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Sperlings Suche nach dem Lachen
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eBook366 Seiten4 Stunden

Sperlings Suche nach dem Lachen

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Über dieses E-Book

Dorothea Makowski übergibt Niklas Adam einen Karton. Dieser enthält neben schriftlichen Aufzeichnungen auch Fotos und vier noch nicht entwickelte Kleinbildfilme: eine Art Nachlass von Arno Sperling. Arno ist verschwunden. Er hat als Fotoreporter von den Kriegsschauplätzen der Welt berichtet. Im Balkankrieg der 90er Jahre kommen ihm jedoch Zweifel am Sinn seiner Arbeit. Er gibt den Job auf und eröffnet ein biederes Fotostudio, das jedoch nur eine Alibifunktion hat und Renate, Arnos Frau, von seinem eigentlichen Plan ablenken soll, einen Bildband zum Thema "Lachen" zu verfassen. Zu diesem Zweck kehrt er in das Dorf zurück, in dem er aufgewachsen ist. Dort trifft er Dorothea, die einstige Pflegetochter seiner Eltern, und verliebt sich in sie. Das brisante Verhältnis zu Vater und Bruder weckt alte Auseinandersetzungen. Auf seinen Streifzügen durch die Landschaft der Kindheit stößt er auf eine Neonazi-Truppe, die er bei militärischen Übungen beobachtet, deren grausiger Höhepunkt eine Exekution ist. Arno fotografiert und ist entschlossen, den Führer der Nazis zu demaskieren. Doch bevor dies geschieht, wird er entdeckt und muss untertauchen.
In der sich mehr und mehr zuspitzenden Situation trifft Arno eine verhängnisvolle Entscheidung.
Kapitel um Kapitel entwickelt sich eine Familiengeschichte zur Liebesgeschichte und schließlich zum Thriller. Und das Lachen ...?
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum20. Okt. 2015
ISBN9783738043945
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    Buchvorschau

    Sperlings Suche nach dem Lachen - Norbert Aschenbrenner

    Norbert Aschenbrenner

    Sperlings Suche nach dem Lachen

    Roman

    All denen gewidmet, die mich ermutigt haben und deren Lachen mich beim Schreiben begleitet hat.

    N. A.

    *****

    Wir werden nur von jenen Taten wirklich berührt, die Menschen aus ihren besten Empfindungen heraus in guter Absicht begehen, und von solchen, die normale Männer und Frauen gegen ihren Willen tun müssen und auch tun werden.

    George Bernard Shaw

    Ich hatte den Drang, einen Mönch zu vergiften. Ich glaube, Romane entstehen aus solchen Ideenkeimen, der Rest ist Fruchtfleisch, das man nach und nach ansetzt. 

    Umberto Eco

    EINS

    DETEKTIVSPIEL

    1

    Ich sah verwundert zur Uhr, als der Türgong schlug; ein zaghaftes Dingdong, als hätte jemand versehentlich den Taster gedrückt. 22.19 Uhr. Dass es einer unserer Nachbarn war, schien ziemlich ausgeschlossen, denn die verkriechen sich nach dem heute-journal ins Bett, weil morgens um fünf die Nacht zu Ende ist.

    »Nicki, gehst du bitte mal nachschauen!«, rief Laura.

    Sie war zu sehr mit dem Bügeln meiner Hosen beschäftigt. Dabei trug ich für gewöhnlich nur vier; im Wechsel, versteht sich.

    Laura, der personifizierte Staubwedel. Gleichgültig wann ich nach Hause kam, entweder bügelte sie oder polterte mit dem Staubsauger gegen Tisch- und Sesselbeine und entsprach der Wohnraum tatsächlich einmal ihrem Anspruch von Ordnung und Sauberkeit, rubbelte sie den Hochglanz der Küche noch eine Spur blanker. Sie verschmähte mein Mitleid. Für Bemerkungen wie: »Früher, vor der Geburt von Tim, als du noch im Liegenschaftsamt gearbeitet hast, brauchten wir den Staubsauger nur am Wochenende und trotzdem sind wir nicht im Dreck erstickt«, erntete ich nur warnende Blicke. Um dann nicht gleich ins nächste Fettnäpfchen zu treten, wechselte ich kurzerhand das Thema, denn ich wusste, wenn ich nachhakte und beispielsweise anfing, laut über die Organisation der Hausarbeit nachzudenken, dann drohte der Rest des Abends in allumfassendem Schweigen bei Salzgebäck und Glotze zu ersticken. Aber so weit ließ ich es inzwischen erst gar nicht mehr kommen, denn es gab einen Gesprächsstoff, der den Hausfrauenzorn rasch besänftigte: Tim, achtjähriger Stolz der Mutter und ihr, wie alle - außer mir - meinten, wie aus dem Gesicht geschnitten.

