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Alles was ich muss ist weg: Reiseroman mit Burnout
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Alles was ich muss ist weg: Reiseroman mit Burnout
eBook275 Seiten3 Stunden

Alles was ich muss ist weg: Reiseroman mit Burnout

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Über dieses E-Book

Und dann ist Schluss: Diagnose: Burnout! Suza funktioniert nicht mehr. Ihr Hirn kann nicht länger verarbeiten, was die Augen sehen und was die Ohren hören. Doch Suza wäre nicht Suza, wenn sie nicht einen ganz eigenen Weg fände, sich selbst aus der Misere zu ziehen. Zwangstöpfern in einer Klinik ist keine Alternative, denn das Problem ist das Müssen. Suza will einfach eine Auszeit vom Müssen haben. Kurzerhand setzt sie sich ins Auto und begibt sich auf eine Reise ins geheimnisvolle Süddeutschland. Versprechen Orte wie Heidelberg, Rothenburg oder zumindest Neuschwanstein nicht Heilung?! Unterwegs begegnet Suza nicht nur Massen von Japanern und Amerikanern, einem kranken Eichhörnchen und zwei Siebenschläfern, sondern auch ihrer inneren Stimme. Sie gibt ihr den Namen Walburg und philosophiert mit ihr über das Leben, die Liebe und die unbewiesenen Vorzüge des hohen Nordens.
Volkskrankheit Burnout. — Die Rechnung ist einfach: Es ließen sich Unmengen an Kosten sparen, wenn sich Burnout-Gefährdete einfach dieses Buch kaufen und lesen. Denn: Nachahmung ist möglich, Heilung wahrscheinlich. Außerdem hat niemand gesagt, dass man im Burnout nicht auch einmal herzlich lachen darf. Über Maren Elbrechtz' traurige Heldin Suza zum Beispiel und vielleicht sogar ein bisschen über sich selbst ...
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum27. Mai 2016
ISBN9783897419896
Alles was ich muss ist weg: Reiseroman mit Burnout

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    Buchvorschau

    Alles was ich muss ist weg - Maren Elbrechtz

    www.ulrike-helmer-verlag.de

    Kapitel 1:

    WÄNDE

    TOD. Wenn ich ein Buch schreiben würde, begänne es mit dem Wort Tod. Einfach nur so: Tod. Es wäre ein lustiges Buch. Wenn ich ein trauriges Buch schreiben wollte, begänne es mit dem Wort Sex. Aber das wäre wirklich einfach ein anderes Buch.

    Wahrscheinlich beginnt man ein Buch nicht mit dem Wort Tod. Wahrscheinlich beginnt man ein Buch auch nicht mit einem Einwortsatz. Denn das ist ja kein Satz. Zumindest kein richtiger. Und es soll ja ein schönes Buch werden. Bilder sind schön. Ich könnte Bilder in mein lustiges Buch integrieren. Aber im Moment habe ich keine Bilder. Keine Bilder in meinem Kopf. Und keine Bilder vor mir. Ich schließe meine Augen. Nein, wirklich nicht ein Bild. Alles ist schwarz.

    Lustig. Das hatte ich noch nie. So lustig wie die Tatsache, dass ich gestern in einem Aufzug stand, dessen Knopf zur richtigen Etage ich schon unzählige Male ohne zu denken gedrückt hatte. Gestern stand ich da, vor den Knöpfen, die Aufzugtür schloss sich und ich stand immer noch vor den Knöpfen. Bewegungslos. Ich wusste nicht mehr, auf welchen Knopf ich drücken musste. Die Tür öffnete sich wieder und meine Kollegin aus unserem Architekturbüro betrat den Aufzug. »Hallo Suza!«, sagte sie und drückte auf den Knopf für die vierte Etage. Richtig, das Büro ist in der vierten Etage. Warum fragt sie sich nicht, warum ich im Aufzug stehe und keinen Knopf gedrückt habe? Vielleicht denkt sie, dass der Aufzug kaputt ist. Oder sie wird denken: »Okay, die Schimmer hat endgültig den Verstand verloren. Wer weiß, wie lange die schon hier steht. Das werde ich mal den Kollegen erzählen, wir werden herzlich lachen.«

