüsslich und wartete auf den Bus.

    Ohne eigenes Auto war ich auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen – zum halben Fahrpreis, die andere Hälfte zahlt das Amt. Es hat, wie man einsehen wird, durchaus gewisse Vorteile, ein sozial und gesellschaftlich benachteiligter Bürger zu sein.

    Die Leute drängelten sich an der Haltestelle und ich musste höllisch aufpassen, dass mir niemand gegen den Teller rempelt und mir die Klamotten versaut. Schuhe und Kleidung wurden zwar auch subventioniert, aber von dem bisschen Kleidergeld könnte ich mir keine ordentlichen Jeans leisten, geschweige denn anständige Schuhe. Ich versuchte der Meute aus dem Weg zu gehen. Dabei traf ich Sonja. Und zwar genau. Beinahe wären mir die Fritten von der Schale gerutscht. Mit vollem Mund murmelte ich eine Entschuldigung. Sie schaute zunächst auf meinen Teller und dann mich aus tiefschwarzen Augen direkt an. Sie lächelte und führte eine Hand zum Teller.

    »Kann ich eine Fritte haben?«

    Wie zwei Nachtdiamanten wirkten die Augen im schmalen Gesicht, das von schwarzen Haaren umrahmt war. Ein fesselnder Anblick. Der Mund wirkte für das zarte Gesicht eine Spur zu groß und schien ständig zu lächeln. Zwei Grübchen zuckten unter den Wangenknochen. Wie mochte ich in jenem Augenblick gewirkt haben? Ich hielt ihr den Pappteller entgegen. Sie langte ungeniert zu. Wir zogen abwechselnd die Kartoffelstäbchen durch die Soßen, aber ich konnte mich nicht mehr so recht auf das Essen konzentrieren. Ihre Augen fesselten mich. Ich konnte mich nicht davon lösen und muss zugeben, dass ich am liebsten darin versunken wäre.

    »Wenn du magst, kannst du den Rest haben«, schlug ich ihr vor.

    »Alles?« Der Teller war noch halb gefüllt.

    Ich nickte. Sie nahm mir den Teller aus der Hand und aß mit Appetit. Sie wirkte wie ein halb verhungertes wildes Tier, das während der lang ersehnten Nahrungsaufnahme jegliche Vorsicht missachtet. Die Leute um uns herum drängelten nervös auf dem Gehsteig, denn ein Bus – zufälligerweise gerade der, mit dem auch ich fahren wollte – hielt an der Haltestelle.

    »Tut mir leid«, sagte ich. »Ich muss los, das ist mein Bus. Ciao.«

    Automatisch folgte ich den einsteigenden Fahrgästen, setzte mich an ein Fenster und schaute die junge Frau durch die schmutzige, beschlagene Glasscheibe an, die sich meine Pommes in den Mund stopfte. Mit vollem Mund lächelte sie, zwinkerte kurz und zuckte mit den Schultern. Mir wurde heiß bis in die Haarspitzen, mein Bauch übte Spagat. Ein Gefühl, wie vor einer Parkbank, an der ein Schild hängt: Bitte nicht berühren, frisch gestrichen! Der unwiderstehliche Drang, unbedingt ertasten zu wollen, ob die Farbe wirklich frisch ist. Mit einem Satz schoss ich vom Sitz hoch und sauste mit zwei Sprüngen an den letzten einsteigenden Fahrgästen vorbei durch die sich bereits schließende Bustür hinaus. Hinter mir hörte ich schimpfende Stimmen. Dann stand ich vor der Pommes essenden Frau. Sie lachte nun richtig.

    Die letzten beiden Fritten tunkte sie in den Rest Ketchup, steckte sie in den Mund und wischte ihn mit der Papierserviette ab. Dann schob sie Pappteller und Serviette in den Abfallbehälter am Haltestellenschild.

    »Was sollte denn die Show gerade? Ich dachte, du musst gehen?«

    »Keine Ahnung. Du sahst so allein aus.« Ein bisschen ärgerte ich mich über mich selbst. »Da habe ich mir gedacht, ich leiste dir ein wenig Gesellschaft und nehme den nächsten Bus. Ich habe Zeit.«

    Sie schaute sich um und wies mit dem Kinn auf die drängelnden Menschen um uns herum. »Allein bin ich ganz sicher nicht.«

    So gesehen hatte sie natürlich recht, der Bürgersteig wimmelte immer weiter von eilenden Menschen. Ich machte mich anscheinend wieder mal nach besten Kräften zum Narren. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, dachte ich, entweder bin ich hoffnungslos altmodisch oder ein kompletter Trottel!

    Sie schob mit der Hand eine Strähne des schwarzen Haares aus der Stirn. »Aber es ist trotzdem nett von dir.«

    Die Augen leuchteten, und allein für diesen Anblick wäre ich glatt hinter einen Zug gesprungen. Ich hatte schon früher, während ich in den Sommerferien bei einem privaten Fernsehsender als Praktikant gearbeitet hatte, Frauen gesehen, die beeindruckend hübsch waren, manche sogar wirklich schön – aber diese junge Frau war etwas Besonderes. Sie wirkte trotz der einfachen Kleidung fürstlich. Wie die schwarze Königin neben dem simplen König auf dem Schachbrett. Im Blumenladen fällt selbst eine Rose unter tausend Orchideen im Fenster besonders auf.