    Diese Art von Rückzug funktionierte fast immer. Eine lange Ehe verlangt viel taktisches Geschick für Rückzüge. Eine gute auch?

    Ich verließ also meine Diktathefte und ging zur Haustür; fast ein wenig froh, den Schreibtisch verlassen zu dürfen, weil mir die orthographischen Mängel meiner Schüler während der dreistündigen Korrektur ihrer Diktate einmal mehr meine Machtlosigkeit - oder sollte ich besser sagen, meine Unfähigkeit? - als Lehrer bewiesen hatten.

    Ich öffnete, ohne zuvor durch die Sprechanlage die Identität des späten Besuchers festgestellt zu haben. Die junge Frau, die mich anlächelte, hatte ich zuvor noch nie gesehen, trotzdem glaubte ich, sie sofort zu erkennen. Es war ihr Lächeln, das mir vertraut vorkam; ein Lächeln, das ihre Gestalt förmlich aufleuchten ließ und sie in ein Fluidum tauchte, wie es mir bisher ähnlich nur bei Schwangeren aufgefallen war; kein Standardlächeln, nicht pflichtbewusst wie das einer Verkäuferin für Damenunterwäsche, nicht nur ein zaghaftes Heben der Mundwinkel, nein, alle Poren ihres Gesichts strahlten Lebensfreude aus.

    Arno hatte bei unseren Gesprächen oft davon geschwärmt. »Ich habe tausendmal gesehen, wie sie lächelt«, hatte er gesagt, »beim Aufwachen, beim Frühstück, beim Spazierengehen, nach einem Geländelauf, beim Tanzen oder wenn ich sie fotografiere und jedesmal ist es anders.«

    Im Licht der Vorplatzlampe glänzten ihre Augen beinahe schwarz wie geschliffene Melanite. Ihre dunkelblonden Locken waren mit hellen Strähnen durchsetzt, die wie Sonnenstreifen in einem Wasserfall schimmerten, der breit über ihre Schultern floss. Ja, dieser Wasserfall aus Locken stürzte nicht wild in die Tiefe, er floss still und würdevoll. Von den kräftigen Wangenknochen liefen Lachfältchen zum runden Kinn, wo sie in einem Grübchen versickerten. Zwischen Nasenrücken und Augenwinkeln tanzten Sommersprossen, die die Sonne der zurückliegenden Monate hervorgelockt hatte.

    Erst beim zweiten Hinsehen bemerkte ich, dass sie gezwungen lächelte und dass es ihr nicht gelang, eine geheime Unruhe zu unterdrücken.

    »Ich suche Herrn Adam, Herrn Niklas Adam«, sagte sie.

    »Sie haben ihn gefunden.«

    »Arno schickt mich. Ich soll Ihnen dies hier bringen.«

    Sie blickte verstört auf einen Karton, den sie vor ihren Füßen abgestellt hatte.

    »Wo steckt denn der alte Halunke? Er scheint selbst das Telefonieren verlernt zu haben.«

    »Ich weiß nicht ... Er wollte ... Sein Bruder ist ...« Ein Frösteln durchlief ihren Körper, als hätte sie ein eisiger Wind gestreift. »Am Sonntagabend habe ich ihn zuletzt gesehen.«

    »Ist er denn nicht mehr in Thalbach?«

    »Er kann ... Er hat viel geschrieben ... viele Fotos gemacht«, stotterte sie, und wieder wanderten ihre Augen zu dem Karton. »Er hat gesagt, dass ich Ihnen die Sachen bringen soll. Sie würden es verstehen und wissen, was zu tun ist.«

    Sie sah mich flehend an, so als wollte sie sagen, nun nimm dieses Ding schon an dich und frag nicht länger. Ihr Lächeln war mit einem Mal verflogen und Zweifel furchte Mund- und Augenwinkel.

    »Er glaubt, dass die Sachen bei Ihnen in Sicherheit sind. Die werden sie hier nicht suchen.«

    »Seien Sie unbesorgt, liebe Dorothea«, sagte ich und bückte mich und klemmte den Karton unter den Arm, was sie mit einem erleichterten Lächeln quittierte.

