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Silvaner trocken: oder ein tödlicher Tropfen
Silvaner trocken: oder ein tödlicher Tropfen
Silvaner trocken: oder ein tödlicher Tropfen
eBook297 Seiten3 Stunden

Silvaner trocken: oder ein tödlicher Tropfen

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Über dieses E-Book

Das Landhaus Sonnenhain im südpfälzischen Rittersheim lädt zum Krimi-Dinner. Josefine Laux, die zusammen
mit ihrem Mann ein kleines Weingut betreibt, und ihre Freundin, die Buchhändlerin Charlotte Messerschmidt,
streiten sich. Es geht um Moritz Wolff, einen attraktiven und kultivierten Bekannten, der an diesem
Abend jedoch völlig ausrastet, herumbrüllt und seinem Vater Wein ins Gesicht schüttet. Am nächsten Morgen
ist der Vater tot. Vergiftet. Und sein Sohn steht unter Mordverdacht. Josefine und Charlotte können das nicht glauben. Gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach einer gefährlichen Wahrheit, die weit in die Vergangenheit zurückführt…
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum29. Juli 2013
ISBN9783955420666
Silvaner trocken: oder ein tödlicher Tropfen

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    Buchvorschau

    Silvaner trocken - Anne Riebel

    Anne Riebel

    Silvaner trocken

    oder ein tödlicher Tropfen

    Krimi

    Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag

    © 2013 Frankfurter Societäts-Medien GmbH

    Satz: Nicole Ehrlich, Societäts-Verlag

    Umschlaggestaltung: Nicole Ehrlich, Societäts-Verlag

    Umschlagabbildung: © windu - Fotolia.com

    eBook: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt

    ISBN 978-3-95542-066-6

    Für Thomas

    „Der große Feind der Wahrheit ist sehr oft nicht die Lüge –

    vorsätzlich, geplant und unehrlich –, sondern der Mythos –

    beharrlich, verführerisch und wirklichkeitsfremd."

    John F. Kennedy

    11. März 1982

    Prolog

    E

    r hatte sofort bemerkt, dass die Temperatur unter den Gefrierpunkt gesunken war. Die vielen unnötigen Worte und Ermahnungen seiner Mutter, die im Türrahmen stehen bleiben würde, bis er losfuhr, drangen nicht zu ihm durch. Sie perlten ab wie Regentropfen, die auf einen Friesennerz trafen.

    Dass mit den Bremsen etwas nicht in Ordnung war, hätte ihm schon auf dem Weg zur B10 auffallen können. Zuerst hatte er das komische Gefühl allerdings auf die neuen, schweren Arbeitsschuhe geschoben, die er zum ersten Mal trug. Dann hatte er sich gefragt, ob etwas mit dem Pedal nicht stimmte. Und schließlich hatte er es durchgetreten. Deshalb war er viel zu schnell in die Kurve gefahren. Deshalb war er ins Schleudern geraten. Und nur deshalb war er auf die Gegenfahrbahn geraten und frontal mit einem dunkelblauen Fiat zusammengestoßen.

    Sein letzter Gedanke galt einer Wahrheit, der er nach so vielen Jahren der verzweifelten Suche endlich auf den Grund gekommen war.

    Samstag, 3. März

    – 1 –

    J

    osefine schaute im Vorbeigehen auf die Küchenuhr und fluchte leise vor sich hin. In dem schmalen Flur, der die Küche mit dem Treppenhaus verband, warf sie einen letzten prüfenden Blick in den Garderobenspiegel. Sie hatte sich für ein tiefblaues Samtkleid entschieden, das ihre schlanke, mädchenhafte Figur betonte und den rötlichen Schimmer in ihrem dunkelblonden Haar zur Geltung brachte. Es fiel ihr in sanften Wellen über die Schultern. Sie hatte Rouge aufgetragen, Lipgloss und Lidschatten in zwei Farben, um das Blau des Kleides mit dem intensiven Grün ihrer Augen zu versöhnen. Nun fragte sie sich, ob das Ganze nicht ein bisschen übertrieben wirkte. Kurz entschlossen stellte sie die Pumps zurück in den Schrank und schlüpfte stattdessen in ein Paar flache, weiche Wildlederschuhe. Sie zog sich ihren Wollmantel über und hatte keine Zeit mehr, eine kleine, schickere Handtasche zu richten, da sie es draußen hupen hörte.