    »Magst du einen Kaffee?«, fragte ich und wies mit der Hand zum Stehcafé neben der Imbissbude.

    Sie nickte und taxierte mich sehr genau. »Gerne. Und auch noch was zu essen, wenn ich darf.«

    »Klar doch.«

    Ich ließ sie vor mir das Café betreten und betrachtete ihre frauliche Figur. Kein Platz für Bauchschmerzen, dafür Hunger für zwei. Mich wunderte ein bisschen die eigentlich viel zu nachlässige Kleidung, die sie trug. Schien mir glatt drei Nummern zu groß für das Persönchen zu sein. Was ging es mich an, wie sie sich kleidet? Ich folgte ihr.

    »Was magst du denn essen?«

    Sie betrachtete mit schnellen Blicken die belegten Brötchen hinter der Glasscheibe der Auslage. »Hast du Geld genug?«

    »Keine Sorge, ich habe gerade Stütze für ein paar Schuhe kassiert.« Während ich sprach, dachte ich, dass ich das nicht unbedingt hätte sagen müssen. Aber sie achtete kaum auf meine Worte.

    »Dann hätte ich gerne das Baguette da und das Brötchen mit Schinken. Und ein bisschen Remoulade extra, damit es nicht so staubt beim Sprechen.«

    Ich gab die Bestellung auf und schaute zu einem der hohen Tische. »Halt inzwischen den Platz frei. Ich bringe gleich alles rüber.«

    Ich zahlte und trug erst unsere beiden Tassen und danach ihren überladenen Teller zum Tisch. Ich rührte Zucker in meinen Kaffee und lehnte mich nach dem ersten Schluck entspannt an die Holzleiste, die in Pohöhe an die Wand geschraubt war. Wir blickten uns an.

    »Ich denke, du hast Hunger?«, sagte ich. »Hau rein, Mädchen. Ach, das finde ich doof. Ich heiße Achim. Und du?«

    Sie zögerte einen Moment und betrachtete die knusprigen Sachen auf ihrem Teller. Das Zögern dauerte nur einen Wimpernschlag, dann ergriff sie das Baguette und biss herzhaft hinein. Ich ließ sie in Ruhe essen. Ich kann es selbst nicht leiden, beim Essen angestarrt zu werden, betrachtete deswegen durch das Schaufenster die eiligen Menschen draußen und warf ihr nur ab und zu einen verstohlenen Blick zu. Sie schien tatsächlich hungrig zu sein und ich hatte das deutliche Gefühl, dass sie mich zwischen jedem Bissen beobachtete. Plötzlich juckte es mich überall und ich hätte mich ausgiebig kratzen mögen. Mir geht das immer so, wenn ich möglichst unbeteiligt tun will. Blöde Situationen sind das.

    »Schmeckt das Baguette?«

    Sie kaute und nickte. »Magst du mal abbeißen?«

    Ich sah erst sie an und dann das Baguette, das sie mir entgegenhielt. Der Schinken war verrutscht, das Salatblatt schimmerte grün durch die Mayonnaise, die aus dem Baguette hervorgequollen war und am Daumen klebte. Ich nahm ihr Handgelenk und führte den angebotenen Bissen zum Mund. Mit einem bis dahin nie gekannten Lustgefühl lutschte ich ihr auch die Mayonnaise vom Daumen.

    »Was ist jetzt das?«

    Ich kaute ein paar Mal und schluckte. »Ich könnte dich komplett in Mayonnaise tauchen und abschlecken.«

    Sie griff nach dem Käsebrötchen.

    »Pfui Teufel, das ist viel zu fettig«, lachte sie und schaute mir, während sie kaute, ins Gesicht.

    Obwohl ich weder schüchtern noch auf den Mund gefallen bin, fiel mir wenig Geistreiches zu einem Gespräch ein. Bestenfalls Plattitüden.

    »Wo futterst du das denn bloß alles hin?«

    »Ich habe heute noch nichts gegessen.«

    »Frühstückst du nicht zu Hause?«

    Sie schaute seitlich am Tisch vorbei, schien einige Zeit zu überlegen und nickte dann. Es wirkte irgendwie fatalistisch, obwohl das überhaupt nicht zu ihr zu passen schien.

    »Ich habe kein Zuhause«, meinte sie lakonisch.

    Ich grinste lange Zeit blöde, bis mir der Sinn ihrer Worte bewusst wurde. »Du siehst nicht gerade wie ein Straßenmädchen aus.«

    Für den Satz hätte ich mir gleich in den Hintern beißen mögen, aber man langt da schließlich nur schwer hin.

    Sie lachte so laut, dass die Leute an den Nachbartischen neugierig zu uns herüberschauten.

