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Insight of Souls - Schatten & Karneol: Band 2 der Low Urban Romantasy mit ägyptischer Mythologie
Insight of Souls - Schatten & Karneol: Band 2 der Low Urban Romantasy mit ägyptischer Mythologie
Insight of Souls - Schatten & Karneol: Band 2 der Low Urban Romantasy mit ägyptischer Mythologie
eBook505 Seiten6 Stunden

Insight of Souls - Schatten & Karneol: Band 2 der Low Urban Romantasy mit ägyptischer Mythologie

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Über dieses E-Book

»Er wird Dunkelheit und Chaos über diese Welt bringen. Er ist derjenige, der das Licht der Götter auslöschen wird.«

Mit der Wahrheit bricht das wackelige Gerüst von Casseys und Nicolas' Beziehung in sich zusammen. Der Schock, sich in den Feind verliebt zu haben, sitzt tief – die Wut noch tiefer. Doch den beiden bleibt nicht viel Zeit, um sich mit ihren Gefühlen auseinanderzusetzen. Eine Gruppe Shemayu und ihr mysteriöser Anführer bedrohen das Leben aller Nesweru – und derer, die sich ihm in den Weg stellen ….
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum5. Apr. 2024
ISBN9783989470019
Insight of Souls - Schatten & Karneol: Band 2 der Low Urban Romantasy mit ägyptischer Mythologie

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    Buchvorschau

    Insight of Souls - Schatten & Karneol - Silvia Andermann

    InsightSouls_2.jpg

    Copyright 2024 by

    Dunkelstern Verlag GbR

    Lindenhof 1

    76698 Ubstadt-Weiher

    http://www.dunkelstern-verlag.de

    E-Mail: info@dunkelstern-verlag.de

    Covergestaltung: Fabula Design

    ISBN: 978-3-98947-001-9

    Alle Rechte vorbehalten

    Für die Verlorenen und die Wiedergefundenen.

    Für diejenigen unter euch,

    die sich auf ihrem Weg verirrt haben.

    Auf dass ihr erkennt, was wirklich zählt.

    Inhalt

    TRIGGERWARNUNG

    Kapitel 1 - Cassey

    Kapitel 2 - Nicolas

    Kapitel 3 - Cassey

    Kapitel 4 - Nicolas

    Kapitel 5 - Cassey

    Kapitel 6 - Cassey

    Kapitel 7 - Nicolas

    Kapitel 8 - Cassey

    Kapitel 9 - Cassey

    Kapitel 10 - Cassey

    Kapitel 11 - Cassey

    Kapitel 12 - Nicolas

    Kapitel 13 - Nicolas

    Kapitel 14 - Cassey

    Kapitel 15 - Cassey

    Kapitel 16 - Nicolas

    Kapitel 17 - Nicolas

    Kapitel 18 - Nicolas

    Kapitel 19 - Cassey

    Kapitel 20 - Nicolas

    Kapitel 21 - Cassey

    Kapitel 22 - Nicolas

    Kapitel 23 - Cassey

    Kapitel 24 - Nicolas

    Kapitel 25 - Cassey

    Kapitel 26 - Cassey

    Kapitel 27 - Nicolas

    Kapitel 28 - Nicolas

    Kapitel 29 - Cassey

    Kapitel 30 - Nicolas

    Kapitel 31 - Cassey

    Kapitel 32 - Cassey

    Kapitel 33- Nicolas

    Kapitel 34 - Cassey

    Kapitel 35- Nicolas

    Kapitel 36- Cassey

    Kapitel 37- Cassey

    DANKSAGUNG

    Triggerwarnung:

    TRIGGERWARNUNG

    Liebe Leser:innen, dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Falls ihr denkt, ihr könntet betroffen sein, findet ihr am Ende des Buchs eine ausführliche Liste. Wir wünschen uns für euch ein angenehmes Leseerlebnis.