    „Pünktlich auf die Minute", rief sie der Freundin entgegen, die dabei war, sich aus ihrem cremefarbenen New Beetle Cabrio zu falten.

    „Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Königinnen", entgegnete Charlotte, die nicht nur, wie so oft, ein Zitat auf den Lippen, sondern auch ihren sibirischen Mantel trug. Ein heller Traum aus Pelz und Leder, den sie vor Jahren einem russischen Händler abgekauft hatte. Charlotte war groß; sie hatte weißblondes, kinnlanges Haar und strahlte auch dann noch eine gewisse Eleganz aus, wenn sie mit einer Schürze vor dem Bauch in ihrem Garten zugange war, schwere Bücherkisten schleppte oder in Rage geriet. Jetzt nahm sie Josefine bei den Schultern und diese versank für einen Moment in einem frischen und leicht blumigen Duft, spürte den sanften Druck von Charlottes Wange auf ihrer Haut und ahnte die in die Luft gehauchten Küsse. Sie machte sich bereit, um sich von wachen, blassblauen Augen gründlich mustern zu lassen.

    „Ich glaube, ich hätte doch die Schuhe mit den Absätzen anziehen sollen, sagte sie, während sie zu ihrer Freundin aufsah. „Neben dir komme ich mir wie eine Zwergin vor!

    „Ach, dieser ewige Konjunktiv mit seinem hätte und würde. Was der Zeit und Nerven kostet. Es ist doch kein Stehempfang, zu dem wir unterwegs sind."

    Josefine nickte und ließ sich auf den Beifahrersitz sinken.

    „Und was macht dein Mann heute Abend?"

    „Ralf hat sich mit einem Bier und einer Tüte Chips auf sein Sofa zurückgezogen."

    „Dann ist er nicht traurig, dass wir heute schon wieder einen Frauenabend aufs Programm gesetzt haben?"

    „Aber nein. Ganz im Gegenteil. Er wird dir wahrscheinlich demnächst einen Blumenstrauß schicken, vor lauter Dankbarkeit. Josefine zuckte die Achseln. „Es ist ja durchaus nachvollziehbar. Ralf ist die ganze Woche über draußen. Abends hat er oft noch Sitzungen. Da ist es für ihn natürlich das höchste der Gefühle, wenn er sich am Wochenende wie ein Maulwurf zu Hause einbuddeln kann.

    „Und bei dir ist es genau umgekehrt!" Charlotte hatte sich angeschnallt, die Handbremse gelöst und den Gang eingelegt. Nun fuhren sie auf dem Feldweg, der parallel zur Landstraße verlief auf das beschauliche, südpfälzische Dörfchen Rittersheim zu.

    „Klar. Gut, ich bin auch hie und da unterwegs, wenn ich Wein ausliefere oder etwas besorge. Aber mein Hauptbetätigungsfeld ist eben zu Hause im Betrieb. Und obwohl ich mitten in den Weinbergen wohne, komme ich oft tagelang nicht dazu, an die Luft zu gehen."

    „Und am Wochenende möchtest du etwas unternehmen. Glück für mich! Charlotte lächelte. „Die Frage ist nur, ob auch du damit glücklich bist?

