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null und eins: Kriminalroman
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eBook333 Seiten4 Stunden

null und eins: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Während die zwei Kommissare versuchen, ihr turbulentes Privatleben irgendwie auf die Reihe zu kriegen, verwickelt ein dreister Hacker sie in ein gefährliches Katz-und-Maus-Spiel. Nur: Wer ist überhaupt die Katz und wer die Maus?
Ein Phantom führt die beiden Kommissare an der Nase herum. Aber warum, mit welchem Ziel?
Und dann ist da noch die Rhein-Leiche. Gibt es einen Zusammenhang? Jagen sie womöglich einen Mörder?

Ein weiterer packender Fall für Kommissarin Karch. Erneut schickt das Krimiduo Anette Butzmann und Nils Ehlert den Leser mit viel Humor auf eine spannende Suche nach des Rätsels Lösung.

SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum5. Okt. 2018
ISBN9783954287031
null und eins: Kriminalroman

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    Buchvorschau

    null und eins - Anette Butzmann

    Hörspielfassung

    Prolog

    Ich bin weit gerannt, weiter geht es nicht. Zwischen den Containern sinke ich auf den Boden. Hier ist es dunkel. Ich ducke mich tief, unter mir entsteht eine Kuhle. Meine Angst ist so groß, dass sogar der Boden nachgibt. Ich rühre mich nicht. Sind sie weg? Habe ich sie abgehängt? Nein, ich höre ihre Schritte. Stampfende, schnelle Schritte auf dem Asphalt. Sie werden gleich um die Ecke biegen. Dann haben sie mich. Soll ich weiterlaufen? Wohin? Ich kann nicht. Meine Lunge brennt. Die Angst hat mir einen Kick versetzt. Sonst hätte ich nie so schnell wegrennen können. Sie haben gesagt, es ist eine Warnung. Ich habe sofort verstanden, sie wollen mich töten. Sie werden uns beide töten. Wieso haben sie sonst die Waffen dabei? Sie planen, das Geschäft ganz zu übernehmen. Wir sind ihnen nur im Weg. Sie hätten uns gleich erledigen können. Doch sie wollen noch ein bisschen mit uns spielen, uns zappeln sehen. Wie eine Katze die Maus. Sie lieben es, sich an unserer Angst zu weiden. Wir haben sie unterschätzt. Wir haben sie zu sehr gereizt.

    Ist Ben ihnen entkommen? Hoffentlich. Der arme Ben. Ich habe nicht mehr nach ihm gesehen. Ich habe nicht mehr nach hinten geblickt. Ich bin nur gerannt, gerannt, gerannt. Die Luft, zäh wie Honig. Ich bin kaum vorwärtsgekommen. Ich bin fertig. Die hohen Laternen stehen wie Suchscheinwerfer in der grauen Ebene. Sie überfluten alles mit Licht. Nur zwischen den Containern ist etwas Dunkelheit. Wäre das hier ein Game, dann würden genau dort die Feinde lauern. Der Kampf im offenen Feld wäre einfacher. Aber ich habe keine Waffe und keine magischen Kräfte. Ich kann mich nicht verteidigen. Es gibt keine drei Leben, um in den nächsten Level zu kommen. Es gibt nur eine Chance. Ich muss mich in den Schatten drücken und warten und hoffen. Vielleicht laufen sie vorbei. Die Schritte kommen nicht näher, sie bleiben immer gleich laut. Wie kann das sein? Treten sie auf der Stelle? Ich kann nicht vernünftig denken. Es ist zu viel Nebel in meinem Kopf. Mein eigener Herzschlag hämmert mir in den Ohren. Sie verfolgen mich nicht mehr. Mein Herz imitiert ihre Schritte. Es wollte mich vor ihnen warnen. Sonst nichts. Mein gutes, liebes Herz.