    Michelle, Silvia & der Dunkelstern Verlag

    Kapitel 1 - Cassey

    Scheinwerfer und Blaulicht durchbrechen die dunkelste Nacht, die ich je in New York City erlebt habe. Die Pfützen unter meinen Füßen glitzern blau-rot und spiegeln den Rettungswagen, auf dessen Tritt ich sitze, wider. Ein schwarzer Schatten inmitten dieses Farbenspiels – meine Silhouette.

    Hinter mir im Wageninneren wird Natalie behandelt. Die Sanitäterin spricht leise mit ihr, gibt Anweisungen und fragt sie nach ihrem Befinden, während Natalie nur wenige Worte über ihre Lippen zwingt. Immer wieder kommt ein Sanitäter oder ein Polizist vorbei, um irgendwelche Dinge zu klären, denen ich keine Beachtung schenke. Schnelle Schritte stampfen und knirschen über den nassen Asphalt. Tragen werden gerollt, Anweisungen hallen über die abgesperrte Straße, Stimmen wandern wie ein Summen zwischen den Wagen und Menschen hindurch.

    Ich starre auf die knisternde Rettungsdecke, die mir aufgezwungen wurde. Sie bedeckt größtenteils die blauen Flecken, Schürfwunden, Schnitte, Stiche und Brandwunden. Alles darüber hinaus kann die Sanitäterin nicht versorgen. Die angegriffenen Organe, die Vergiftung, welche sich schleichend bemerkbar macht. Die gepeinigte Seele – von den psychischen Angriffen der Shemayu, nachdem die Offenbarung von Nicolas und Grayson unsere mentalen Mauern erschüttert hat.

    In mir wohnt eine Leere, die nahezu alle Geräusche an mir abperlen lässt.

    Plötzlich tauchen nackte Füße neben mir auf. Einem Automatismus folgend springe ich auf, die Schmerzen meines Körpers ignorierend, und drehe mich zu Natalie um. Ich biete ihr meine Hand an, um ihr aus dem Wagen zu helfen.

    »Lassen Sie mich das machen«, ertönt neben mir die Stimme der Polizistin, die wir im Auditorium bereits kennengelernt haben. Sie streckt Natalie ihre Hände entgegen und stützt sie, sodass ich meine wieder zurückziehen und mich setzen kann.

    Ächzend lässt sich meine Schwester neben mir nieder. Im nächsten Moment wird auch ihr eine Rettungsdecke um die Schultern gelegt. Das Gold lässt ihre Haut nicht mehr ganz so blass wirken, hebt ihre Verletzungen im Gesicht aber umso mehr hervor. Ein Nahtpflaster am Haaransatz, eines an der Wange, ein blau unterlaufenes Auge, eine geplatzte Lippe. Die Nase hat aufgehört zu bluten.

    Ich frage gar nicht erst, wie es ihr geht, denn ich kenne die Antwort bereits. Die Polizistin hingegen zögert nicht und wendet sich mit einem mitfühlenden Blick an uns beide: »Geht … geht es Ihnen soweit gut?«

    »Gut genug, um Fragen zu beantworten«, murmle ich und löse meinen Blick von Natalie, die ausdruckslos in die Ferne starrt. »Das ist es doch, was Sie wollen. Wir lassen uns verarzten, fahren mit aufs Revier und sagen Ihnen, was Sie wissen möchten.«

    »Es würde uns selbstverständlich sehr helfen, da Sie beide bis zum Schluss mitten im Geschehen waren«, erklärt sie und strafft die Schultern. »Aber uns ist natürlich auch wichtig, dass Sie in der Verfassung dazu sind.«

    Nein, sind wir nicht. Natürlich nicht! Wie blöd kann man sein?

    »Wir bringen es lieber jetzt hinter uns«, entgegne ich, denn in den nächsten Tagen werden unsere Verletzungen doppelt so schnell abheilen, wie es für einen Menschen normal wäre. Also beuge ich mich zu unseren Schuhen herab und nehme sie in die Hand. Meine Füße schmerzen zu sehr, sind zu geschwollen, um jetzt wieder in High Heels gezwängt zu werden.