    »Gestern hatte ich Glück. Ich habe in einem Schrebergarten gepennt. Da konnte ich sogar duschen und habe obendrein frische Klamotten gefunden. Ein paar Nummern zu groß, immerhin eine saubere neue Kluft.« Sie machte einen durchaus zufriedenen Eindruck.

    »Wirst du heute wieder dort übernachten?«, hakte ich nach und hoffte insgeheim, dass sie das nicht wollte.

    »Nein. Das wäre nicht gut. Man darf sein Glück nicht überstrapazieren. Eine Nacht in einem fremden Haus zu verbringen, ist meist problemlos. Gehst du erneut hin oder bleibst sogar länger dort, kommt bestimmt irgendein Nachbar oder sonst wer. Dann gibt es Stunk. Wenn es sich um einen einzelnen Mann handelt, komm ich klar. Aber ich bin auch schon ein paar Mal zur Wache oder ins Polizeipräsidium gekarrt worden. Dann wird es hart, kann ich dir flüstern. Grapschen ist dabei noch das wenigste. Bullenschweine!«

    Ich lachte.

    »Was findest du daran komisch? Warst vielleicht selbst mal Polizist?«

    »Um Himmels willen, so kriminell bin ich nicht veranlagt! Nie gewesen, obwohl ich bereits aus mehr sonderbaren Jobs rausgeflogen bin, als man sich vorstellen kann.« Ich schüttelte den Kopf.

    »Kriminell ist wahr«, gab Sonja gedankenverloren zu. »Bei manchem Schläger in Grün auf jeden Fall.«

    »Kennst du den Unterschied zwischen einem Kriminellen und einem Kriminalen?«, fragte ich.

    Sie wirkte nachdenklich. »Sollte es da tatsächlich einen geben? Hm. Kriminelle werden bestraft, Kriminale befördert, meinst du vielleicht das?«

    »Stimmt genau. Mir fällt etwas Erstklassiges zu prügelnden Bullen ein«, sagte ich. »Kennst du Kurt Tucholsky?«

    »Nö.« Sie zuckte die Schultern. »Wer ist das?«

    »Ein Schriftsteller. Hat unter anderem Supersachen gegen alle Arten von Uniformen geschrieben. Aus Ekel besonders vor Deutschen hat er sich in Schweden umgebracht, 1935.«

    »Was hat er geschrieben?«

    »Er hat das ungefähr so formuliert. ... Das Prügeln ist doch ihr Geschäft! Darum küsst Polizisten und Faschisten, wo immer ihr sie trefft!«

    Sie lachte. »Küsst?!«

    »Ja, das kann man so oder so sehen.«

    »Ach so, Prügeln mit staatlicher Genehmigung. Nicht immer und überall – aber ich habe diese Erfahrung selbst schon gemacht. Und besonders als einzelne Frau bist du Freiwild. Zu zweit oder in Gruppen setzt es lediglich ab und zu mal eine Ohrfeige oder du wirst eine Treppe heruntergefallen. Ist mir unlängst passiert. Küssen würde ich die im Leben nicht, pfui! Allein die Vorstellung, dass manche Frauen mit solchen Mistkerlen freiwillig ... Das finde ich eklig. Also pass ich auf und penn lieber mal hier, mal dort.« Sie schaute mich herausfordernd an. »Wie wär’s denn, könnte ich heute Nacht nicht bei dir schlafen?«

    »Hm, ja sicher.« Das geht ja wie geschmiert, dachte ich. »Zu dir kann ich einfach nicht Nein sagen. Ich würde mich darüber freuen, mit dir ...«

    Sie fiel mir ins Wort. »Ich habe gesagt bei dir schlafen, nicht mit dir. Ich bin zwar ein Straßenmädchen, wie du richtig bemerkt hast, aber kein Strichmädchen. Die findest du woanders.«

    Ich brachte nur eine hilflose Geste zustande und verzog zerknirscht den Mund.

    »Tut mir leid, so war es nicht gemeint. Ich wollte dich nicht beleidigen. Meine Wohnung ist zwar nicht sehr groß, aber bestimmt viel besser zum Übernachten geeignet, als unter einer Brücke oder auf einer Parkbank zu schlafen. Wir gehen zu mir und du schaust dich dort um. Wenn du magst, kannst du sogar eine Weile bei mir bleiben, ohne dass Nachbarn oder Bullen nerven. Okay?«

    »Heute muss wirklich mein Glückstag sein. Der ist noch nicht mal halb um und ich bin satt und habe eine Bleibe. Wie heißt du gleich?«

    »Achim«, sagte ich, Masselmolch, der ich nun mal bin – äh war. »Dann würde ich vorschlagen, dass wir uns auf den Weg machen. Sollen wir mit dem Bus fahren? Oder lieber zu Fuß gehen ...?«

    »Sonja heiße ich. Lass uns zu Fuß gehen, ich glaube, ich habe ein ganz klein wenig zu viel gefuttert und brauche Bewegung. Du gehst sicherlich

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