    Ich seufze erleichtert und schlage mir die Hand vor den Mund. Wenn sie in der Nähe herumschleichen und mich hören! Ich muss still bleiben und abwarten. Vor mir blitzt ein Auge in der Dunkelheit auf. Ich zucke zusammen. Aber das ist kein Mensch, kein Menschenauge. Das ist ein Tier. Weitere Augen starren mich an. Sie zwinkern. Sie tanzen auf und ab durch die schwarze Nacht. Ich flüstere: »Geht weg!« Ich wedele mit meinen Händen in der Luft herum, um sie zu verscheuchen. Was sind das für Tiere? Wenn sie Geräusche machen oder mich angreifen … Dann kommen sie und finden mich. Die Lichtpunkte taumeln in einem wilden Tanz vor mir. Ich schließe meine Augen und sehe sie immer noch. Da wird es mir klar: Die Punkte tanzen auf meiner Netzhaut herum. Kein Wunder. Ich bin müde, mein Kreislauf sackt nach unten. Das Zeug in meinem Körper. Es hat mir geholfen, während ich mit Ben die Nächte am Rechner verbracht habe. Daran habe ich gedacht, als ich es genommen habe. Ich dachte, es wäre eine gute Idee. Ich dachte, ich würde mich mutiger fühlen und überzeugender rüberkommen. Ich habe mehr als sonst eingeworfen. Zu viel. Was für ein Schwachsinn. Es müssen andere kommen, um sie zu beeindrucken. Nicht so einer wie ich oder Ben.

    Ich lausche. Nichts. Plötzlich stehen sie vor mir und halten mir die Läufe ihrer Waffen vor das Gesicht. Ich erstarre. Auch sie bewegen sich nicht. Doch dann öffne ich die Augen und merke, dass ich kurz eingenickt bin. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist. Sie können irgendwo lauern. Vielleicht haben sie jemanden, der im Auto auf der Straße auf uns wartet. Irgendwann, irgendwie müssen wir runter vom Gelände. Gibt es andere Ausgänge? Ich werde danach suchen. Der Haupteingang ist zu gefährlich. Dort werden sie bestimmt auf uns warten. Ich stehe langsam auf und bewege mich von Schatten zu Schatten zwischen den Containern. Das Licht, das mich trifft, klebt wie Schleim an mir mit langen glitschigen Fäden. Ich ziehe es wie eine Schleppe hinter mir in die Schatten hinein, wo es nur langsam verglüht. Ich versuche, es von mir abzuwischen. Das verdammte Licht verrät mich. Der Schatten ist samtweich. Er hüllt mich ein. Er erstickt auch den Klang meiner Schritte, dessen Echo sich im Schein der Laternen vermehrt und in alle Richtungen auseinanderstrebt. Vielleicht lockt es sie an. Vielleicht verwirrt es sie.

    Ich irre zwischen den Containern umher. War ich hier nicht schon? Laufe ich im Kreis? Haben sie das Gelände in sich zurückgekrümmt, damit wir nicht fliehen können? Ich weiß nicht, wie das geht, aber es ist bloß Physik. Ich blicke nach oben in den Nachthimmel. Alle Sterne streben, ohne sich zu bewegen, auf einen einzigen Punkt zu. Ich blicke auf den Boden. Auch hier ist ein Sog, der sich an meinen Füßen bündelt. Ich stehe in der Mitte eines Trichters, und die Mitte wandert mit mir. Das Licht zwischen den Containern wird schwerer und zäher. Es tropft dickflüssig an mir herunter und drückt meinen Körper zu Boden. Das ist der Beweis, sie haben die Geometrie des Raumes verändert. Ich werde verschluckt, ich werde aufgesogen. Ich muss von den Containern wegkommen. Ich gehe auf einige Bäume zu und entkomme der zunehmenden Schwere. In ihrem Schatten finde ich Zuflucht. Dahinter strömt der Fluss. Ich entspanne mich etwas. Hier endet ihre Macht, da bin ich mir sicher. Fließendes Wasser kann man nicht in sich zurückkrümmen. Das wäre ein Perpetuum mobile, und das gibt es nicht. Neben mir taucht eine Gestalt aus dem Dunkel auf. Sieht sie aus wie Ben? Ich bin mir nicht sicher.