    Josefine zuckte die Achseln. „Gewisse Dinge muss man eben akzeptieren. Das habe ich ja gelernt. Außerdem habe ich keine Lust, wieder zur Kratzbürste zu werden. Am Ende würde Ralf womöglich sein Schneckenhaus wieder aus dem Keller holen. Dafür habe ich mich schließlich nicht zwei Jahre lang zu Moritz Wolff auf die Couch gesetzt!" Josefine blickte hinaus in die Dunkelheit. Die Rebstöcke standen nackt im Wind, der aufdringlich war und Regen, vielleicht sogar Schnee im Schilde führte. Das strubbelige Holz hatte man ihnen weitestgehend gestutzt, abgesehen von zwei Ruten, die vielfach schon gebogen und am Draht festgebunden worden waren.

    „Wusstest du, dass die meisten Paare sieben Jahre zu spät kommen?", fragte Charlotte.

    „Wie, sieben Jahre zu spät?"

    „In Therapie. Man sollte gehen, wenn es anfängt zu kriseln. Weil psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen für viele aber immer noch ein großes Tabu darstellt, rauft man sich irgendwie zusammen. Lebt nebeneinander her oder fügt sich gegenseitig immer schlimmere Verletzungen zu. Und dann, wenn die Betroffenen endlich vor dem Therapeuten erscheinen, kann der oft nicht mehr tun, als eine menschenwürdige Auflösung der Beziehung zu begleiten."

    „Das klingt ja furchtbar!, stieß Josefine hervor. Sie schwieg eine Weile. „Ich glaube aber schon, dass etwas dran ist, sagte sie dann. „Wenn ich darauf gewartet hätte, dass Ralf mitkommt, dann wären wir heute wohl nicht mehr zusammen."

    „Ich verstehe einfach nicht, warum Männer vor diesen Themen solche immensen Ängste haben?, echauffierte sich Charlotte, während sie an der Ortseinfahrt das Tempo drosselte. „Vor allem der deutsche Mann über fünfzig scheint mir doch unter einer ausgemachten Psychophobie zu leiden …!

    Josefine kicherte. „Hat Moritz dir das alles erzählt?"

    „Nein. Das habe ich im ZEIT-Magazin gelesen."

    „Wie geht es Moritz?"

    „Ist diese Kälte nicht unerträglich? Ich klammere mich an den Gedanken, dass wir in vier oder fünf Wochen wieder offen fahren werden. Durch einen rosaroten Mandelblütentraum …"

    „Ein netter Versuch, vom Thema abzulenken, Charlotte. Du magst Moritz Wolff doch! Wieso triffst du dich in letzter Zeit nicht mehr mit ihm. Ich finde, er hat so etwas Liebes an sich. Ja, er strahlt irgendwie so eine fröhliche Gemütlichkeit aus."

    „Ich mag auch dich! Gehe ich deshalb mit dir aus?"

    Josefine musste lachen. „Wir sind doch gerade dabei, auszugehen!"

    „Ach so! Touché!" Sie folgten der Rittersheimer Hauptstraße, ließen rechter Hand die Pension Rose liegen, passierten den Kindergarten, den Supermarkt und zwei große Weingüter, bevor sie rechts in Richtung Bahnhof abbogen. Ein abwesendes Lächeln umspielte Charlottes Mundwinkel, als sie den Wagen am anderen Ende des Ortes auf einem von hohen Zedern bewachten Parkplatz abstellte. Sie machte Licht, klappte die Sonnenblende herab und betrachtete ihr Gesicht im Spiegel.

    „Das absolut Wunderbare an einer Frauenfreundschaft ist, dass man sich über das quo vadis keine Sorgen machen muss."

    „Und jetzt noch einmal auf Deutsch für Normalsterbliche …"

    „Das ist lateinisch und steht für ‚wohin gehst du’."

