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Alle Menschen brauchen Liebe
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eBook289 Seiten3 Stunden

Alle Menschen brauchen Liebe

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Über dieses E-Book

Wer von uns hätte sich nicht schon mal liebend gerne in ein Abenteuer gestürzt - ohne Risiko selbstverständlich. Hier sucht ein Mann diesen Traum wahr zu machen, gerät durch einen Verkehrsunfall mit in der Folge eintretender völliger Amnesie in einen Strudel zum Teil grausiger Ereignisse und steht mehrfach vor den Trümmern seiner Existenz. Er wird fälschlicherweise für tot gehalten und nur durch die Hilfe von ihm zugewandten Fremden gelingt es ihm schließlich, nach und nach die Erinnerung wieder zu erlangen, wird aber durch mehrere Rückschläge an einer Rückkehr in sein bisheriges Leben gehindert.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum2. Jan. 2017
ISBN9783738098198
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    Buchvorschau

    Alle Menschen brauchen Liebe - Werner Koschan

    Prolog

    Was für eine Lust. Welche Wonne. Sabine, blond und sehr fraulich, Annabelle schwarz und eher knabenhaft. Immer abwechselnd. Und wieder von vorn. Beide sind eine Wucht. Und zusammen gerade mal so alt wie ich. Gefährliches Alter, warnt mich mein Hausarzt immer. Blödsinn. Der Tod kommt doch sowieso ungelegen, schließlich soll es eine Überraschung werden. Ich möchte mal einer Papstaudienz beiwohnen und, wenn der mich berührt, tot umfallen. Das gäbe eine Schlagzeile.

    Annabelle duftet nach Maiglöckchen, Sabine nach Orangen, eine himmlische Melange – der Augenblick zum Sterben.

    Das Wunderbarste der Welt wird, solange es Menschen und Geschlechter gibt, dasselbe bleiben! Und vor. Und zurück. Die Augen halte ich am liebsten geschlossen dabei, um nur zu spüren. Hab dann meine Reaktionen besser im Griff. Ausgerechnet jetzt muss ich daran denken, was mir Frauen über Männer erzählt haben. Zu komisch, manche schwitzen dabei angeblich mächtig. Tropfen ihnen zwischen die Brüste und sogar ins Gesicht. Werden glitschig wie Fische, haha.

    Die zwei haben aber auch vier flinke Hände! Langsam zurück und jetzt wieder das Maiglöckchen. Ich schwitze niemals, Masselmolch, wo ich bin.

    Obwohl, mir wird befremdlich heiß heute. Eigenartig, so heiß wie jetzt war mir noch nie dabei. Ich hätte die Heizung nicht so hoch einstellen sollen vorhin. Ich komme mir vor wie in einem Backofen und schwitze unmäßig! Was ist denn heute los? Werde besser mal ein Auge riskieren. »Hört mal auf! Ist euch auch so mächtig warm?«

    Plötzlich ist mir nicht mehr siedend heiß, sondern sozusagen im Gegenteil. Wo sind die Mädchen? Spontan riskiere ich beide Augen – alle, die ich habe und mir wird völlig klar, warum ich klatschnass bin. Ein paar Schritte neben mir klebt mein Auto an einem mächtigen Stamm und brennt lichterloh.

    Ich hätte nicht so viel Obstler trinken sollen in meiner Wut und bin immer noch ziemlich alkoholisiert. Versuche mal, dich zu konzentrieren, sage ich mir. Schön langsam, Schritt für Schritt. Ich wollte meine Frau Carmelita in Davos abholen, sie war aber bereits, seltsamerweise und von mir unerwartet, ohne Ziel abgereist. Ich hatte deswegen reichlich getrunken und bin stinksauer losgefahren. Bis ich den Anhalter vor der Shell-Tankstelle am Ortseingang von Davos mitnahm, nach dem Volltanken. Den habe ich meinen Wagen fahren lassen, weil ich einen Blutalkoholspiegel von schätzungsweise über zwei Promille hatte. Und ich bin ein ausgezeichneter Schätzer, was das angeht.