    »Ben«, sage ich vorsichtig.

    Die Gestalt antwortet: »Gib den Code raus.« Da weiß ich, dass es nicht Ben ist. Es ist einer von ihnen, der sich als Ben verkleidet hat. Ich weiche zurück.

    »Gib den Code raus«, wiederholt die Gestalt. »Mehr wollen sie doch nicht von uns. Dann lassen sie uns in Ruhe.«

    Ich schüttele den Kopf. Ich weiche weiter zurück, mitten hinein ins Licht. Es ist mir egal. Sie haben mich ja sowieso gefunden. Aber den Code kriegen sie nicht! Die Gestalt kommt ebenfalls aus dem Dunkeln. Nein, sie nimmt die Dunkelheit mit sich. Sie sieht aus wie ein Ben, der sich mit Schatten umgeben hat. Es ist nicht Ben, sage ich mir noch einmal. Wozu sonst die Schatten?

    Ich frage: »Wer bist du?«

    »Wer ich bin?«, lacht die Gestalt. »Was hast du denn eingeworfen?«

    »Du bist nicht Ben«, sage ich. »Ben würde niemals wollen, dass ich den Code rausgebe.«

    »Wir sind am Arsch«, sagt die Gestalt. »Hast du das immer noch nicht begriffen? Gib den Code raus und wir sind quitt. Sie lassen uns laufen.«

    »Nein«, sage ich, »warum solltet ihr? Wir stören euch doch nur.«

    Die Gestalt geht drohend auf mich zu. Sie packt mich an den Schultern und schüttelt mich: »Du bist ja völlig neben der Spur. Du machst jetzt, was ich sage. Gib den Code raus.«

    Ich sehe, wie ein Sog in dem Gesicht entsteht. Die Augen und der Mund sind riesig, die Nase in der Mitte des Trichters ist ganz klein und weit entfernt. Es ist eine Falle. Ich reiße mich los und laufe weg. Die Gestalt rennt mir hinterher. Alles vor mir zieht sich auf einen Punkt zusammen, ohne sich zu bewegen. Ich bin gefangen und weiß nicht, wie ich ausbrechen soll. Dann erreiche ich den Rand der Welt. Sie werden diese Grenze nicht überschreiten. Dahinter werden sie mich nicht verfolgen können. Ich zögere kurz, aber die Gestalt hat mich fast erreicht. Ich wage den Sprung vom Rand der Welt ins Nichts. Dorthin, wo sie keine Macht über mich haben. Ich höre einen Schrei, aber ich weiß nicht, wer geschrien hat. War ich es?

    Über mir schlägt das Wasser zusammen. Es ist kalt. Hier endet ihr Einfluss. Hier bin ich sicher. Niemand wird mich finden. So friedlich habe ich mich seit Monaten nicht gefühlt. Es ist gut.

    1

    Der Tote im Hafen

    Das Handy klingelte nun schon zum zweiten Mal. Christine stand ratlos da und stützte sich auf den Schrubber in der Küche. Eigentlich hatte sie geplant, den Raum erst nach dem Trocknen des Bodens zu verlassen und sich in der Zwischenzeit gemütlich auf den Liegestuhl auf dem Balkon zu setzen, doch das Telefon ließ sie nicht in Ruhe. Warum klingelte es jedes Mal, wenn sie unter der Dusche stand, im Keller arbeitete oder, wie jetzt, die Wohnung putzte? Sie schob sich auf Zehenspitzen an der Spülmaschine vorbei und rettete sich mit einem Sprung in den Flur. Dort begann gerade der nächste Klingelalarm. Diesmal auf dem Festnetz.

    Der Klingelton ihres Festnetztelefons hieß Für Luise oder so ähnlich und war an Fantasielosigkeit nicht zu überbieten. Sie hatte zwar zwischenzeitlich andere Töne eingestellt, doch bei jedem Stromausfall setzte sich die Werkseinstellung durch und die plärrende Melodie erklang erneut. Christine griff mit rosa Gummihandschuhen nach dem Mobilteil. Behindert durch das Gummi, drückte sie mindestens drei Knöpfe, einer davon war der richtige.