    Jetzt liege ich im Bett und sehe in mein schwarzes Inneres. Dunkle Aussichten, aber besser als die, die mich mit geöffneten Augen erwarten, denn es ist hell. Es ist vielleicht drei oder vier Uhr. Nachmittags. Also 15 Uhr morgens, wie ich vor ein paar Wochen noch freudig behauptet hätte. Ich liege nicht wieder im Bett, sondern ich liege immer noch im Bett. Ich will nicht aufstehen. Da draußen ist nichts, was ich will. Im Wohnzimmer klingelt das Telefon. Ich lasse es klingeln. Zähle, wie oft es klingelt. Acht Mal. Drei und fünf ist acht. Ich bin 35. Und ich will nicht mehr aufstehen. Ich bin zu jung und gleichzeitig zu alt, um nicht mehr aufzustehen. Mit 18 kann man bis nachmittags seinen Rausch ausschlafen. Mit 85 kann man bis nachmittags schlafen, weil man so gut wie tot ist. Dann würde irgendwann demnächst jemand vorbeikommen, mich in einen Sack packen, mich endlich mal nett schminken, in einen gemütlichen Sarg legen und schließlich kämen alle zusammen, um auf mich zu trinken. Wann bekommt man schon mal so viel Aufmerksamkeit im Leben?

    Spontan stellt sich mir die Frage, warum Särge gepolstert sind. Haben Tote Gefühle? Scheinbar. Scheinbar? Jetzt muss ich überraschenderweise an Bier denken. Das Leben ist absurd. Der Tod ebenfalls. Oder nicht? Vielleicht nur das, was Menschen daraus machen. Menschen denken ja auch, dass sie mit Ausländern nicht nur langsamer, sondern auch lauter reden müssen, damit die sie verstehen.

    Ausländer im Ausland. Urlaub. Da, wo man sich eine halbe Stunde im Wörterbuch den Satz »Una salchicha por favor!« zurechtgelegt hat und die Fachkraft im Supermarkt mit »Möchten Sie lieber Nürnberger oder Krakauer? Die sind heute im Angebot!« antwortet. Das ist eine gute Situation. Zumindest insofern, dass man die Wurstfrau dann nicht anschreien muss. Wurst. Auch Wurst. Ist mir alles Wurst.

    Es klingelt an der Tür. Was wollen die alle von mir?! Die sollen mich in Ruhe lassen! Ich habe Urlaub. Oder so etwas Ähnliches. Eigentlich hatte ich seit … keine Ahnung, wie lange ich keinen Urlaub mehr hatte.

    Zurück zum Tod. Das wär jetzt schön, so ein bisschen Tod. Nur für eine Weile. Darf man so etwas denken? Wahrscheinlich nicht. Auf der anderen Seite: Gibt es da Gesetze? Ich brauche einen Plan und ich habe keinen. Endlich mal keinen Plan? Aber was ist dann, wenn man keinen Plan mehr hat? Es ist ein bisschen wie tot sein.

    Die Kirchenglocken läuten. Ich öffne die Augen. Irgendwann, irgendwann werde ich wirklich die Kirche verklagen. Wenn der Muezzin nicht laut singen darf, warum darf die Kirche Sturm läuten, zumal der Kirchenturm unmittelbar vor meinem Fenster steht? Oder womöglich in meinem Schlafzimmer? Gut, dass ich die Augen geöffnet habe. Nein, er ist nicht in meinem Schlafzimmer. Und wie schreibt man eigentlich Muezzin?

    Ich betrachte die Decke. Ich finde dort nichts. Ich ziehe mir die Decke bis zum Kinn und betrachte die andere Decke weiter. Also, die Zimmerdecke. Zimmerdecke im Bettzimmer, Bettdecke im Zimmerzimmer. Ui. Mein Hirn. Böse. Ich mache mir Sorgen. Sorgen um mein Hirn.

    Die Zimmerdecke ist weiß. Allerdings wirkt sie grau. Sie müsste aber weiß sein, denke ich und will mir fragend die Augen reiben, als ich feststelle, dass ich eine Brille aufhabe. Ich nehme sie ab, sehe wieder zur Decke. Jetzt ist sie weiß. Wenn auch unscharf. Dafür sehe ich jetzt, dass ich über Nacht meine Sonnenbrille getragen habe. Kein Wunder, dass ich düstere Träume hatte! Und schon wieder mache ich mir Sorgen um mein Hirn. Aber ich weiß so weiß wie die Wand, dass es für die Sonnenbrille eine Erklärung gibt. Ich erinnere mich leider genau. Warum? Ich kann mich zwar nicht mehr daran erinnern, was mir mein Steuerberater letzte Woche erzählt hat (ich glaube, es war wichtig), erinnere mich aber daran, dass ich gestern geheult habe und die roten Augen hinter meiner Sonnenbrille verstecken wollte. Aber vor wem?