    Eine Mordsexplosion zerreißt die Luft und brennende Wrackteile fliegen mir um die Ohren. Das war bestimmt der noch extra in Davos gefüllte Ersatztank. Ich zittere wie Wackelpudding. Muss der Schock sein. Bloß weg hier!

    Ich krabble auf einen ebenfalls sehr massigen Baum in etwa drei Meter Entfernung zu, um mich dahinter zu verkriechen. Hoffentlich hat es der Anhalter auch aus dem Wrack geschafft. Wenn nicht ... Massel muss der Mensch haben.

    Ich schwinge mich um den Stamm, habe keinen Boden mehr unter den Füßen und stürze in finstere Dunkelheit.

    Erster Teil

    1. Kapitel

    Gestatten, dass ich mich Ihnen vorstelle – mein Name ist Sommer, Frank Sommer. Die folgende Geschichte, die ich erzählen will, habe ich am eigenen Leib erfahren. Jene Passagen, die ich nicht persönlich erlebte, haben mir die jeweils am Geschehen teilnehmenden Menschen erzählt. Zum Beispiel meine Frau Carmelita Sommer, geborene Sauer.

    Dass ich Carmelita traf, war ein Glücksfall. Sie war ihres Vaters Sonnenschein und schien mich nicht ausstehen zu können, als ich in der Firma Sauer begann. Sie ließ mich ihre Abneigung deutlich spüren.

    »Herr Sommer«, sagte der Chef. »Professor Lieven hat Sie mir ans Herz gelegt.«

    »Ich weiß, er drängte mich, Ihnen eine Bewerbung zu senden, Herr Direktor.«

    Er blätterte in meinen Papieren. »Ihre Zeugnisse sind gut, aber nicht gerade ausgezeichnet. Er sagte mir am Telefon, dass Sie interdisziplinär promoviert haben, was heißt das definitiv?«

    »Er schmunzelte stets, wenn er sagte, dass ich zum Fachidioten zu vielseitig interessiert sei. Ich bin allem gegenüber aufgeschlossen. Biotechnologie, Physik, Chemie, Volkswirtschaft, Betriebswirtschaft, Gastwirtschaft und so weiter. Den Master habe ich in Ökologie gemacht. Das war das Simpelste. Sonst habe ich von allem etwas Ahnung, Herr Sauer.«

    »Aber von nichts richtig.«

    »So hat Peter es formuliert.«

    »Peter?«

    »Professor Lieven, privat sagen wir du.«

    »Er schreibt, Sie sind nur bedingt teamfähig. Was soll ich also mit Ihnen anfangen?«

    »Teamfähig ist so ein neumodischer Begriff, der mir nicht gefällt. Ich höre nicht gerne auf den Unfug anderer Leute. Ich löse meine Aufgaben so gut ich kann und stehe für Fehler lieber selbst gerade.«

    »Das geht mir ähnlich. Peter schreibt, wenn ich mit Ihnen unzufrieden sein sollte, was er für undenkbar hält, käme er persönlich und zöge Sie zur Rechenschaft. Das würde mich interessieren.« Er lachte schelmisch. »Außerdem bin ich selbst ein Querkopf. Wir sind eine hervorragende Mannschaft hier. Einer für alle und alle für einen. Aber, wenn es hart auf hart kommt, müssen sich nun mal alle nach einem richten. Übrigens, dieser eine bin ich! Sind Sie verheiratet?«

    »Noch nicht, bisher hätten mir die sonstigen Möglichkeiten genügt, mich zugrunde zu richten!«

    Ferdinand Sauer lachte. »Okay, sechs Wochen Probezeit, danach ein zeitbegrenzter Vertrag über zehneinhalb Monate. Dann sehen wir weiter. Wie sehen Ihre Gehaltsvorstellungen aus?«