    »Woher wissen Sie ...?«

    »Arno hat oft von Ihnen erzählt und was Ihr Lächeln betrifft, hat er nicht übertrieben, daran muss man Sie erkennen.«

    »Bitte verzeihen Sie ... bin ziemlich durcheinander. Makowski, Dorothea Makowski. Sie haben richtig geraten.«

    »Nun, gerade höflich bin ich wohl auch nicht gewesen. Noch immer habe ich Sie nicht hereingebeten. Meine Frau hat vermutlich Recht, wenn sie behauptet, ich sei ein stoffeliger Gastgeber.«

    »Vielleicht können Sie ein andermal beweisen, dass Sie es nicht sind. Es war nicht leicht, Ihr Haus zu finden. Vielleicht sind sie uns gefolgt. Ich muss fort sein, bevor die bemerken, dass ich bei Ihnen war.«

    »Die? Wer sind die? Was ist mit Arno? ... Dorothea, bitte bleiben Sie doch!«

    »Sie werden es lesen!«, rief sie, schon am Gartentor. »Ich glaube, er hat alles aufgeschrieben. Und die Fotos! Schauen Sie sich die Fotos an!«

    Grußlos, wie sie gekommen war, tauchte sie in der milden, nach vermoderndem Laub riechenden Oktobernacht unter. Ich hörte das Klappern ihrer Pumps auf dem Asphalt. Gleichzeitig wurde ein Auto angelassen.

    Ich stand mit dem Karton unterm Arm in der offenen Haustür. Noch fragte ich mich nicht, was ich von dieser seltsamen Begegnung halten sollte, noch hüllte mich der Zauber von Dorotheas Lächeln ein und verhinderte weitergehende Gedanken. Ich bemerkte nicht, dass Laura plötzlich neben mir stand.

    »Und?«, fragte sie. »Wer war der späte Gast?«

    »Dorothea.«

    »Die Dorothea?«

    »Ja.«

    »Das Mädchen, das deinem Freund den Verstand geraubt hat?«

    »Was weißt du schon!«, bellte ich sie an.

    »He! Was ist denn in dich gefahren?«

    »Entschuldige bitte, aber seit sie fort ist, beschleicht mich so ein eigenartiges Gefühl.«

    »Hat es etwas mit diesem Karton zu tun?«

    »Damit auch ... vielleicht.«

    »Und was ist drin?«, wollte sie wissen und bemerkte nicht, wie nervtötend ihre Fragen in diesem Augenblick waren.

    Ich bin ungerecht, ich weiß, und deshalb sagte ich, meine dunkle Ahnung mit einem kräftigen Schuss Sarkasmus überspielend: »Vermutlich Arnos Vermächtnis.«

    2

    Am 17. Dezember des vergangenen Jahres, einem Donnerstag, war Arno Sperling völlig unerwartet bei mir hereingeschneit und hatte mich mit der ungewöhnlichen Bitte überfallen, ihm bei einem »Bilderbuchprojekt« behilflich zu sein. Und nun, ein knappes Jahr später, war er auf ähnlich kuriose Weise wieder verschwunden.

    Gott weiß, welcher Teufel mich geritten hat, als ich mich zwei Tage nach Dorotheas seltsamem Besuch im Sekretariat der Schule krankgemeldet habe und nach Thalbach gefahren bin, um dort auf Spurensuche zu gehen. Ich fühlte mich irgendwie zuständig oder berufen, zumindest glaubte ich, irgendetwas unternehmen zu müssen.

    Ich habe keinerlei Erfahrung mit solchen Situationen und werde mich möglicherweise wegen meines Verdachts in ein paar Tagen lächerlich machen. Wie dem auch sei - nachdem meine Recherchen in Thalbach erfolglos verlaufen sind, ist mir nichts Klügeres eingefallen, als nach Schönfeld zu fahren und beim dortigen Polizeirevier eine Vermisstenanzeige zu erstatten.