    Die Polizistin mustert unsere vom Kampf gezeichneten Kleider. »Auf dem Revier gibt es Wechselkleidung, wenn Sie …«

    »Nicht nötig«, würge ich sie ab. »Können wir dann?«

    Nach kurzem Zögern nickt sie. Ich wende mich Natalie zu. Sie ist wie zur Statue erstarrt, das Gesicht glatt und ausdruckslos. Das Einzige, was sich bewegt, sind ihre losen Haarsträhnen in der leichten Brise.

    »Nat?«, frage ich eine Spur sanfter. »Natalie?«

    Sie blinzelt. Dann dreht sie den Kopf. Nur kurz begegnen ihre Augen meinen, dann sehen sie durch mich hindurch. Ich nehme ihre Hand und führe sie bis zum Einsatzwagen, wo wir auf der Rückbank Platz nehmen. Die Rettungsdecke knistert, das Lederpolster knarrt, die Tür knallt zu. Und mit einem Schlag kehrt Stille ein. Eine Stille, die mich unruhig macht, weil sie mir verdeutlicht, wie laut es in meinem Inneren ist. Das Chaos in mir schreit, aber ich verschließe es in einer Kapsel, die ich erst zu gegebener Zeit wieder öffne.

    ***

    Die Rettungsdecke gegen eine fremde Fleecejacke getauscht, sitze ich – immer noch barfuß – mitten im Getümmel der Polizeiwache. Die vielen Geräusche verschwimmen zu einem einzigen Rauschen und Surren. Mein Kopf glüht und zugleich erbeben meine Gliedmaßen vor Kälte.

    Zitternd sitze ich auf einem unbequemen Stuhl – vielleicht wäre gerade aber auch einfach alles unbequem wegen meiner Verletzungen – neben einem der Schreibtische und warte auf den Detective, der meine Aussage aufnehmen soll. In meinem Schoß halte ich einen Plastikbecher fest. Mein Blick haftet an den vielen kleinen Luftbläschen in meiner Cola.

    In Gedanken gehe ich das Gespräch von Natalie und mir im Wagen durch – natürlich auf Russisch, damit die Polizistin nichts verstehen konnte. Wir überlegten uns, was wir zu möglichen Beobachtungen sagen sollten, wie zum Beispiel, dass Menschen ohne Berührung zu Boden befördert wurden oder in einem goldenen Licht, das von uns ausging, verbrannten. Das Licht könnte eine Reflexion der Saalbeleuchtung im Schmuck gewesen sein, die Verletzungen ohne Berührung lediglich Einbildung unter Stress, weil alles viel zu schnell ging. Die Verbrennungen der Wirte sind etwas schwieriger zu beantworten. Man könnte auf elektrische Gerätschaften spekulieren, die von den Tätern benutzt wurden. Dass sie von innen heraus verbrannt sind, wird die Polizei erst nach einer Autopsie wissen können.

    »Cassey. Seren. Alexandrowna. Krylowa«, vernehme ich eine männliche Stimme, die meinen Namen sagt, als wäre ich eine alte Freundin – oder Erzfeindin.

    Im nächsten Moment schlendert ein junger Mann an mir vorbei und lässt eine Akte auf seinen Schreibtisch fallen. »Wie passend, dass Sie hier sitzen.«

    Sein gekünsteltes Grinsen wird von einem dunklen, gepflegten Bart und groben, aber schönen Gesichtszügen umspielt. Das weiße Hemd spannt unter seinem muskulösen Oberkörper. Darüber trägt er ein Waffenholster aus braunem Leder. Dem Schild auf seiner Brust kann ich den Namen Mubarak entnehmen.

    Ich runzle die Stirn und beobachte, wie er sich in seinen Stuhl sinken lässt. »Wie soll ich das bitte verstehen?«, frage ich und muss mich räuspern, weil meine Stimme so kläglich klingt.