    „Noch immer auf dem Schlauch entlang …"

    „Wie? Ach so, das war jetzt schon wieder metaphorisch … Nun, wir brauchen uns nicht mit Fragen dahingehend zu quälen, wo das mit uns beiden hinführen wird. Wir können zusammen ausgehen. Wir können den Abend genießen, überlegen, was wir nächste Woche für eine gemeinsame Unternehmung planen … Wenn wir einmal alt sind, dann blicken wir auf unzählige schöne gemeinsame Erlebnisse zurück. Und es gibt keine Unwägbarkeiten. Es gibt keine Komplikationen. Weil wir wissen, dass wir heute Freundinnen sind. Und morgen. Und übermorgen auch. Es besteht nicht die Möglichkeit, dass eine von uns die gemeinsame Zeit nur als eine Chance ansieht, eine günstige Gelegenheit abzupassen, um dann den Beziehungsstatus – wie man das heute so trefflich bezeichnet – auf eine andere Ebene zu heben. Oder sollte ich in diesem Fall besser sagen – zu senken …?"

    Josefine schüttelte lächelnd den Kopf. „Wenn es um Gefühle geht, fängst du jedes Mal an, so gestelzt daherzureden, dass ich überhaupt nichts mehr verstehe."

    Charlotte zuckte die Achseln. „Du kennst mich lange genug."

    „Aber hast du denn nicht ab und an doch ein bisschen Sehnsucht nach einer Beziehung?"

    „Bei all dem, was man ständig hört und liest? Und außerdem habe ich keinen Platz!"

    „Wie, keinen Platz?", sie waren ausgestiegen und Charlotte schloss den Wagen ab.

    „Das weißt du doch! Ich habe keinen Platz für einen Mann. Weder in meinem Haus. Noch in meinem Leben."

    – 2 –

    I

    m Eingangsbereich des Restaurants Sonnenhain, wo die Gäste darauf warteten, dass ihnen die Mäntel abgenommen und ihre Tische zugewiesen wurden, herrschte eine aufgeregte wie heitere Atmosphäre. Da sich die meisten untereinander kannten, begrüßte man sich mit lautem Hallo. Josefine wurde von einem ungestümen Mann gepackt und hochgehoben. Sein langes, schwarzes, von silbergrauen Fäden durchzogenes Haar war im Nacken zu einem Zopf geschlungen. Er wirbelte sie herum, indem er sich mehrmals um die eigene Achse drehte.

    „Klaus! Als er sie endlich losließ, boxte sie ihm freundschaftlich in die Seite. „Dich habe ich ja seit einer Ewigkeit nicht gesehen!

    „An mir liegt es nicht. Meine Tür ist ja immer offen."

    „Ja. Ich weiß … Ich habe auch wirklich ein schlechtes Gewissen. Weißt du, Ralf ist im Moment so eingespannt mit seiner Vermarktungskooperation …"

    „Aha! Treibst du dich deshalb so oft mit dieser geheimnisvollen Dame herum. Über die niemand etwas weiß, Klaus schenkte Charlotte sein charmantestes Lächeln. „Ja, uns Rittersheimern entgeht nichts. Und wenn, dann dulden wir diesen Zustand nicht lange …?

    „Klaus Schuhmann ist der Inhaber der hiesigen Weinstube, stellte Josefine ihn vor. „Und das ist Charlotte Messerschmidt. Eine sehr liebe Freundin von mir.

    „Wenn Sie wieder einmal ein gutes Buch suchen, sagte Charlotte, während sie Klaus Schuhmann die Hand schüttelte, „dann kommen Sie am besten zu mir, in die Martha-Saalfeld-Buchhandlung – das ist in Landau, am Kleinen Platz.

    „Werde ich mir merken, Klaus Schuhmann strahlte übers ganze Gesicht. „Dann gehören sie also auch zu dem bedauernswerten Völkchen, das selbst und ständig arbeitet?!

    „In der Tat …" Während Charlotte Klaus Schuhmann von den literarischen Weinproben erzählte, die sie und Josefine vier Mal im Jahr veranstalteten, wandte diese sich einem großen, muskulösen Mann zu, der gerade einer Kellnerin seine Ballonmütze gereicht hatte und sich mit beiden Händen durch das dichte, weizenblonde Haar strich.