    Ich hatte keine Ahnung, welche bürokratischen Schritte meiner Anzeige folgen würden. Ein sachkundigerer Kollege erklärte mir heute Vormittag, während einer Pause auf dem Schulhof, da es sich bei Arno um einen Erwachsenen handele, würden Durchschriften des Protokolls an die Landeskriminalämter verteilt und ansonsten werde abgewartet, bis irgendein Hinweis eingehe. »Wir leben schließlich in einem freien Land«, sagte er, »und da kann jeder seine Koffer nehmen und gehen, wann und wohin er will.«

    Und nun stelle ich mir vor, wie die ermittelnden Provinzkriminalisten - falls sie überhaupt etwas tun, außer abzuwarten - Aktenordner mit Belegen von Arnos Existenz füllen. Im Schein der ländlichen Thalbacher Idylle werden ihnen wahrscheinlich die gleichen wichtigtuerischen Vermutungen aufgetischt wie mir bei meinem naiven Detektivspiel: Geflüster hinter vorgehaltener Hand, Stammtischgeschwätz, Hausfrauentratsch, Dorfklüngel - nichts, was meinen Verdacht erhärten würde.

    »Es gibt kaum einen, dem er mit seiner Fotokamera nicht vor der Nase herumgefuchtelt hat«, erzählte mir Georg Dunkel, der Wehrführer der örtlichen Feuerwehr, den ich aufsuchte, nachdem ich die verkohlten Fensterrahmen im Erdgeschoss von Arnos Elternhaus gesehen hatte. »Viele Freunde hat er sich damit nicht gemacht, denke ich. Außer Dorothea vielleicht«, mutmaßte Dunkel, während er den Schuhschrank aufklappte und ein Paar blank polierte Halbschuhe herausnahm. »Eine Zeitlang hingen die beiden wie Kletten aneinander. Verstanden hat’s niemand, denn dieser Sperling ist einer, vor dem sie meilenweit davonlaufen sollte, denke ich. Aber wer kennt schon die Geheimnisse der Frauenherzen?«

    Und dann berichtete mir der philosophierende Feuerwehrmann, wie es am vergangenen Sonntag zum Brand in Arnos Elternhaus gekommen war.

    Arnos Bruder Felix hatte als Gastredner auf einer Versammlung des SPD Ortsvereins gesprochen. Die Thalbacher Genossinen und Genossen hatten die Veranstaltung allein wegen ihm auf den Sonntagabend verlegt, weil sein Terminkalender während der Woche lückenlos vollgestopft gewesen war. Dass man andernorts den Tag der Deutschen Einheit bejubelte, hatte dabei keine Rolle gespielt. Für öffentliches Schulterklopfen waren nun mal die in Bonn zuständig; in Thalbach hatten sie das ganze Wiedervereinigungsgerangel von Anfang an mehr von der pragmatischen Seite betrachtet.

    »Wochenende gibt’s für den Sperling nicht. Seine Kanzlei und die Politik unter einen Hut zu bringen, das verlangt schon einiges, denke ich. Na, er hat’s ja so gewollt.«

    Als er nach der Veranstaltung noch kurz bei seinem Bruder habe vorbeischauen wollen, hätten die Gardinen des Wohnzimmers bereits lichterloh gebrannt. Über das Autotelefon habe er die Feuerwehr alarmiert. Dann habe er sich, von der Furcht getrieben, dem Bruder könne etwas zugestoßen sein, in das brennende Erdgeschoss gewagt.

    Dunkel knöpfte sich die Uniformjacke zu und prüfte ihren Sitz im Spiegel der Flurgarderobe. Dann ging er in sein pedantisch aufgeräumtes Junggesellenwohnzimmer und holte einen Ringordner aus dem Schreibtisch.

    »Ich denke, ihr Freund war mal wieder blau und is’ mit ’ner Zigarette vor dem Fernseher eingeschlafen. Es kann nur so gewesen sein«, spekulierte er.

    »Und? Hat er Arno gefunden?«, fragte ich.

    »Nee, das Haus war leer. Der seltsame Knabe hat sich wohl rechtzeitig verdrückt.«

    »Vielleicht ist er gar nicht drin gewesen. Vielleicht war er bei Frau Makowski. Wurde sie befragt?«

    Dunkel sah mich zwei Sekunden misstrauisch an, dann blätterte er in seinem Ordner und schüttelte den Kopf.