    Er schlägt die Akte auf. Anschließend faltet er die Hände gemütlich vor sich und sieht mich mit einem schadenfrohen Funkeln in den grünen Augen an. »Wie geht es Ihnen?«, übergeht er meine Frage, als wäre ich nicht wegen meiner Aussage zum Attentat hier, sondern zu einem Plausch. Wie ... geschmacklos in Anbetracht der aktuellen Situation. Er bleibt mir jedenfalls eine Antwort schuldig.

    »Wie würde es Ihnen denn an meiner Stelle gehen?«, entgegne ich in der Hoffnung, dass er mir mit solch dämlichen Fragen fernbleibt. Andererseits ... woher soll er schon wissen, wie es mir geht? Er kann diese Last gar nicht erahnen, die auf meinen Schultern liegt. Ich war verantwortlich für all diese Menschen. So viele von ihnen sind gestorben und ich kenne wahrscheinlich bloß die Dunkelziffer.

    Auch ein Nesweru hat heute sein Leben gelassen. Hunter Greenwood, der Zwillingsbruder von Ron. Er konnte gerade noch einen Hilferuf aussenden, ehe er Blut spuckte und zusammenbrach. Dank ihm traf Charles Greenwood nahezu gleichzeitig mit der Polizei ein, um bei der Verfolgung der flüchtigen Shemayu zu helfen. Ron kam an, als wir bereits im Einsatzfahrzeug saßen. Ich möchte mir sein Leid nicht vorstellen.

    Ich sollte Wut spüren. Brodelnden Hass, der die Dunkelheit in mir weckt und mich diese Arschlöcher jagen lässt.

    Aber gerade bin ich einfach zu erschöpft. Müde, ausgelaugt, und allmählich macht sich auch die kleine Dosis Gift bemerkbar, die mir ein Samu’shemayu per Hautkontakt verpasst hat. Ich friere, mein Ruhepuls ist viel zu hoch und mir ist leicht schwummrig. Noch ein Grund, weshalb ich keine Geduld für derlei Fragen habe.

    Insgeheim hoffe ich, dass Papa endlich aufkreuzt und uns hier rausbugsieren kann. Wir haben ihn vor gut einer halben Stunde kontaktiert, also müsste er bald da sein – hoffentlich mit Gegengift in der Tasche.

    Detective Mubarak tut meine Gegenfrage lediglich mit einem gebrummten »Hm« ab und fordert mich anschließend auf: »Erzählen Sie mir vom heutigen Abend.« Seine Augen begegnen meinen – ich habe bei ihm kein gutes Gefühl. Aber nicht das Shemayu-Gefühl, sondern das Ertappt-Gefühl. »Wieso waren Sie am Ort des Attentats?«

    Ich blicke an meinem Kleid herab, und als ich wieder zu ihm aufsehe, kontere ich: »Na, gekellnert habe ich nicht. Ich war auf dem Maskenball der NYU, der Uni, an der ich studiere. Als Gast.«

    »Waren Sie in Begleitung?«

    Ein Bild von Nicolas blitzt vor meinem inneren Auge auf. Zum ersten Mal seit dem Moment, in dem ich seine schwarzen Augen gesehen habe, regt sich etwas in meiner Brust. Mein Herz krampft sich zusammen. Und es verhärtet, ehe es Blut spucken kann.

    Noch immer will ich mir einreden, dass die schwarzen Augen nur Einbildung waren; eine Fantasie meiner gestressten Gedanken in einer unüberschaubaren Situation.

    Wenn das hier vorbei ist, wartet er bereits vor dem Präsidium auf mich. Ein besorgter Ausdruck in den grün-blauen Augen und ein erleichtertes Lächeln auf den Lippen. Ich werde in seine Arme fallen und diesen Abend für nur einen Moment vergessen.