    „Herzlichen Glückwunsch, Marius! Josefine musste sich auf Zehenspitzen stellen, doch es wäre ihr nicht gelungen, ihm ein Küsschen auf die Wange zu hauchen, wenn er sich nicht zu ihr herabgebeugt hätte. „Ralf hat es mir heute Morgen aus der Zeitung vorgelesen. Ich wünsche dir viel Erfolg. Und pass auf dich auf! Der Mund des Mannes verzog sich zu einem halben Lächeln, das alles oder nichts bedeuten mochte.

    „Wir sind alle so stolz auf ihn, sagte Klaus Schuhmann, der Weinstubenbesitzer, so laut zu Charlotte, dass alle Umstehenden es hören konnten. „Marius Hilzendegen! Man könnte meinen, es sei gestern gewesen, da war er noch verschrien als größter Lausbub und Kinderschreck im Dorf. Und jetzt ist er der jüngste Kommissariatsleiter in der rheinland-pfälzischen Polizeigeschichte.

    Marius Hilzendegen war offensichtlich kein Mensch, der es genoss, im Mittelpunkt zu stehen. Er ließ die Glückwünsche und das anerkennende Schulterklopfen der Rittersheimer geduldig über sich ergehen. Nur hin und wieder blickte er unruhig zur Tür.

    „Wie geht es deinem Nachbarn?", wandte er sich schließlich an Klaus Schuhmann.

    „Hubert Hartmann? Blendend, würde ich sagen. Also wenn ich in dem Alter noch so fit und so gut drauf bin, dann werde ich mich bestimmt nicht beklagen! Weiß er es schon?"

    „Ja. Natürlich. Ich habe ihn angerufen. Aber noch überhaupt keine Zeit gehabt, mich bei ihm blicken zu lassen."

    „Ich kann ihm einen schönen Gruß ausrichten. Er ist fast jeden Tag in seinem Garten zu Gange. Ich unterhalte mich oft mit ihm, über den Zaun hinweg. Wenn es jetzt endlich mal wieder wärmer wird, nehmen wir uns eine Schorle dazu."

    Marius Hilzendegen nickte zustimmend.

    „Und du?, versuchte Klaus den Kommissar zu necken. „Bist du mit deiner Verbrecherjagd nicht ausgelastet? Oder willst du uns bloß den Spaß verderben, indem du auf halber Strecke verrätst, wer es war?

    „Ganz und gar nicht!, Marius Hilzendegen zuckte entschuldigend die Achseln und blickte sich wieder suchend um. „Ich bin nur Klaus-Maria zuliebe hier …

    Marius’ Lebensgefährte war Winzer und hatte vor ein paar Jahren einen sehr großen und längst nicht mehr zeitgemäß geführten Betrieb in Birkenfeld geerbt, dessen Leitung ihn total überforderte. Josefines Mann hatte zu dieser Zeit gerade damit begonnen, ihren eigenen Betrieb massiv zu verkleinern, um sich auf das konzentrieren zu können, was ihm wirklich am Herzen lag. Klaus-Maria Kleinschmidt war von dieser unkonventionellen Entscheidung so beeindruckt gewesen, dass er sich rat­suchend an Ralf gewandt hatte. Im Laufe der folgenden Wochen waren die beiden jungen Männer öfter ins Weingut Laux gekommen und während die Winzer fachsimpelten und sich die Köpfe heiß rechneten, hatten sich Josefine und Marius unterhalten. Schließlich hatte Klaus-Maria einen weitaus unorthodoxeren Schritt unternommen, indem er den elterlichen Betrieb verkaufte und eine Stelle bei einer großen Winzergenossenschaft annahm.

    „Geht es Klaus-Maria gut?", wollte Josefine wissen.