    Ich rieb mein Kinn und hob die Schultern. »Keine Ahnung. Was halten Sie denn für angemessen?«

    »Das ist die denkbar dümmste Aussage, die man in einem Vorstellungsgespräch machen kann. Bei einem normalen Personalsachbearbeiter wären Sie jetzt schon draußen!«

    »Peter sagte mir, ich soll mich in diesem Gespräch so geben, wie ich bin und nicht die üblichen Faxen machen. Ich habe ein Zimmer an der Hand für dreihundert mit Frühstück. Ich lebe ohne Anhang und Geld interessiert mich wirklich nicht sonderlich. Mit ein bisschen Glück kommt das von selbst. Ich habe in meinem Leben bisher eine Menge Glück gehabt und das verdanke ich eigentlich nur der Fantasielosigkeit der Menschen, mit denen ich bisher konkurriert habe. Wenn Sie mir diese Chance geben, will ich sie nutzen, alles andere sehen wir später. Wo soll ich unterschreiben, Herr Direktor?«

    Er führte mich durch eine gepolsterte Zimmertür in ein Büro nebenan. Hinter einem großen Schreibtisch mit mehreren Telefonanlagen und einem sehr großen Bildschirm saß eine elegante junge Frau von etwa fünfundzwanzig Jahren. Ihr dunkles Haar fiel in weichen Wellen bis auf die Schultern. Die Figur glich einer Rennjacht, die Lippen glänzten dezent geschminkt. Die faszinierenden leicht schräg geschnittenen Augen leuchteten facettengleich dunkelgrün, grau und blau. Diese Frau strahlte etwas Zigeunerhaftes aus. Lange Wimpern fielen mir auf und eine gesunde leicht getönte Hautfarbe. Ich war von dieser jungen Frau auf den ersten Blick hingerissen. Ach was, das ist gar kein Ausdruck, denn das geschah bei mir öfter. Ich war überwältigt. Und das geschah bei mir selten.

    Die Beziehung zu Carmelita Sauer begann dramatisch, was mich belustigte, denn genau genommen ähnelt mein Leben einer Komischen Oper.

    »Das ist meine Tochter. Carmelita, dies ist unser neuer Mitarbeiter, Herr Sommer. Sie wird in den kommenden sechs Wochen Ihre direkte Vorgesetzte sein. Carmelita, Herr Sommer wurde mir von meinem Studienkollegen Peter Lieven aus Dresden ans Herz gelegt. Ich erzählte dir davon. Kümmere dich bitte um seine Einarbeitung.« Er wies mit der Hand auf einen zweiten Schreibtisch im Büro. »Dies ist Ihr Arbeitsplatz für die nächsten sechs Wochen.«

    Der stand an der Wand gegenüber der Tür. Ich rückte ihn von der Wand ab und stellte den Stuhl auf die andere Seite, so dass ich die Tür im Blick hatte.

    »Was soll denn das?« fragte Carmelita Sommer.

    »Das lernt man in der ersten Stunde an der Universität. Niemals mit dem Rücken zur Tür arbeiten. Ich will doch sehen, wer hier reinkommt.«

    Herr Sauer schaute uns abwechselnd an, verbarg sein Grinsen, indem er in seine rechte Hand hustete, und verließ das Büro.

    Ich nahm Platz und schaute meine Vorgesetzte an. Sie gefiel mir wie gesagt auf Anhieb, beachtete mich aber nicht. Sie verhielt sich kühl, eiskalt beinahe. Dieser Typ Frau beträgt sich immer gleich, dachte ich. Kühl, abweisend und überheblich. Aber wenn man ihren Eispanzer mal geknackt hat, gibt es kein Halten mehr mit allem, was zur Verfügung steht. Na ja, so wie sie aussieht, ist sie bestimmt bereits vergeben. Mal testen.