    Aber mein Unterbewusstsein kennt die Wahrheit. Und es verschließt sich vor den Gefühlen, die von dieser Erkenntnis ausgelöst werden. Es verschließt sich davor zuzugeben, dass es jemals ein Wir mit Nicolas gab.

    Mein Blick huscht prüfend zu Natalie, die ein paar Tische weiter ebenfalls befragt wird. »Ich war mit meiner Schwester dort.«

    »Sie studiert auch an der NYU?«

    »Ja.«

    Er fragt mich nach unserer Ankunftszeit, meinen Eindrücken und Gefühlen gegenüber anderen Gästen, ob ich getanzt habe, mit wem ich getanzt habe, ob ich Alkohol getrunken habe, bis er zu der entscheidenden Frage kommt, die er vermutlich von Beginn an stellen wollte: »Ist Ihnen im Laufe des Abends irgendetwas aufgefallen? Etwas, das Ihnen merkwürdig erschien?«

    Abgesehen davon, dass ich scheinbar einen normalen Abend hatte? »Da war ein Typ, der mich gestalkt hat, aber sonst ...«

    Endlich eine Regung. Er runzelt die Stirn. »Ein Stalker?«

    »Er schien mir ständig zu folgen und hat mich ununterbrochen angestarrt.«

    »Haben Sie etwas unternommen?«

    »Nein.« Leider.

    »Wieso nicht?«, hakt er nach und betrachtet mich dabei wachsam. »Ich halte Sie nicht für ... besonders zurückhaltend.«

    Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Ach ja? Was lässt Sie das vermuten?«

    »Ich habe meine Gründe.«

    Der lässt sich auch echt alles aus der Nase ziehen.

    »Und klären Sie mich auch noch über diese Gründe auf, Detective?«

    »Alles zu seiner Zeit. Beantworten Sie meine Frage.«

    »Es war nicht einfach, etwas zu unternehmen, wenn er immer direkt in der Menschenmenge untergetaucht ist.«

    »Oder«, setzt er an und legt eine dramatische Pause ein, wobei er sich vorbeugt. »Sie wollten gar nichts unternehmen.«

    Ich runzle die Stirn und warte darauf, dass er weiterspricht.

    Statt mir seine Unterstellung zu erklären, fragt er: »Wo waren Sie, als das Attentat startete?«

    Wieder erwischt mich ein Flashback.

    »Du bist ein Blödmann«, murmle ich leise und schluchze.

    »Kann ich mit leben«, grinst Nicolas und kommt meinem Gesicht näher. Er zieht mich enger an sich. Ich schlinge die Arme um seinen Nacken und wir sehen einander tief in die Augen.

    Die Gäste im Ballsaal beginnen, von zehn abwärtszuzählen. Ich hole Luft, um etwas zu sagen, da beugt Nicolas sich vor, um mich zu küssen.

    Ich räuspere mich und schüttle die Erinnerung von mir.

    »Wo soll ich schon gewesen sein? Auf dem Ball eben.«

    Seine Augen verengen sich flüchtig. »Eine Quelle hat behauptet, Sie seien im Technikraum neben dem Podium gewesen.«

    Welche Quelle? Nicolas? Ist er hier irgendwo?

    Ich halte mich zurück, nach ihm Ausschau zu halten. Aber er wird nicht hier sein. Grayson hat ihn gepackt und sie sind geflohen, während ich wie paralysiert war.

    »Tja, dann steht wohl Aussage gegen Aussage«, kontere ich so ruhig wie möglich und nehme einen Schluck Cola. Es befeuchtet die Wüste in meiner Kehle.