    »Es muss so gewesen sein. Aber Felix wollte keinen Wirbel, von wegen Polizei und Anzeige und so weiter. Is’ ja auch verständlich, denke ich. Wer haut schon gerne den eigenen Bruder in die Pfanne? Zumal wir den Brand ziemlich schnell unter Kontrolle hatten. Die Männer haben erstklassig gespurt.« Er schien vor Stolz in seiner Uniform zu wachsen. »Wie ich ihn kenne, wird er sich auf unserer nächsten Hauptversammlung mit ’ner anständigen Spende revanchieren. Is’ schon ein feiner Kerl, der Felix. Gott sei Dank hat er sich nur ein paar kleine Brandwunden im Gesicht und an den Händen zugezogen. Und das mit dem Haus, denke ich, bringt er auch bald wieder in Ordnung. So, und jetzt müssen Sie mich entschuldigen, muss zur Wehrführersitzung nach Schönfeld.«

    Es war beachtlich, wie der redselige Feuerwehrmann über alles und jeden im Ort nachzudenken schien und möglicherweise lag er ja richtig. Trotzdem kam ich mir bei meinen Nachforschungen vor, als sei ich in die Kulissen der 536sten Fortsetzung einer RTL-Seifenoper gestolpert; es gab Helden, und es gab Bösewichte - wie im richtigen Fernsehleben. Durfte ich ihren local hero demontieren, bloß weil mir sein angebliches »Nur-kurz-vorbeischauen-wollen« nicht besonders schmeckte?

    Wann Arno tatsächlich verschwunden war, konnte mir keiner sagen. Im Gegenteil, wenn ich die verschiedenen Aussagen miteinander verglich, dann war er gleichzeitig an den unterschiedlichsten Orten gesehen worden.

    Nur wahre Bösewichte schaffen das, dachte ich und grinste in mich hinein, als man mir erzählte, dass er schon als Jugendlicher ein halsstarriger Vogel gewesen sei, ein kaum zu durchschauender Sonderling, den selbst sein Vater, der sonst so gewiefte Hans Sperling, nicht in den Griff bekommen hatte. Das war nichts Neues für mich, denn zu der Zeit, als er ein halsstarriger Vogel gewesen sein soll, war ich ihm täglich begegnet.

    »Hat’s Blut seiner Mutter in den Adern, der Junge. Die hat’s auch immer unterm Rock gejuckt. Aber man darf ja nichts sagen. Jedenfalls hat sie’s irgendwann nicht mehr ausgehalten und is’ mit ’nem pomadigen Spaghettifresser durchgebrannt. Der Hans hätte’s erschlagen sollen, das undankbare Luder«, krähte eine verwitterte Alte aus der Nachbarschaft über den Gartenzaun. Gebückt kauerte sie über einer Furche und sammelte Kartoffeln in einen Sack. Mehr ließ sie sich nicht entlocken. Im nächsten Augenblick hatte sie sich bereits wieder dieselbe Gleichgültigkeit übergestülpt, auf die ich in Thalbach überall stieß, wenn ich nach Arno fragte.

    Ich fand, dass sich die Bilanz meines gesammelten Gemunkels vortrefflich als Grundlage für ein Drehbuch zu einem Heimatfilm im Stil der fünfziger Jahre eignete: Handgreiflichkeiten zwischen Arno und Felix wegen Dorothea; Abschiebung des Vaters nach dessen Schlaganfall ins Pflegeheim; Streit zwischen den Brüdern wegen der Aufteilung des zu erwartenden Erbes und so weiter.

    »Blödsinniges Gerede. Der Sperling ist ein aufrichtiger Sozi. Die Schwarzen wühlen nur mal wieder im Schlamm, um ihm irgendwie an den Karren pinkeln zu können«, wiegelten seine ebenso aufrichtigen Genossen ab.

    Schließlich konnte ich meinen Verdacht nicht länger unterdrücken, versuchte aber, ihn so unverfänglich wie möglich zu formulieren. »Gibt es Rechtsradikale hier im Ort?«

    Man schaute mich an, als käme ich von einem anderen Stern. Bescheuerte Frage. Ganze zwölf Stimmen hatten die Rechten bei den letzten Wahlen bekommen. »Geheime Nazi-Treffen gab es nicht und wird es in Tahlbach nicht geben. Dafür stehe ich!«, versicherte mir der Ortsvorsteher mit zornroten Backen und Schweißperlen in den Falten seiner Stirn.

    Es klang fast beschwörend, und vielleicht schwirrte mir gerade deshalb Dorotheas Bemerkung unablässig durch den Kopf: »Ich muss fort sein, bevor die bemerken, dass ich bei Ihnen war.«

    Mehrmals hatte ich von zu Hause versucht, sie telefonisch zu erreichen, und als ich später in Thalbach ankam, läutete ich zuerst an ihrer Wohnungstür. Ohne Erfolg.