    „Ja. Danke. Aber ich frage mich, wo er steckt. Na ja, vielleicht sucht er noch einen Parkplatz …"

    „Ich bin schon so gespannt", Charlotte sah sich interessiert nach allen Seiten um und beobachtete, wie sich das Restaurant weiter mit Gästen füllte. Auf den Holztischen, sonst nur mit hellen Leinentischsets und einer einzigen Blume in einer schlanken Vase dekoriert, waren die merkwürdigsten Gegenstände zu finden: eine Polizeimütze, eine Lupe, graues Pulver und Pinsel, ein Blaulicht, Handschellen und alle möglichen in Folie verpackten Gegenstände. An den Wänden, über den eierschalenfarbenen Seidentapeten, hingen rotweiße Bänder, auf denen in dicken schwarzen Lettern POLIZEIABSPERRUNG stand. Und auf dem Fußboden waren die mit weißer Kreide nachgezogenen Konturen zweier Körper zu erkennen.

    „Da wird einem doch schon irgendwie ganz mulmig zumute."

    „Keine Leiche zum Dessert, zitierte Josefine aus dem Programm. „Du, schau mal. Diese roten, auslaufenden Buchstaben, wie Himbeersoße auf Mousse au Chocolat. Ob es das nachher gibt?

    „Freust du dich denn gar nicht auf den Kulturgenuss? Charlotte rieb sich nachdenklich das Kinn. „Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich zuletzt im Theater gewesen bin. Ich finde es wirklich wunderbar, dass du das vorgeschlagen hast.

    „Wir beliefern dieses Restaurant, bemerkte Josefine. „Heute Abend werden zwei unserer Weine ausgeschenkt. Da ist es nun einmal so üblich, dass man sich blicken lässt …

    „Wie auch immer. Wir sind hier, und jetzt machen wir was draus! Siehst du, hier kommt schon der Aperitif."

    „Ist das Sekt?", fragte Josefine erstaunt die Kellnerin, die zwei mit einem tiefroten, perlenden Getränk gefüllte Schalen vor ihnen abstellte.

    „Nein, das ist Schlehenlikör, aufgegossen mit einem handgerüttelten Weißburgunder extra trocken."

    Josefine nickte anerkennend.

    „Wie sehen denn Schlehen aus?", wollte Charlotte wissen.

    „Es sind kleine schwarz-blaue Beeren, etwas größer als Heidelbeeren. Zwar musst du dich beim Pflücken nicht so tief bü­cken, weil sie an Hecken und Bäumchen wachsen, aber dafür haben sie dornige Äste. Schlehen sind sehr sauer, ziehen dir alles zusammen. Erst nach dem ersten Frost werden sie süß und halbwegs genießbar."

    „Dann magst du sie gar nicht?"

    „Als Likör schon", meinte Josefine grinsend.

    „Na also, die pfälzische Antwort auf Kir Royal. Charlotte hob ihr Glas. „Trinken wir auf deinen Gatten und auf meine Unabhängigkeit.

    „Ja", sagte Josefine, die jedoch, statt nach ihrem Glas zu greifen, den Kopf drehte, denn in diesem Augenblick betrat Moritz Wolff, einem älteren Ehepaar folgend, das Restaurant.

    „Wenn man vom Teufel spricht, flüsterte Charlotte. „Das müssen seine Eltern sein. Die Liebigs.

    Schweigend nippten sie abwechselnd an ihren Gläsern und konnten es nicht lassen, hin und wieder einen diskreten Blick auf die Neuankömmlinge zu werfen.