    »Hm. Man könnte denken, dass Sie sich dort versteckt haben, weil Sie ganz genau wussten, was passieren würde. Dass Sie nichts gegen den Stalker unternommen haben, weil Sie wussten, dass er Teil davon ist.«

    Meine Augenbrauen wandern gen Haaransatz und ich blinzle. »Wie bitte?«

    Er neigt den Kopf leicht zur Seite wie eine Schlange. »Die Frage ist bloß, ob aus Angst oder um nicht mit reingezogen zu werden.«

    Ich brauche einen Augenblick, um zu realisieren, was hier vor sich geht. »Versuchen Sie etwa gerade allen Ernstes, mich in die Täterrolle zu stecken?«, frage ich eine Oktave höher. »Das sind reine Spekulationen. Sie haben keine Beweise.«

    Gleich darauf spüre ich, wie sich mein Puls beschleunigt und mir das Atmen schwer macht. Stress verteilt das Gift schneller.

    Beruhig dich, Cass. Du kriegst das gewuppt, auch in diesem Zustand.

    Mubarak mustert mein Gesicht wie durch ein Allsehendes Auge. »Ich habe Gründe zu meiner Annahme.«

    »Welche denn? Ich habe gegen die Angreifenden gekämpft, falls Ihnen das entgangen ist. Sie haben mich übel zugerichtet und trotzdem sitze ich hier und mache meine Aussage – gegen diese Gruppe Arschlöcher.«

    »Ein Wolf im Schafspelz«, entgegnet er schlicht.

    »Bodenlose Unterstellung«, spucke ich.

    »Bodenlos?«, wiederholt er unberührt und lehnt sich zurück. »Keineswegs, Miss Krylowa.«

    Der Detective eröffnet seine sogenannte Beweislage gegen mich:

    1. Fälle von Menschenverbrennungen und Vermissten folgen mir wie eine Ameisenspur in jeden Bundesstaat, in dem ich mich aufhalte.

    2. Kalifornien, Arizona, Oklahoma, Georgia … Ein Umzug nach dem anderen in den letzten zehn Jahren. Meine ständigen Umzüge wirken wie eine Flucht vor der Polizei.

    3. Es wurden Zeugenaussagen aufgenommen, in denen ich als eine auffallend laute und zur Gewalt neigende Frau beschrieben werde, und zudem angeblich im Umkreis einer Straftat gesichtet wurde.

    4. Eine Kameraaufnahme von einer Straße und einem gegenüberliegenden Gebäude in Manhattan. Natalie und ich sind darauf zu sehen, wie wir Violet Jones ins Wohngebäude folgen – das war kurz nach unserem Umzug hierher. Seitdem gilt sie als vermisst. Ab hier wird auch Natalie verdächtigt.

    5. Hinzu kommt der Fall mit Terrence, als ich ihn in der Bar scheinbar grundlos angefallen habe. Zwar hat dieser seine Anzeige wegen Körperverletzung zurückgezogen, sie wurde jedoch trotzdem in den Akten vermerkt. Kurz nachdem er das Krankenhaus verlassen hatte, ist er in der Nähe tot aufgefunden worden – von innen verbrannt. Als hätte ich meine Tat so vollendet.

    Der Detective legt mir Fotos von verbrannten Leichen vor und beobachtet meine Reaktion. Jeder normale Mensch wäre von diesem Anblick vermutlich abgeschreckt, würde sich abwenden oder gar übergeben. Aber ich habe leider schon so viele verbrannte Körper gesehen, dass sie mich nicht schocken – und das macht mich auffällig.

    Es wäre jedoch ein Leichtes für mich, das auf die heutigen Ereignisse und ein Trauma zu schieben. Selbst an einem Abend habe ich zu viel Gewalt und Tod gesehen.

    Im Endeffekt könnte ich all diese Beweise mit einer guten Mischung aus Wahrheit und Lügen zunichtemachen.

    1. Diese Fälle gab es auch schon zuvor und sie gibt es überall auf der Welt – ich kann mich wohl kaum teleportieren.

    2. Ich war ein Problemkind. Schule war ein schwieriges Thema. Und unser Vater bekam immer wieder neue Jobangebote. Alles zusammen hat dazu geführt, dass wir weitergezogen sind, in der Hoffnung, dass es sich im nächsten Städtchen bessert. Ich wollte eigentlich nur zurück in meine Heimat.