    »Was gibt’s«, fauchte sie in die Muschel.

    »Guten Morgen, Christine, hier ist Yasemin«, flötete ihr die Kollegin ins Ohr, »störe ich dich bei irgendwas?«

    »Ich putze.«

    »Krass! Trotzdem, du musst dich auf den Weg machen. Es gibt eine männliche Wasserleiche im Mühlauhafen. Die SpuSi ist auf dem Weg. Und jetzt halte dich fest: Die Wasserschutzpolizei hat die Leiche gefunden, und deine alten Kollegen warten auch schon auf dich.«

    Die alten Kollegen? Wen sie wohl damit meinte? Gerne hätte sie ihren alten Chef wiedergetroffen, aber der war bestimmt inzwischen pensioniert. Zumindest hatte er das vor ihrem Weggang von der Wasserschutzpolizei angekündigt. Eigentlich war er daran schuld, dass sie sich jetzt zu Lande für Leichen interessierte, statt auf dem Rhein zu schippern, den Duft des Wassers zu schnuppern und in der Freizeit mit ihrem Motorboot auf den Wellen zu gleiten. So hatte sie sich ihre Zukunft ausgemalt. Doch dann geschah der Unfall. Ihr Vater war Binnenschiffer gewesen. Er war auf den vereisten Planken ausgerutscht und gestürzt. Hätte das Schiff nicht in diesem Moment auf den Wellen geschwankt, hätte noch alles gut gehen können. Unglücklicherweise stürzte er in die Ladeluke und mehrere Meter tief in den Bauch des Frachters. Christine hatte zur gleichen Zeit Dienst auf dem Polizeiboot gehabt und wurde zum Unglücksort gerufen. In ihren Alpträumen sah sie in den Frachtraum mit den frisch gestrichenen Metallwänden hinunter. Der Geruch von Lack und Öl würde sie künftig an diese Szenerie erinnern. Und an den Blick in das finstere Loch, an dessen Grund ihr Vater lag. Eine unwirkliche Figur mit grotesk verdrehten Armen und Beinen. In schlaflosen Nächten verfolgte sie dieser unheimliche Schrei, der sich weiter und weiter ausdehnte und von den metallenen Wänden des Frachtraums vielfach zurückgeworfen wurde. Erst später verstand sie, dass es ihre eigene Stimme gewesen war, die sich gellend überschlagen hatte.

    »Ich schicke dir die Adresse aufs Handy.« Yasemins Stimme ließ sie hochschrecken, den Anfang der Ausführungen hatte Christine gar nicht mitbekommen.

    »Stefan habe ich bisher nicht erreicht«, ergänzte sie.

    »Hat der Herr wieder sein Handy liegen gelassen?«, spottete Christine. »Ich mache mich auf den Weg, er kann nachkommen.«

    Sie zog die Handschuhe aus und warf die häuslichen Verpflichtungen damit von sich. Es war lange her, dass sie das letzte Mal zum Mühlauhafen gefahren war. Früher war es ihr üblicher Dienstweg gewesen. Sie erinnerte sich an die Zeit nach dem Unfall ihres Vaters. Die Arbeit auf dem Fluss, die tägliche Routine war ihr unerträglich geworden. Jeder Tag hatte sie an die furchtbaren Geschehnisse erinnert, an eine Zeit, die ihr beinahe zum Verhängnis geworden war. Ihr Vorgesetzter hatte es bemerkt und ihr geraten, sich weiterzubilden. Über diesen Weg war sie bei der Kriminalpolizei gelandet. Heute sah es wieder so aus, als ließe sich die Vergangenheit nicht aus ihrem Leben vertreiben. Sie war wie ein Bumerang. Ob man wollte oder nicht. Die Vergangenheit kehrte immer wieder zurück. Die Häuser, die Straße, parkende Autos – alles wirkte seltsam und vertraut zugleich. Selbst ihr Parkplatz war frei, als hätte er nur auf sie gewartet.