    Mein Fahrrad hat mich gestern um 16 Uhr nach Hause gebracht, um 19 Uhr habe ich das erste Bier geöffnet und irgendwann kurz nach Mitternacht – also um 4 Uhr 13 – bin ich ins Bett gefallen. Und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit habe ich in dieser Zeit nicht einen Menschen gesehen, vor dem ich mein Antlitz hätte verbergen müssen …

    Alkohol. Alkohol reduziert das Wesentliche in Richtung Nullpunkt. Das Unwesentliche bleibt. Ich bin mir manchmal einfach selbst zu viel. Oder zu wenig? Ich erfülle die Anforderungen nicht. Die der anderen. Oder meine? Jetzt funktioniere ich gar nicht mehr. Für niemanden. Ich gucke unter die Decke. Ich habe meinen Schlafanzug an. Also funktioniere ich doch zumindest ein wenig. Wobei, den Schlafanzug habe ich mir gestern um kurz nach vier nachmittags angezogen. Keine Meisterleistung, dann damit auch im Bett zu landen.

    Tod. Ich habe immer Angst vor dem Tod gehabt. Nicht, weil er nicht sehr erholsam sein könnte, sondern weil keiner weiß, was danach ist. Ich mag Dinge nicht, die ich nicht verstehe. Willkommen im Leben! Wir beschäftigen uns mit dem Tod, solange wir leben.

    Ich finde, die Wände meines Schlafzimmers wirken kalt, aber es ist eine beruhigende Kälte. Man muss über Wände nicht nachdenken. Zumindest nicht, wenn sie schon tapeziert sind und die Bilder hängen. So lange, bis sie einen erneut fordern, weil sie vergilben. Ich will von Wänden nicht gefordert werden. Ich gucke auf die Yucca-Palme, die auf der Kommode gegenüber meinem Bett steht. Es ist eine nette Palme. Sie hat sich daran gewöhnt, dass ich den Gießrhythmus vorgebe. Grün genug. Aber sie will gegossen werden. Zumindest ab und zu. Ich merke, wie sich mein Brustkorb zusammenzieht. Der Gedanke ans Gießen bereitet mir Stress. Großen Stress. Plötzlich habe ich das Gefühl, dass die Wände immer näher zusammenrücken. Schön für sie, zusammenrücken ist eine feine Sache. Aber vielleicht doch nur für Menschen und Erdmännchen – oder Murmeltiere. Wenn ein Mensch sich zwischen zusammenrückenden Wänden wähnt, sollte dieser jener schnell den Raum verlassen. Und vor allen Dingen sollte er den Wänden nicht die Schuld geben.

    Ich verzichte also auf Schuldzuweisungen und springe auf. Langsam. Ich springe langsam auf. Beim Aufspringen gibt es nichts zu gewinnen. Im Idealfall höchstens einen Zeitgewinn von 0,02 Sekunden oder per Zufall Erfahrungen in der Bandscheibenthematik. Im Wohnzimmer scheinen sich die Wände noch ganz normal zu verhalten. Ich sacke auf das Sofa. Mein Mund fühlt sich trocken an. Ich habe Durst. Aber zum Kühlschrank ist es mir gerade zu weit. Statt etwas zu trinken, starre ich Löcher in die Luft. Ich friere. Meine Wohnung ist kalt. Zum Heizkörper war es gestern wohl auch zu weit. Ist es immer noch. Und genaugenommen machen die gestarrten Löcher die Luft auch nicht wärmer.

    Auf dem Sofa liegt eine Decke. Ich ziehe die Knie zum Kinn und die Decke über den Kopf. Tod. Ich schaffe es noch nicht einmal, einen einzigen Gedanken anständig zu Ende zu denken. Aber jetzt versuche ich es und danach werde ich mich mit der Realität beschäftigen. Vielleicht.

    Tod. Also, ich habe ein Problem mit dem Tod. Mit 35 kann man nicht tot sein. Das passt einfach nicht zusammen. Alte Indianer können einfach auf einen Berg gehen und sterben. 93-jährige Süddeutsche können das wohl auch. Wahrscheinlich kriegen ähnlich alte Dänen es ebenfalls hin. Aber mit 35 geht das ums Verrecken nicht. Nirgends. Zumal da oben nämlich auch noch keiner wirklich ist, der auf einen wartet. Keiner, mit dem man sich vorstellen kann, die Seele über die Wolken schweben zu lassen und dabei das Leben laut lachend Revue passieren zu lassen. Es tut mir leid für alle, die vor 35 gehen müssen, ehrlich. Aber die meisten haben sich das auch nicht ausgesucht, sind wir alle doch einfach nur Natur.