    »Eine Frage.« Ich legte den Kopf ein wenig schief und zwinkerte ihr zu. »Sind Sie verheiratet? Haben Sie Kinder?«

    Sie schaute mich an, als hätte ich einen schmutzigen Witz erzählt. Himmel, dieser kühle Blick. Vielleicht war sie wegen irgendetwas böse auf mich. Aber wieso? Ich lächelte, was sie nicht zu interessieren schien. Moment mal, dachte ich. Was, wenn sie nur kühl tut? Ich glaube zwar nicht an Liebe auf den ersten Blick, aber bei mir hat es gerasselt. Ich kann sie nicht unentwegt anstarren, das gefällt niemandem, also Smalltalk.

    »Ich bin ohne Anhang. Kinder liegen mir nicht. Die kosten eine Menge Geld und wenn man sie braucht, sind die unerreichbar. Ich kenne das doch von mir. Und das Schlimmste, was Kindern widerfahren kann, ist die Naivität ihrer Eltern. Was, wenn ich mich als naiv herausstelle?«

    »Sparen Sie sich den Schmonzes, wir sind hier, um zu arbeiten!«

    »Okay, Entschuldigung. Die Sache mit dem Arbeitsplatz und der Sicht zur Tür habe ich von Peter, Professor Lieven. Er hat zum Beispiel sein Büro im Obergeschoss. Das erreicht man nur über eine Wendeltreppe, damit er als Erstes sehen kann, was oben los ist. Peter hat das mal in einem Krimi gelesen und einen Faible für solche Sachen. Ach, ich bin unmöglich, nicht mal begrüßt habe ich Sie. Guten Tag, und ich freue mich auf beste Zusammenarbeit! Ich habe jetzt eine wirklich wichtige Frage an Sie.«

    Sie kreuzte die Beine und der Rock rutschte ein wenig. Auch noch schöne lange Beine. Komisch, ich spüre, dass sie mich nicht mag, und doch habe ich ein Kribbeln im Bauch.

    »Wie möchten Sie, dass ich Sie anrede? Fräulein Sauer? Oder Frau Sauer? Oder mit Vornamen und Sie?«

    »Fräulein finde ich entsetzlich, Herrlein Sommer.«

    »Eins zu null für Sie«, lachte ich. »Wenn ich manchmal etwas anzüglich erscheine, nehmen Sie es mir nicht übel. Ich überspiele meine mir angeborene Schüchternheit gerne mit Ironie. Wissen Sie, was wirkliche Ironie ist? Wenn minderjährige Mütter Schutzhüllen allein für ihre iPhones akzeptieren.«

    Sie unterdrückte ein Schmunzeln, aber ihre Augen lachten dafür deutlich.

    »Ich finde, wenn Sie lächeln, sehen Sie gleich noch attraktiver aus.«

    »Lassen Sie das bitte, ich bin nicht interessiert!«

    »Okay, aber was nützt es, wenn ich an den Nägeln kaue. Was soll ich jetzt genau tun, Frau Sauer?«

    Die ist vielleicht gar nicht so kalt, wie sie tut. Vermutlich ist sie besorgt, ob man sie mag oder ihr Geld, beziehungsweise das ihres Vaters. Das gilt sicherlich für so manchen reichen Menschen, aber ich bin überzeugt, alle Menschen brauchen Liebe.

    Sie reichte mir eine Broschüre. »Schauen Sie sich zunächst mal an, was wir hier machen.«

    Sehr schnell kam ich dahinter, dass sie die finanzielle Seite der Firma leitete und bedeutend mehr Verantwortung trug, als es ihrem Alter zustand. Ich kam aus der beschützenden Einrichtung der Universität, freute mich über die neue Aufgabe, fand aber den Laden hoffnungslos veraltet.