    »Vielleicht ist sie zum Höhentraining in der Schweiz«, sagte Frau Schimmelpfennig, die Inhaberin der Thalbacher Apotheke. »Obwohl ... Es ist ja schon wieder Oktober. In die Höhe geht sie sonst immer im Frühjahr. Lassen Sie mich überlegen ... Ja, am Dienstag war sie zuletzt hier. Sie kam mir ziemlich zerstreut vor und bat um zwei Wochen Urlaub. Ich habe sie nicht gefragt, wohin sie verreisen wolle. Das geht mich ja nichts an. Sie müssen wissen, meine Apotheke ist mehr Alibi als Arbeit für das Mädchen. Die meiste Zeit trainiert sie oder reist um den Globus, um bei einem Meeting - so nennt man doch heutzutage die Sportfeste, nicht wahr? - mitzurennen. Die Leute hier sind mächtig stolz auf sie.«

    »Am Dienstag haben Sie sie also zuletzt gesehen?«

    »Ja ... Vielleicht war’s auch am Montag. Die Zeit zerrinnt einem ja unter den Fingern.«

    Dienstag war durchaus wahrscheinlich, dachte ich, denn da hatte sie abends mit dem Karton vor meiner Tür gestanden.

    Heinz Fichte, der Vorsitzende des Thalbacher Leichtathletikvereins, wich meiner Frage nach Dorothea aus. Er gefiel sich in der Pose des umsichtigen Lenkers und belächelte Frau Schimmelpfennigs Angaben hinsichtlich des Höhentrainings.

    »Dorothea ist unser bestes Pferd im Stall, wenn Sie mir diesen Ausdruck erlauben. Waren schon eine ganze Reihe renommierter Clubs hinter ihr her. So ein kleiner Verein wie wir hat’s da nicht leicht, das können Sie mir glauben. Ohne Geld, viel Geld, geht gar nichts mehr.« Er rückte seinen dunkelblauen Blazer zurecht und lud mich ein, neben ihm an der Theke des Vereinsheimes Platz zu nehmen. Vertraulich raunte er mir ins Ohr: »Gut, dass wir den Sperling haben.«

    Er bemerkte meinen verständnislosen Gesichtsausdruck.

    »Ich meine den Bruder, den Felix Sperling«, erklärte er wohlwollend.

    »Der Bruder, aha«, sagte ich. »Und der besorgt das Geld.«

    »Hm«, grunzte Fichte. »Hat ausgezeichnete Verbindungen. Na, so läuft das nun mal. So muss es laufen! Ohne Sponsoren kann man den Laden gleich dicht machen. Und unsere Dorothea, na ja, an ihr hat er wohl auch ein gewisses persönliches Interesse.«

    Er warf mir ein Augenzwinkern zu, aus dem ich wohl schließen sollte, dass er zwar über alles im Bilde sei, aber nicht mehr verraten dürfe.

    »Und wo finde ich diesen Felix Sperling?«

    »Schwierig. Seit der alte Hans im Heim ist, steht das Haus meist leer. Und jetzt, nach dem Brand ... Sein Bruder hat den Sommer über dort gewohnt, aber das wussten Sie bereits, nehme ich an.«

    Ich nickte.

    »Felix, nun ja, er hat eine Wohnung in Schönfeld, ist aber häufig unterwegs. Er ist unser Wahlkreiskandidat für den nächsten Bundestag. Vielleicht versuchen Sie’s mal in seiner Kanzlei.«

    Als ich Dorotheas Besuch beiläufig erwähnte und ihn fragte, ob er sich einen Reim auf ihr seltsames Verhalten machen könne, lächelte er herablassend, so dass ich mir für einen Augenblick selbst wie ein hoffnungsloser Spinner vorkam.

    »Nee, mein Lieber, unsere Dorothea weiß genau, was sie will. Angst kennt die nicht. Ich denke, Sie haben das Mädchen bloß falsch verstanden.«

    Das hatte ich nicht und ich war froh, ihm nichts von dem Karton erzählt zu haben.

    Auch Else Kötter, die frühere Haushälterin der Sperlings, traf ich nicht zu Hause an, und so fuhr ich nach Schönfeld und versuchte, Arnos Bruder zu treffen.