    Lebenstechnisch bin ich zunächst aber einmal verpflichtet, mir Dinge aussuchen zu müssen. Ich muss Entscheidungen treffen. Jeden Tag. Viele Entscheidungen. Und nur, weil ich das jetzt fast nicht mehr kann, ist es auch ein Ding der Unmöglichkeit, über so Dinge wie den Tod zu entscheiden. Ich luge unter der Decke hervor und betrachte meine Wohnung. Sie ist wie immer. Das Sonnenlicht fällt durch die Fenster, wirft schöne Strahlen und Schatten auf das Parkett, aber ich kann damit nichts anfangen. Ein Dialog fällt mir wieder ein:

    »Du hast einen Schatten!«

    »Ja«, sage ich, »und ich stehe dazu. Mein Schatten auch!«

    »Schön, dass ihr euch einig seid!«

    »Meistens. Aber manchmal will er in die Sonne und ich in den Schatten und dann kommt es zu großen Auseinandersetzungen und dann ist nix mehr mit drüberspringen und so …«

    Wann war das? Warum? War ich nüchtern? Und mit wem habe ich gesprochen? Ich weiß es partout nicht mehr und schon ist der Gedanke auch wieder weg.

    Je älter man wird, umso mehr weiß man. Erinnerungen, Erkenntnisse, Erlebtes, Erlerntes, Erfahrenes – all diese E-Wörter vereinigen sich beim Synapsen-Zusammenknall zu einer großen Wolke im Hirn, die sich den Weg Richtung Hirnlüftung, also dem Mund, bahnt. »Test. Test. Test«, flüstere ich leise. Die Stimmbänder knarzen dabei. Ich versuche es mit einem etwas schwierigeren: »Deeeeepressssssionen.« Hm. Reibeisen. Warum heißt es so? »De«. Und »Pressure«. Bei Dezentralisierung heißt das »De« doch auch »Ent«. Depression übersetze ich also mit De gleich Ent. Pressure gleich Spannung. Macht: Entspannung. Ha! Ich Genie! Ich weiß schon einiges! Und ich weiß auch um diese Unterabteilung der Depression, welche sich bis zur totalen Erschöpfung inklusive dem Löschen von Fähigkeiten jeglicher Art erstrecken kann. Ich spreche es laut aus: »Vielleicht habe ich mich tatsächlich in einen Burnout gefahren?« Ich wünschte, es gäbe den Begriff nicht. Dann könnte ich’s auch nicht haben. Krutzematze kann man auch nicht haben. Weil es das eben nicht gibt. (Zumindest noch nicht.)

    Ob es auf dem Boden besser als auf dem Sofa ist? Unterm Teppich habe ich auch schon mal gelegen. Aber da habe ich auch noch mehr getrunken. Samt Decke rolle ich mich probeweise von der Couch auf den Teppich. Es ist anders. Ein bisschen. Es ist weder gut noch schlecht und ich tue mir leid. Oder auch nicht? Ist mir eher egal. Mir ist gerade nahezu alles egal. Hat jemand eine Kugel für mich? Wär mir auch egal. Solange die Knarre besser funktioniert als ich: her damit! Da könnte ich was übers Funktionieren lernen. Würde ich auch. Versprochen! In den Bruchteilen von Sekunden, bevor die Kugel eintrifft. Einfache Mechanik gleich Schlüssel für Funktion. Damit wären wir wieder beim Thema Tod. Und mal ganz ehrlich, ich habe gerade das Gefühl, ich habe gerade das Gefühl … ich habe das Gefühl vergessen, was ich gerade habe. Ich beiße in den Teppich. Ich beiße wirklich in den Teppich! Wer beißt schon in einen Teppich? »Lieber in den Teppich beißen als ins Gras«, denke ich und kann nicht fassen, was ich denke. Das ist wirklich erbärmlich. »Sollte ich jemals ein Buch schreiben, würde ich diesen Satz niemals zu Papier bringen!«, das verspreche ich mir selbst.