    Carmelita Sauer war Perfektionistin und bemängelte alles, was ich tat und wie ich es tat. Trotz meines Unmuts musste ich zugeben, dass sie die Geschäfte grandios im Griff hatte. Manchmal, wenn ich mein theoretisches Wissen anbringen wollte, gab der Erfolg ihren praktischen Entscheidungen recht. Deshalb beschloss ich, meinen Stolz hinunterzuwürgen. Nach etwa zwei Wochen ständigen Nörgelns an meiner Person und Arbeit musste ich mich sehr zusammennehmen. Nach eines für mich besonders empfindlichen Erfolgs ihrer Strategie schaute sie mich überlegen an, während sie mir jenen prächtigen Geschäftsabschluss zeigte. »Was sagen Sie jetzt, Sie studierter Schlaukeks?«

    »Ich habe im Laufe meines Lebens gelernt, dass es sich nicht lohnt, in dieser Welt über irgendjemand empört, begeistert, traurig, erfreut, erstaunt, verblüfft oder sonstwie auch nur geringfügig gefühlsmäßig engagiert zu sein. Es lohnt ebenso nicht, über irgendjemand oder irgendwas den Atem, geschweige denn den Kopf zu verlieren und so habe ich mir einen stillen LmaA-Standpunkt zugelegt.«

    Wir bemerkten beide nicht, dass ihr Vater still in der einen Spalt geöffneten Zwischentür der Büros stand.

    »Sie haben keine besonders gute Meinung über mich, nicht wahr?« wollte ich wissen.

    »Mit der Einschätzung liegen Sie völlig richtig. Besonders nach Ihrem philosophischen Satz gerade, bezüglich Ihres Standpunktes. Ich werde mich bemühen, Sie innerhalb der restlichen vierwöchigen Probezeit zu vertreiben, wenn Sie überhaupt so lange durchhalten.«

    Sie schaute mir nicht in die Augen, sondern fixierte einen Punkt meiner Jacke, als wäre dort ein Fleck zu sehen. Ich wollte meinen desillusionierten Gesichtsausdruck nicht zeigen und blickte zum Fenster hinaus. Um mich abzulenken, wurde ich grob.

    »Ich halte Sie für eine unangenehme Musterschülerin. Aber ich habe von Ihnen in den beiden Wochen mehr gelernt als in einem halben Jahr auf der Uni. Mich müssen Sie schon rausschmeißen, wenn Sie mich loswerden wollen.«

    Von der Tür her vernahm ich lautes Gelächter. »Damit hat er dich aber ganz schön in die Verteidigung gedrängt, was, Sonnenschein?«

    Sie bekam einen hochroten Kopf, verließ das Büro und knallte die Tür.

    »Sie ist gut, nicht wahr, Herr Sommer?«

    »Ja, Herr Direktor, das ist sie. Und ich werde ihr ein Jahr lang das Können abluchsen und dann sehen, ob ich bleiben werde. So lange werde ich sie ertragen.«

    »Warum müssen Sie Carmelita auch ›Sankt Meckerin‹ nennen? Kein Wunder, dass sie wütend ist.«

    »Weil sie über alles und jedes an mir herummeckert.«

    »Und Sie glauben, wenn Sie sie beleidigen, wird sich das ändern?«

    »Nein, natürlich nicht. Sie soll mich ja auch nicht lieben, nur fair behandeln.«

    »Dann sollten Sie damit anfangen.« Er zog einen Zettel aus der Hosentasche. »Den hat Frau Theis gestern aus Ihrem Papierkorb gefischt. Steht drauf: ›Sankt Meckerin heute auf Seminar‹. Hat sie mir gegeben. Was soll ich jetzt machen?«

    »Wo steht denn, dass ich damit Ihre Tochter gemeint habe? Ich kenne noch eine Menge anderer Frauen!«