    Sie achtete beim Gehen auf die Schienen der alten Hafenbahn, die momentan nicht in Betrieb war. Von Weitem sah sie eine Kollegin, die nach der Kündigung bei der Wasserschutzpolizei ihren Posten übernommen hatte. Den Namen hatte sie vergessen. Sie ging ihr auf den letzten Metern mit ausgestreckter Hand entgegen. Die beiden Frauen begrüßten sich.

    »Schon lange nicht mehr gesehen und gar nichts mehr gehört. Wie geht es dir, Christine?«

    »Alles klar soweit. Und was macht deine Arbeit auf dem Wasser?«

    Die Kollegin lächelte: »Alles wunderbar.«

    Alles wunderbar. Wie konnte dieser Smalltalk jetzt weitergehen? Was machen die Kinder … blablabla und so weiter. Leeres Gerede war nicht ihre Stärke. Alles wunderbar. Sollte sie sagen: Bei mir auch? Das wäre wiederum eine Lüge. Normalerweise rettete Stefan sie aus solchen unangenehmen Situationen. Hoffentlich hatte Yasemin ihn endlich erreicht.

    Christine bekam einen heftigen Stoß in den Rücken. Sie drehte sich um und lachte: »Hey, Wolfi, alles gut bei dir?«

    Wolfgang Radinsky war ein lustiger Typ, mit dem sie auf dem Polizeiboot gern zusammengearbeitet hatte. Er antwortete nicht, sondern drückte sie fest und hob sie dabei hoch, sodass ihre Beine in der Luft baumelten. »Hallo, du miesepetrige Landratte. Alles klor im Rohr?« Dann ließ er sie abrupt los. Beide grinsten sich an.

    »Schön, dass wir uns wieder mal sehen«, stellte Christine fest.

    »Nur der Anlass ist nicht schön«, meinte die Kollegin. »Wir haben einen Anzugträger rausgefischt.«

    »Der gute Mann hat bereits eine Weile den Fischen zugeschaut«, ergänzte Wolfi, »denn er sieht ein bisschen angenagt aus. Aber was erzähle ich, schau es dir selbst an, dafür bist du schließlich gekommen.«

    Die Ankündigung machte Christine wenig Freude. An den Anblick von Leichen würde sie sich wohl nie gewöhnen können. Wasserleichen gehörten zu der schlimmeren Sorte mit ihren großen und teigigen Gesichtern. Die drei gingen auf das Schiff.

    »Habt ihr ihn durchsucht?«, fragte Christine in die Runde.

    »Kein Perso, nichts zu finden«, warf Wolfi ein.

    Dann deckte er die Leiche auf. Ein blasses, aufgeschwemmtes Gesicht, das unterhalb der linken Wange aufgerissen war und durch ein hässliches Loch die obere Zahnreihe erkennen ließ. Die Augen waren geschlossen. Das war ungewöhnlich, denn ein friedliches Ertrinken im Todeskampf gab es eigentlich nicht. Sie schauderte. »Habt ihr ihm die Lider geschlossen?«

    Wolfi trat heran: »Nein, das war schon so.«

    Sie schlüpfte in ihre Handschuhe und knöpfte die Anzugjacke auf. Darunter kam ein weißes Hemd zum Vorschein. Der Körper schien auf den ersten Blick unverletzt zu sein. Letztendlich konnte das aber nur Dr. Erhardt, der Rechtsmediziner, entscheiden. Sie untersuchte die rechte Hand. Keine abgebrochenen Fingernägel. Eine schmale Hand mit langgliedrigen Fingern, wie bei einem Pianisten. Sie hielt erschrocken inne. Ihr Blick wanderte wieder zum Gesicht des Mannes. Es war entstellt, aber trotzdem kam es ihr bekannt vor. Symmetrische helle Augenbrauen, eine gerade Nase und weiche Wangen. Ihr Atem ging schneller. Wenn sie sichergehen wollte, ob er es war, musste sie ihm in die Augen sehen. Sie zögerte. Der Anblick erschreckte sie jedes Mal. Tote Augen sahen aus wie vertrocknetes Gelee, in dessen Mitte schwarze Glasperlen versenkt worden waren. Außerdem war sie nicht sicher, ob sich das Lid überhaupt öffnen ließ, ohne es einzureißen. Sie könnte versuchen, mit den Fingern die Wimpern vorsichtig anzuheben. Als sie sich über das Gesicht beugte, bemerkte sie, dass ihre Hand zu zittern begann.