    Ich schäle mich aus meiner Decke und weiß, dass es so nicht weitergehen kann. Aber wie soll es weitergehen? Über genau diese Antwort habe ich die Kontrolle verloren. Ich richte mich auf und stehe nun in meinem lichtdurchfluteten Wohnzimmer. Es ist ein wundervoller Spätsommer, die Vögel zwitschern ihre Unterhaltung durch mein offenes Fenster. Es gibt eine Welt. Außerhalb meiner eigenen vier Wände. Ich wünschte, ich würde für sie funktionieren können. Ich wünschte, ich hätte Liebeskummer, ein Drogenproblem, Insolvenz, ein gebrochenes Bein oder einen Job in der Fernsehbranche. Damit könnte ich leben, weil ich wüsste, wie es weiterginge damit.

    Ich gehe zum Computer. Ich habe Angst vor ihm. Vielleicht nicht direkt vor ihm, aber vor möglichen Mails, die ich bearbeiten oder zumindest beantworten müsste. Beim Ton des sich ladenden Betriebsprogramms zucke ich zusammen. Kennwort. Ich starre auf den Bildschirm. Es fällt mir nicht ein. Also beschließe ich, einen Kopfstand zu machen. Nicht, weil ich denke, das könnte die Lösung bringen, sondern weil mir in dem Moment einfällt, dass ich seit geschätzten zwanzig Jahren keinen mehr gemacht habe. Wenn das Schiff sinkt, sollte man sich an den letzten Strohhalm klammern.

    »Frau Schimmer, können Sie sagen, welche Projekte Sie dieses Jahr verwirklicht haben?«

    »Nein, aber ich kann einen Kopfstand machen!« …

    Enthusiastisch gehe ich mein Vorhaben an. Und weiß kurze Zeit später: Ich kann es nicht. Keinen Kopfstand. Der Bruchteil einer Sekunde, in dem die Füße zur Zimmerdecke ragen, zählt nicht. Das Hintenüberkippen schon. Das Geräusch, mit dem ich lande, wird sicher auf der Liste vermerkt, die die empfindlichen Nachbarn unter mir führen und mir bei jedem zehnten Strich unter die Nase halten. Na ja, und der wütende Schrei, der meiner Landung folgte, dürfte ein weiterer Strich sein. Leise und niedergeschlagen setze ich mich wieder vor den Computer. Ich versuche meine Aufmerksamkeitsspanne länger als ein paar Sekunden zu halten. Schwierig. Es reicht aber so weit, dass ich alle in Frage kommenden Passwörter mal eintippe, um Zugang zu meinem digitalen Reich zu erlangen. Es klappt! Jetzt habe ich einen Lauf und das könnte der Gedanke des Tages sein: Ich muss mein Mail-Programm gar nicht öffnen! Stattdessen klicke ich sofort auf das Browser-Symbol und tippe ein paar Schlagworte, die ich aus den hinteren Hirnwindungen krame, in die Suchmaschine: Antriebslosigkeit, Reizbarkeit, Sinnentleerung, Konzentrationsschwäche. Eine Krankheit kann das nicht sein, denke ich. Es ist eine Stunde an jedem meiner Tage – direkt nach dem Aufstehen!

    Depression. Ja, das nehme ich jetzt schon ein wenig ernster. Wer jede Nacht bis in die Puppen wacht und in den Nachmittag schläft, kann sich mit Schluckspecht- und Murmeltiergenen nicht herausreden. Angeblich sei Schlaf die Flucht vor Depression, lese ich. Okay. Ich wähne mich bereits bei den Anonymen Depressiven. Ist man da dann nur anonym depressiv und darf ich eine Flasche Wein mit in die Sitzung bringen, um mit ihr ein wenig Gesellig- und Fröhlichkeit vortäuschen zu können? Was auch immer. Eigentlich habe ich den Sinn des Lebens darin gesehen, das Leben zu leben. Es zu erforschen, neugierig stets Neues zu erfahren. Das ist mir klar geworden, als ich dreizehn war. Ich finde, das ist keine depressive Einstellung, und sie besteht nach wie vor. Nur als Karl Lagerfeld kürzlich äußerte, dass der Sinn des Lebens das Leben selbst sei, war meine Stimmung schwer getrübt. Das ist doch meine Erkenntnis gewesen!