    3. Die Beschreibungen passen auch zu anderen Frauen. Solange keine handfesten Beweise vorliegen, die auf meine Identität schließen lassen, gilt dieser Vorwurf als haltlos.

    4. Bei Violet könnte ich einfach vorgeben, dass sie mir das Portemonnaie geklaut hat, und als ich es mir zurückholen wollte, ist mir meine Schwester lediglich gefolgt. Dass Violet seitdem vermisst wird, hat nichts mit mir zu tun. Immerhin wurde sie – wie man auf den Aufnahmen höchstwahrscheinlich auch sehen wird – eine ganze Weile später von Sanitätern abgeholt. Sie hatte vielleicht einen Kreislaufzusammenbruch.

    5. Als Detective wird er wissen, dass ich einen guten Grund hatte, Terrence anzugreifen. Er wird wissen, dass ich wegen ihm vor ein paar Jahren fast gestorben wäre. Dass Terrence danach tot aufgefunden wurde, würde ich als Karma bezeichnen, denn es gibt keine Beweise, die auf uns zurückzuführen sind.

    Abgesehen davon könnte ich all das auch auf Terrence schieben. Behaupten, dass er mir alles anhängen wollte, aber selbst dafür verantwortlich war. Dass er mich deswegen nicht anzeigen wollte. Dass die Morde und Vermisstenanzeigen auch nach seinem Tod kein Ende nehmen, weil er einer Sekte oder so angehört hat.

    Aber ich erkenne den Ernst der Lage und nehme daher von meinem Recht zu Schweigen und einer Anwältin – natürlich eine unseres Vertrauens – Gebrauch, auch wenn es Mubarak in seinen Anschuldigungen bestärkt. Denn ich weiß nicht, ob mir in dem Zustand etwas über die Lippen rutschen könnte. Es bräuchte nur ein einziges falsches Wort und das ganze Kartenhaus würde in sich zusammenfallen.

    »Wenn Sie also nicht weiter mit meinem Schweigen vorliebnehmen wollen, stellen Sie mir nur noch Fragen zum Attentat auf den Ball, oder ich gehe«, schließe ich mit gerecktem Kinn.

    Widerwillig kehrt er zum eigentlichen Thema zurück und arbeitet missmutig eine Frage nach der anderen ab. Wie vermutet sind Fragen dabei wie: Könnten Sie die Angreifer identifizieren? Was war das für ein Licht, das ein paar Gäste gesehen haben? Was sagen Sie zu den Behauptungen, die Angreifenden hätten Menschen teilweise ohne Berührung verletzt?

    Gerade als die letzte Frage beantwortet ist, taucht eine Hand auf meiner Schulter auf. Ich drehe ruckartig den Kopf, wobei es schmerzhaft in meinem Nacken zieht.

    »Haben Sie dann all Ihre Antworten, Detective?«, fragt mein Vater mit dieser Stimme, die keine Widerrede duldet. »Ich denke, meine Töchter haben nach den ganzen Strapazen endlich Ruhe verdient.«

    Detective Mubarak räuspert sich, steht auf und strafft die Schultern – was für ein lächerlicher Versuch, meinem Vater gegenüber Autorität auszudrücken. »Es tut mir leid, aber ich denke, wir müssen sie noch etwas hierbehalten.«

    Papa würdigt mich keines Blickes. »Haben Sie denn noch nicht genug?«

    »Es liegt ... ein Verdacht gegen sie vor, den ...«

    »Den Sie nicht beweisen können, wenn wir mal ehrlich sind«, unterbreche ich ihn und erhebe mich.

    Mir schießt das Blut wie bei Ring the Bell rasant in den Kopf. Meine Sicht verschwimmt. Plötzlich ist es für den Bruchteil einer Sekunde schwarz um mich herum. Ich spüre, wie sich ein Arm um meine Taille legt und etwas Nasses meine Zehen berührt.