    »Kann ich helfen?«, fragte Wolfi.

    »Ich würde gern die Augenfarbe sehen.« Sie sagte es mit fester Stimme. Zumindest wollte sie, dass sie so klang. Christine hoffte einfach nur, nicht recht zu behalten.

    »Willst du nicht auf die Rechtsmedizin warten?«

    »Eigentlich ja, aber ich glaube, ich kenne den Mann.«

    »Ach egal, was soll’s.« Wolfgang schlüpfte in seine blauen Handschuhe, beugte sich über die Leiche und zog vorsichtig das Lid nach oben. Die Iris war nebelgrau.

    In dem Moment wusste Christine, sie kannte den Mann. In ihren Kopf schossen Bilder, die sie sich in Gedanken hundertmal vor Augen geführt hatte: Ein lauer Abend an einem Frühsommertag. Er hatte vor der Stadthalle in Heidelberg gewartet, ein weißes Hemd mit einer schwarzen Weste. Sie hatten zusammen auf der Empore gesessen und dem Pianisten gelauscht, der auf der Bühne Beethoven spielte. Sie hatte gemerkt, wie sehr er davon ergriffen wurde, und sich mitreißen lassen, auch wenn das sonst gar nicht ihre Musik war. Nach dem Abend hatte es ein paar unschöne Szenen gegeben, und daraufhin hatte er nichts mehr von ihr wissen wollen.

    Christine hatte sich Beethovens letzte Klaviersonate auf CD gekauft und immer wieder angehört. Die perlenden Klänge des Klaviers hatten sie getröstet. Er hatte sie gewarnt, dass man niemanden wirklich kennen könne und jeder letztlich einsam sei. »Andere Menschen erscheinen wie in einem Spiegelkabinett, als Reflektionen in trüben Spiegeln und als Schemen durch verschmierte Scheiben«, hatte er zu ihr gesagt. Es stimmte. Aber er war die Ausnahme gewesen. Der Klavierabend sollte also der erste und zugleich der letzte gewesen sein. Zumindest mit diesem Mann. Sie würde ihn nie mehr fragen können, ob er ihr verziehen hatte. Sie schloss gequält die Augen.

    2

    Tessa

    Es war schön, die Joggingrunde durch den Waldpark nicht allein machen zu müssen, fand Stefan. Schöner war es, dass seine Begleitung eine sportliche blonde Frau war. Sie hieß Tessa Peetz und war Beraterin in einem Softwarehaus. Sie hatte erst vor einigen Tagen begonnen, im Polizeipräsidium das neue Programm für die Vorgangsbearbeitung einzurichten. Stefan hatte mit der IT-Abteilung sonst nur zu tun, wenn er ihre Hilfe bei seinen Ermittlungen brauchte. Aber durch diese neue Beraterin auf Zeit könnte sich das ändern.

    Sie hatte die langen Haare zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, der im Morgenlicht hin und her wippte. Sie waren in flottem Tempo unterwegs, und Stefan kam ins Schwitzen. Als sie das Strandbad am Rhein erreichten, verfielen sie in einen gemütlicheren Trab. Stefan überlegte, wie er ein Gespräch beginnen konnte. Warum hatte sie eigentlich nichts gesagt, seitdem sie losgelaufen waren? Wartete sie auf seine Initiative?

    »Alle Achtung, Sie sind wirklich fit!«, lobte er. »Ich dachte ja immer, Computerleute sind übergewichtig, bärtig und tragen braune Cordhosen und Sandalen«, versuchte er zu scherzen.

    »Und ich dachte, Kriminalkommissare sind überarbeitet, geschieden und haben ein Alkoholproblem«, antwortete sie.