    Er schaute mich lange an. »In der Tat, beweisen kann ich das nicht. Ich verliere Sie ungern, aber Sie sollten solche Kindereien unterlassen, wenn Sie dieses Jahr bleiben möchten. Mann, entschuldigen Sie sich schleunigst bei ihr für Ihr Gerede gerade! Und halten künftig den Schnabel. Sie liebt dreißig Zentimeter lange Feuerlilien über alles, gibt es in einem Blumenladen in der Berliner Straße. Und so was«, er gab mir den Zettel, »will ich nie wieder sehen, ist das klar!«

    Damit verließ auch er das Büro und ich saß da wie ein begossener Pudel. Was tun? Feuerlilien als Belohnung für ihre Antipathie? Sind bestimmt schweineteuer. Um es mit Kaiser Franz Josef I. zu sagen: ›Mir bleibt auch nichts erspart auf dieser Welt‹, machte ich mich in der Mittagspause auf den Weg. Da ich nicht motorisiert war, kehrte ich gerade noch rechtzeitig zum Pausenende zurück, ein Sträußchen in der Hand. Sie nahm keinerlei Notiz von mir.

    »Ich habe es vorhin nicht so gemeint. Wird nicht wieder vorkommen. Ich habe Ihnen als Wiedergutmachung ein paar Blumen mitgebracht. Bitte schön. Ich würde gerne mit Ihnen zusammenarbeiten.«

    Sie schaute nicht mal auf, sondern nickte nur kurz. Von dem Tag an machte sie mir das Leben noch schwerer. Ich gab mir jede erdenkliche Mühe und nahm jede Kritik mit einem freundlichen Lächeln entgegen. Das brachte sie zusehends in Rage und manchmal sichtlich aus der Fassung, was wiederum mir sehr gut tat. Ferner beobachtete ich sie sehr genau. Sie war leicht zu durchschauen und ihre Wurstigkeit mir gegenüber ließ immer öfter auf Unsicherheit schließen. Im Lauf der Zeit machte es mir Spaß, Unterlagen, die sie zwangsläufig benötigen würde, an mich zu nehmen und ihr im richtigen Moment ungefragt vorzulegen. Das verblüffte sie immer aufs Neue. Es entstand sogar etwas wie eine friedliche Arbeitsatmosphäre.

    Bis zu dem Tag, an dem sie von einer drei Tage dauernden Geschäftsreise zurückkehrte. Sie kontrollierte die Abschlüsse, die ich für ihre Unterschrift vorbereitet hatte. Einen davon hatte ich eigenmächtig unterzeichnet, versandt und die Kopie betrachtete sie fassungslos. Sie schlug mit der Faust auf die Papiere. »Was soll das denn bedeuten?« zischte sie zornig.

    »Da war kein Aufschub möglich, sonst hätten wir den Auftrag nicht bekommen. Ich hatte versucht, Sie per Handy zu erreichen, aber es gab keine Verbindung. Es musste eine Entscheidung her. Dringendst!«

    »Und die haben Sie getroffen? Ausgerechnet Sie! Warum haben Sie nicht meinen Vater gefragt?«

    »Weil er ebenfalls nicht zu erreichen war! Demzufolge habe ich mir vorgestellt, wie Sie handeln würden und es genauso zu machen versucht. Ist ein fetter Braten, was?«

    Sie griff zum Telefon und bat ihren Vater zu kommen. »Schau dir mal an, was dieser Herr sich erlaubt hat.«

    Ferdinand Sauer überflog die Papiere, blickte uns nacheinander an und ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. »Das ist aber mal ein Schluck aus der Pulle. Muss er bei dir gelernt haben, Sonnenschein!«

    »Sagt er. Aber der kann doch so etwas nicht einfach allein entscheiden. Ich bin hier der Boss!«