    Es hilft nichts, ich höre auf, mich dumm zu stellen: Laut Definition und untrüglicher Vorahnung habe ich ganz schlicht und einfach ein fucking Burnout. Das ist noch nicht einmal Deutsch! Warum können Krankheiten, die englische Namen haben, nicht da bleiben, wo der Name erfunden wurde? Immerhin heißen Mobiles oder Cellulars in Deutschland auch anders, nämlich Handys, und sie konnten sicher erst durch den neuen deutschen Namen Fuß fassen in diesem ehrenwerten Land. Ich hätte auf jeden Fall lieber Schulden. Tausche Burnout gegen Schulden. Oder: mein Handy verloren. Wenn ich mal länger als drei Tage eine Erkältung habe oder einen Hexenschuss, ticke ich aus, weil mein Körper nicht so funktioniert, wie ich es will. Er hat zu funktionieren, sagt dann mein Hirn. Jetzt will mein Hirn nicht mehr. Wie bringe ich meinen Körper dazu, dem Hirn auf die Sprünge zu helfen? »Wie steuert man Körper ohne Hirn« tippe ich langsam in die Suchmaschine und rücke ganz nah an den Bildschirm, im Glauben, ich könne dann besser verstehen, was ich lese. Wie ein Auto ohne Motor, wie ein PC ohne Prozessor … Fisch ohne Fahrrad, Vogel ohne Schwanz und der gelbe Wagen ohne Schwager. Blödsinn. Es ist viel zu schwierig alles. Ich kann lesen, was da auf dem Bildschirm steht, aber ich verstehe es nicht! Beim dritten Wort habe ich das erste wieder vergessen. Eigentlich würde ich gerne wieder in die Welt der Träume entschwinden. Meine Träume sind manchmal gut. Zumindest die, an die ich mich erinnere. Ich klappe den Laptop zu.

    Wenn ich jetzt schlafe, bin ich mitten in der Nacht wieder wach und wüsste im Leben nicht, was ich dann mit mir und der Dunkelheit anfangen sollte. Ich beschließe, für alle Fälle Alkohol im Haus haben zu wollen, damit ich mein Gehirn im Wachzustand betäuben kann. Nur für den Fall. Was soll ich sagen? Wenn die Kacke am Dampfen ist, bricht die Kuh durch’s Eis. Oder so ähnlich …

    Kapitel 2:

    REGALE

    Wie es der Zufall so will, habe ich noch einen leeren Kasten Bier in der Küche, der dazu dienlich sein wird, den erwarteten Endbetrag für den Neueinkauf zu minimieren. Auch wenn es Selbstbetrug ist, trifft das Argument wirklich zu. Heute ist der Einkauf pfandbedingt einfach billiger. Und das ist auch gerecht, denn schließlich muss ich für die Arbeit, den Kasten durch das Treppenhaus, über die Straße in den Supermarkt zu tragen, belohnt werden. Vielleicht kaufe ich auch keinen neuen Kasten, sondern nur neue Flaschen. Das wird noch billiger. Aber das lässt sich gerade nicht entscheiden, es ist schon schwer genug, weder Hose noch Schuhe noch Geld beim Rausgehen zu vergessen. Zum Glück begegne ich diesen Abläufen arbeitsbedingt fast täglich, so dass ich sie nur abrufen muss: Schlüssel, Geld, Handy. Alles scheint verstaut, demnach habe ich auch meine Hose mit ausreichend vielen Taschen nicht vergessen. Die Mütze verdeckt die vergessene Haarpflege.

    Ich ergreife den Kasten und gehe los. Das Treppenhaus hinunter. Genau drei Stufen. Dann ist es vorbei. Mein ganzer Körper zittert, ich habe Schnappatmung und kann den Kasten nicht mehr halten. Den leeren Kasten! Ich stelle ihn ab und versuche mich zu beruhigen. Was mir aber nicht gelingt. Wie auch? Ich verstehe nicht, was vor sich geht. Dabei sehe ich aus dem Flurfenster. Keine Ahnung, warum. Vielleicht, um die Situation zu ignorieren.

    Auf der Straße herrscht geschäftiges Treiben. Menschen gehen zielstrebig hin und her, Hunde schnüffeln an Bäumen, die unbeteiligt auf den Bürgersteigen stehen, und pinkeln sie an. Aus dem vierten Stock sehen alle so klein aus, so entfernt. Ich habe nichts mit ihnen zu tun und vermutlich wird mir keiner von ihnen den Kasten zum Supermarkt tragen. Wobei es wahrscheinlich sogar der kleine Junge könnte, der sein Schulzeug auf eine Parkbank wirft und einem Ball hinterher rennt, den ein anderer in ein Blumenbeet geschossen hat. Ich habe es sogar mal geschafft, zwei volle Kästen vom Supermarkt bis zu mir in den vierten Stock zu tragen! Über wurzelgestörte Betonpflaster und schiefe, unregelmäßige Treppenstufen. Okay. Ich muss mich zusammenreißen. Ist ja

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