    Vergeblich. Auslandsreise. »Ein Kurzurlaub«, erklärte mir das brünette Pummelchen in seinem Vorzimmer. »Herr Sperling wäre beinahe bei einem Brand ums Leben gekommen.« Ihre Augen leuchteten wie die von Miss Moneypenny und ich hätte mich nicht gewundert, wenn im nächsten Augenblick ein Filzhut durch den Raum geschwirrt und auf dem Garderobenständer gelandet wäre.

    »Der Bruder von Herrn Sperling? ... Ja, zwei- oder dreimal ist er hier in der Kanzlei gewesen. Irgendwann im Sommer«, flötete sie.

    Ich spürte, dass sie mir nicht mehr sagen durfte oder wollte, ohne in Gewissenskonflikte zu geraten. Aber für einen Missbrauch ihrer Vertrauensstellung wollte ich nicht verantwortlich sein. Ich denke, man sollte die Diskretion der Menschen als einen Teil ihrer Würde respektieren.

    Wenn es wichtig sei, solle ich meine Telefonnummer hinterlassen, sie werde dann einen Termin vereinbaren.

    Ich kann dir meine staubigen Schuhe hierlassen, Mädel, dachte ich und verabschiedete mich. Die Frage nach Dorothea verkniff ich mir, weil ich das Funkeln in ihren Augen bemerkt hatte, wenn sie den Namen ihres Chefs aussprach, und deshalb wollte ich ihre Illusionen nicht trüben, indem ich sie mit einer möglichen Konkurrentin konfrontierte.

    Alles schien in bester Ordnung zu sein, überall begegnete mir normale Alltäglichkeit, nichts Ungewöhnliches. Nur Arno, der meinen abenteuerlichen Verdacht hätte zerstreuen können, fehlte, blieb stumm, gab kein Zeichen. Und genau das war - zumal nach Dorotheas Besuch - eben doch ungewöhnlich.

    Ich kam mir vor, als hätte ich tagelang an einem Puzzle herumgebastelt, bloß um am Ende feststellen zu müssen, dass ein Teil im Zentrum fehlt. Normalerweise wird dann die Wohnung auf den Kopf gestellt und der Staubsaugerbeutel, der Müllsack und der Stapel mit den alten Zeitungen durchwühlt und meist wird man fündig. Bei diesem Puzzle jedoch konnte ich auf keinen Staubsaugerbeutel zurückgreifen und deshalb entschied ich mich schließlich für die Schönfelder Polizei.

    Dort hackte ein junger Beamter meine Ratlosigkeit und meine zweifelhaften Ahnungen routinemäßig in eine alte Schreibmaschine und ließ mich nach einer Viertelstunde das Protokoll lesen und unterschreiben. Als er mich um ein Foto des Vermissten bat, musste ich achselzuckend passen, aber ich versprach, dass ich mich bemühen werde, ein aktuelles aufzutreiben. Er nickte gelangweilt und versicherte, man werde mich über den Stand der Ermittlungen auf dem Laufenden halten. Floskeln, mit denen der fragwürdige Sherlock Holmes auf den fachwerkgesäumten Marktplatz von Schönfeld entlassen wurde.

    Den anschließenden unangemeldeten Besuch bei meinen Eltern hätte ich mir besser ersparen sollen. Er beförderte meine trübselige Stimmung noch tiefer in den Keller. Aber was hatte ich erwartet?

    Meine Mutter bekommt zwar jedesmal feuchte Augen, wenn sie mir an der Wohnungstür um den Hals fällt, aber auch nach langen Phasen des Schweigens und der Trennung scheint es noch immer kein Thema zu geben, über das wir entspannt miteinander reden können, irgendein unausgesprochener Vorwurf schwebt immer in der Luft, so dass ich mir auch heute noch, nachdem ich selbst längst Vater geworden bin, wie ein missratener Sohn vorkomme.

    Mein Vater, seit einem Jahr ein zufriedener Pensionär, lag träge im neuen Fernsehsessel und zappte mit der Fernbedienung von einem Kanal zum anderen. Mutter zerrte das Waffeleisen hervor. Wortloses Einverständnis, wortloses Kaffeetrinken, untermalt von Werbespots auf SAT1 und dem Wetterbericht der ARD. Nach zwei Stunden floh ich. Ich spürte Mutters tränenverschleierten Blick im Nacken, als ich die vier Treppen hinuntersprang.

    Die Pferde meines Golfs brüllten entrüstet wegen der ungewohnt scharfen Gangart, die ich ihnen auf der Autobahn abverlangte und mein nervöser Magen, seit Kindertagen das Barometer meiner Seelenlage, zog sich krampfartig zusammen, als ob er von Tritten drangsaliert worden wäre - von Tritten mit grobstolligen Lederstiefeln.