    Er schaute seiner Tochter lange fest in die Augen. »Wenn er nicht so resolut gehandelt hätte, wäre uns das Geschäft vermutlich durch die Lappen gegangen. Und außerdem bin immer noch ich hier der Boss. Du wirst das erst, wenn ich dir die Firma überschreibe. Wenn! Und im Augenblick entscheide ich, dass der Jahresvertrag von Herrn Sommer ad hoc in einen unbefristeten umgewandelt wird. Und wenn ihr beide nun endlich miteinander arbeiten würdet und nicht gegeneinander, könnte ich mir vorstellen, dass dies ein Glücksfall für die Firma sein würde.«

    So schien es, bis zur unwiderruflich von mir verursachten Katastrophe. Die geschah während der Feier des Goldenen Gründungsjubiläums der Firma. Gustav Brisanke, der schon damals Pförtner in der Firma war, hatte einen Narren an mir gefressen. Wir waren etwa gleichaltrig und privat sagten wir du. In der Firma hielt er dies für unangemessen. Besonders begeisterten ihn meine Fettbemmen. In Dresden nennt man diese Art Stullen so.

    Ich wohnte damals bei der Witwe Windscheid zur Untermiete. Sie behandelte mich wie ihren eigenen Sohn, der aber zur See fuhr und stets über Monate lang weg war und ihr fehlte. Überall standen Fotos von ihm, ein echter Seebär, wie es schien. Sie verwöhnte mich, was sie so verwöhnen nannte. Morgens setzte sie mir ein kräftiges Seemannsfrühstück vor mit Eiern, Speck und frischem Brot. Sie buk das Brot selbst und gab mir täglich dicke Stullen mit. Richtiges graues Brot mit einer echten Kruste, dass die Zähne was zu knacken haben, wie sie sagte. Und darauf strich sie goldgelb – der Krieg sei lang vorbei! – fingerdick, Gutebutter! Das war bei ihr ein Wort. Dies waren die Lieblingsstullen ihres Sohnes Ralf, mit fünf Scheiben Zervelatwurst belegt, wie Dachschindeln übereinander lappend. ›Das gibt eine Geschmacksexplosion, hatte Ralf gesagt, dass einem die Zähne aus dem Mund fliegen, wenn sie nicht ordentlich festgeschraubt sind!‹, erzählte sie.

    Die Stullen gab ich immer Gustav. Wegen des reichlichen Frühstücks war ich pappsatt. Abends gab es ordentliche Hausmannskost bei Frau Windscheid. »Kinder in den Entwicklungsjahren müssen ordentlich essen, damit etwas aus ihnen wird«, sagte sie. »Schauen Sie, was aus meinem Ralf geworden ist, ein echter Mann!«

    Brisanke war glücklich über die Stullen: ›Wie bei Muttern!‹, schwärmte er. Allerdings weiß ich bis heute nicht, ob er damit seine Mutter oder Ehefrau meinte, die beide längst verstorben waren.

    Dass es während des Goldenen Jubiläums Stunk gab, lag an meiner Dussligkeit. Gustav und ich hatten zwei Szenen einstudiert. Zunächst ein Couplet von Otto Reutter. Er war geradezu vernarrt in den Vortragskünstler. Unser Stück hieß ›Das ist leicht – das ist schwer‹ und ich musste Berlinern lernen.

    Gustavs Text: ›Bei der Inflationsmisere, war’n se alle Milliardäre, ooch beim Ärmsten hat’s jereicht – det war leicht.‹

    Mein Part: ›Seit de Euroscheine jelten, is ’ne einzje Mark schon selten, wer’n Se heut mal Milliardär – det is schwer.‹

    Beifall aus dem Publikum.

    Er: ›Treu zu sein mit sechzich, siebzich; wo man schon janz ausjeliebt sich; sowieso nüscht mehr erreicht – det is leicht.‹

    Ich als junger Spund: ›Doch treu zu sein mit zwanzich, dreißich; wenn det Herz noch jung und fleißich; da nich schaun nach andern mehr – det is schwer.‹

    Die Belegschaft jubelte.

    Gustav: ›Hast du, weil dein Weib dir ferne; mal ein junget Mädchen jerne; küsst se bis

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