    Julius von Liebig war Josefine schon aufgefallen, als sein Gesicht hinter dem Vorhang, der den Eingangsbereich vor Wind und Kälte schützte, aufgetaucht war. Der Mann kam ihr wie eine Verkörperung dieser beiden elementaren Kräfte vor. Das weiße Haar, das bei jedem anderen wirr und ungepflegt gewirkt hätte, schien, wie von einer unsichtbaren Prise getragen, geradezu um seinen Kopf zu wehen. Julius von Liebig war ein hochgewachsener Mann, der seinen Körper voll und ganz bewohnte und mit großer Sorgfalt gekleidet war. Doch es lag wohl weniger an seinem aparten Äußeren, als vielmehr an dieser besonderen Ausstrahlung und seiner angenehmen, tragenden Stimme, dass man sich, sobald er einen Raum betrat, nach ihm umdrehte. Er war es gewohnt, dass die Menschen seine Aufmerksamkeit suchten, und er verschenkte sie großzügig. Hier ein Wort. Da ein ermutigendes Schulterklopfen, ein verbindendes Lachen, ein mitfühlendes Nicken. Er brauchte lange, bis er den Raum durchquert hatte. Moritz und seine Mutter hatten längst ihre Plätze eingenommen, als er auftauchte. Sie war eine zierliche Frau, mit kurzem, tiefschwarz gefärbtem Haar und kleinen, dunklen Knopfaugen, die hinter einer dicken, ebenfalls schwarz umrandeten Brille unruhig umherwanderten. Auch ihre Kleidung war schwarz, nur die Lippen hatte sie in einem auffallenden Pink geschminkt, die Fingernägel in exakt derselben Farbnuance lackiert.

    „Gott sei Dank, er hat uns nicht gesehen, zischte Charlotte. „Ein Glück, dass er zwei Tische weiter und nun mit dem Rü­cken zu uns sitzt. Es ist wirklich bedauerlich, dass er nicht die Haarpracht und diesen griechisch-antiken Götterkörper seines Vaters geerbt hat. Und altersmäßig müsste er genau dazwischen liegen, verstehst du. Aber Moritz, wie alt ist der eigentlich?

    „Er ist vierundvierzig …"

    „Vierundvierzig, Charlotte kaute die Zahl, so als wollte sie sich ihren Geschmack einprägen. „Wieso kann ich mir einfach keine Zahlen merken? Vielleicht liegt es in diesem Fall daran, dass er nur manchmal vierundvierzig ist. Manchmal ist er auch fünf.

    Josefine schwieg einen Moment irritiert. Dann lachte sie.

    „Vielleicht hast du recht! Doch den fünfjährigen Moritz, den magst du wohl nicht so besonders?"

    Charlotte schüttelte bedauernd den Kopf. „Und du?"

    „Ich finde ihn süß. Aber ich habe ja auch, wie du weißt, eine Schwäche für kleine Kinder."

    Charlotte widmete sich sehr intensiv dem nächsten Schluck ihres Aperitifs.

    „Liebst du auch den fünfjährigen Ralf?", fragte sie dann.

    „Ich glaube, Ralf ist schon älter, gab Josefine spontan zurück. „Ralf ist zweiundvierzig und siebzehn.

    Auch sie griff nach ihrem Glas und war irgendwie froh, als endlich das Licht ausging. Gespräche mit Charlotte konnten zuweilen sehr verwirrend sein.

    – 3 –

    J

    ulius von Liebig begann zu klatschen und nach und nach fielen die anderen Gäste mit ein. Die Schauspieler kamen in hellen, trikotartigen Anzügen mit glatt nach hinten gekämmtem Haar auf die Bühne. Ihre Gesichter waren weiß, die Lippen rosa, die Augen dunkel geschminkt. Nun trat der erste, ein großer, rothaariger Mann vor, zog sich eine schwarz und silbern gestreifte Weste über und nahm ein Tablett mit Weinflaschen und einigen Gläsern zur Hand.

    „Hier im Landhaus Sonnenhain in Rittersheim", begann er, „kommen, wie Sie vielleicht wissen, alljährlich die beliebtesten Kommissare der Film- und Literaturgeschichte zusammen, um einen ganz besonderen Fall aufzuklären. Unglücklicherweise ist es aber in

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