    3

    Es ist seltsam, wenn ich die Schlagzeilen der Zeitungen lese, das lodernde Feuer eines neuen Brandanschlages und trommelnde, kahlgeschorene junge Männer in schwarzen Kampfstiefeln über den Bildschirm stampfen sehe - ihre aufgehetzten, kalten Gesichter, die ausgestreckten Arme -, wenn ich die gebrüllte Dummheit höre, die mir die Sprache verschlägt, dann sehe ich unwillkürlich Dorothea vor mir, Dorothea und Arnos Karton - und ich höre die Beklommenheit, die über ihren hastigen, unvollständigen Sätzen schwebt. Die Vorstellung, dass Arno diesmal nicht freiwillig verschwunden sein könnte, lässt mich erschauern. Vielleicht geht auch nur meine Phantasie mit mir durch, vielleicht bin ich trotz der vielen Ferientage, die man als Lehrer hat, reif für die Insel. Laura jedenfalls behauptet das bei jeder Gelegenheit. Ich wäre froh, wenn es so wäre, denn dann müsste ich mich nicht länger mit der fixen Idee herumquälen, dass Arnos Verschwinden irgendetwas mit dem Wiederaufleben jener anderen widerwärtigen Geschichte zu tun hat, die wir alle glaubten, für immer und ewig unter dem Schutt und der Asche des tausendjährigen Größenwahns begraben zu haben.

    Ich hätte nie geglaubt, dass ich einmal mit den gleichen peinlichen Fragen konfrontiert werden würde, mit denen ich als jugendlicher Weltverbesserer meine Eltern und Großeltern in Verlegenheit gebracht habe: »Was habt ihr dagegen unternommen? Wo habt ihr gestanden? Warum habt ihr schweigend zugesehen?« Sie treffen mich unvorbereitet und entblößen deshalb um so mehr meine rechthaberische Arroganz, die den längst vergessenen Bumerang ignoriert, der vor Jahrzehnten von einer blinden, belogenen und gedemütigten Generation ins All geschleudert - nach dem Erreichen des fernen Scheitelpunktes seiner Flugbahn nun wie ein feindliches, fremdes Flugobjekt auf das Glashaus zurast, in dem ich mir unantastbar vorgekommen bin, im Wesentlichen damit beschäftigt, die Neurosen meines Daseins zu pflegen. Und vielleicht ist es nur ein Auswuchs dieser Neurosen, dass ich die Vorstellung nicht unterdrücken kann, dass sich diejenigen noch frei unter uns bewegen, die Arno ... Unsinn!, befehle ich meiner Phantasie. Noch wird ermittelt, wenn auch ohne vorzeigbaren Fortschritt - was nach zwei oder drei Tagen gewiss noch nichts bedeuten muss -, aber noch sind sie nicht zu mir gekommen weder die Ermittler noch die Täter - und haben nach dem Karton gefragt, der jetzt neben meinem Schreibtisch steht.

    Ich habe ihn aus der hintersten Ecke meines Arbeitszimmers unter alten Zeitungen und leeren Aktenordnern hervorgezogen. Ein Versandhauskarton aus blauer Wellpappe, in dem irgendwann einmal Hosen oder Hemden oder Bettbezüge verschickt worden sind, der jetzt - nicht zuletzt von meinem vielen Hin- und Herschieben, Öffnen und Schließen - an den Ecken zerbeult und zerschlissen ist. Ich weiß, was er enthält: neun Pappschachteln, in denen mehr als achthundert Dias aufbewahrt sind; vier Filmdosen, in denen Diafilme stecken, von denen ich nicht weiß, ob sie belichtet sind; zwölf Schulhefte, Format DIN A5, engbeschrieben.

    Am liebsten möchte ich mich wegen der Oberflächlichkeit ohrfeigen, mit der ich die Aufzeichnungen und die Lichtbilder bisher durchgesehen habe. Warum hat Dorotheas Besuch meine Neugier nicht sofort geweckt? Warum habe ich - abgesehen von meinem Detektivspiel und der Vermisstenanzeige - drei weitere Tage untätig verstreichen lassen? Warum konnte ich nicht ein einziges Mal spontan handeln?

    Drei Tage sind nichts, versuche ich mir einzureden, doch gleichzeitig beginne

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