    »Wirklich?«, fragte Stefan.

    »Klar«, sie blickte starr geradeaus und nahm ein paar tiefe Atemzüge. »Es geht doch nichts über gepflegte Vorurteile. Finden Sie, ich sollte mir einen Bart wachsen lassen?«

    Stefan gluckste: »Nein. Sie gefallen mir so, wie Sie sind.«

    »Danke, gleichfalls«, sagte sie lächelnd und setzte zum nächsten Spurt an.

    Das war ziemlich kurz angebunden. Hatte er sie erschreckt? Seine Begleiterin hörte sicher häufiger solche Komplimente. Oder hätte er nicht auf ihren Beruf anspielen sollen? Über was sollten sie dann sprechen? Er wusste ja kaum etwas über sie. Es wäre ihm plump vorgekommen, gleich nach ihrem Privatleben zu fragen. Er war doch sonst nicht so auf den Mund gefallen. Er wunderte sich über sich selbst.

    Er wich einem Fahrrad aus und hatte einige Mühe, wieder aufzuschließen. Als sie langsamer wurden, versuchte Stefan das Gespräch fortzusetzen: »Wie kommen Sie denn voran mit der Installation der Software?«

    »Wenn es nur die Installation wäre«, seufzte sie, »die ist längst erledigt. Die meiste Zeit geht dafür drauf, die Programme an die Kundenwünsche anzupassen.«

    »Haben wir denn so viele Wünsche?«

    »Wenn Sie Ihre Chefs und die IT-Abteilung fragen, werden die sagen, dass sie gar nichts Besonderes wollen. Allerdings stellt sich heraus, dass es jede Menge Spezialitäten in den Prozessabläufen gibt, auf die man nicht verzichten möchte. Und die muss ich dann einbauen. Behörden sind da schlimmer als Privatunternehmen.«

    Aha, die Polizei war also ein ganz schlimmer Kunde. »Wir haben uns auch an mehr Gesetze und Vorschriften zu halten«, entgegnete er.

    »Gesetze und Vorschriften sind nicht das Problem. Die kennen wir vorher und können sie programmieren. Doch es gibt Ermessensspielräume und interne Abläufe, die sich etabliert haben.«

    Sie stolperte über eine aufragende Baumwurzel, fing sich aber sofort, bevor Stefan ihr einen Arm hinstrecken konnte.

    »Mist«, fluchte sie. »Wo waren wir?«

    Stefan dachte nach und wiederholte: »Es gibt interne Abläufe.«

    »Ach genau«, fiel es Tessa ein. »Die internen Abläufe kennen wir vorher nicht und müssen sie im Projekt herausfinden und umsetzen. Kaum ein Kunde ist in der Lage, das während der Softwareeinführung zu überdenken und zu modernisieren. Man ist ja mit der neuen Software schon genug beschäftigt.«

    »Hört sich an, als hätten Sie einen harten Job.«

    Auf ihrer Stirn zeigte sich eine kleine Falte. »Mag sein, wahrscheinlich aber nicht härter als Ihrer.«

    »Wenn man’s leicht haben will, bewirbt man sich auch nicht bei der Kriminalpolizei«, sagte er.

    »Die Welt ist nicht ideal und komplizierter, als man denkt«, fuhr sie fort. »Oder haben Sie schon einen Fall ganz genauso gelöst, wie Sie es gelernt haben?«

    Stefan überlegte kurz: »Doch, es gibt auch unkomplizierte Fälle. Männer neigen bekanntlich dazu, die Dinge einfacher zu sehen, als sie sind.«

    »Was soll das denn heißen?«, fragte sie spitz. »Dass Frauen immer alles kompliziert machen?«

    »Die Informatik ist schließlich ein kompliziertes Geschäft, oder?«, versuchte sich Stefan zu retten.

    »Und warum habe ich deutlich mehr Kollegen als Kolleginnen?«

    »Genau aus dem Grund?«, riet Stefan. »Weil Männer das Einfache im Komplizierten sehen?«

    Sie

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