    Blinzelnd sehe ich zu meinem Becher am Boden hinab. Dann zum Detective, der mich skeptisch beäugt, und letztlich zu meinem Vater. Sein Gesichtsausdruck ist mir schleierhaft.

    »Sie bleibt definitiv nicht hier«, bestimmt Papa. »Sprechen Sie mit ihrer Anwältin.«

    »In Ordnung«, entgegnet der Detective und verschränkt die Arme vor der Brust. »Bis die Sache geklärt ist, dürfen Sie den Staat New York nicht verlassen, Miss Krylowa. Sollten Sie das tun, machen Sie sich eines Verbrechens strafbar.«

    »Werden wir ja sehen«, kontere ich und löse mich aus Papas überraschend sanftem Griff, um aufzustehen.

    »Unsere Anwältin wird sich bei Ihnen melden«, sagt Papa, ehe auch er sich abwendet.

    Seite an Seite gehen wir zwischen den Schreibtischen hindurch auf ein gläsernes Bürozimmer zu, biegen rechts ab und steuern den Flur an. »Natalie wartet vorne«, lässt er mich wissen, die Stimme hart und klar wie ein Diamant.

    »Hast du das Gegengift dabei?«

    »Noch besser: Cheyenne Greenwood ist da. Sie wartet draußen mit dem Mittel auf euch.«

    Ich nicke und betrete schweigend den Gang. Als ich aus der Jacke schlüpfe, erblicke ich Natalie auf einem der Stühle an der Wand. Ihr Blick ist auf ihre Hände gerichtet, die ruhig in ihrem Schoß liegen, statt gedankenverloren mit den Haarspitzen zu zwirbeln. Sie ist wie in einer Schockstarre gefangen. Tränen hat sie noch nicht vergossen. Das kommt erst später. Und dann werde ich da sein, um sie aufzufangen.

    Kapitel 2 - Nicolas

    Ich fühle mich elend, als ich aus dem Mustang steige und mich strecke. Wir sind zu alt, um die Nacht im Auto zu verbringen. Und wenn ich ehrlich bin, habe ich keine Sekunde geschlafen. Casseys entsetzter Ausdruck hängt mir immer noch nach.

    Als wir ein Diner in der Nähe der Brooklyn Bridge betreten, spiele ich mit dem Gedanken, einen Irish Coffee zu bestellen. Ich will vergessen, was vor wenigen Stunden passiert ist. Dass Cassey und Natalie Nesweru sind und Grayson und ich nichts – rein gar nichts – gemerkt haben. Ich fühle mich so unendlich dumm.

    Das Diner ist komplett leer, weil es viel zu früh ist, um wach zu sein. Aber selbst Grayson konnte gegen vier Uhr nicht mehr schlafen. Seine Gedanken schmerzen in meiner Brust, weil ich ihn noch nie so sehr habe leiden hören. Natalies Name fällt häufig und immer wieder werde ich mit Erinnerungen an ihr Lachen und ihre gemeinsame Zeit beschallt. Ich hätte versucht, ihn aufzumuntern oder zu trösten, wenn ich nicht dasselbe empfinden würde wie er.

    Wir setzen uns an einen Tisch in der Ecke und sprechen kein Wort. Das haben wir nicht mehr getan, seit wir beschlossen haben, dass es sicherer ist, die Nacht im Auto zu verbringen und nur Bargeld zu benutzen. Auch wenn wir bisher überaus selten persönlich mit Nesweru Kontakt hatten – zumindest, soweit wir uns zurückerinnern können –, wissen wir, dass sie gerissen und skrupellos sein können. Mein Inneres weigert sich, zu glauben, dass Cassey zu ihnen gehört. Dass sie mich höchstwahrscheinlich umbringen will.

    »Hey, was kann ich euch bringen?«, fragt eine angenehm volle Stimme und als ich den Kopf Richtung Bedienung hebe, fällt ihr das Lächeln aus dem Gesicht.

    Ich erkenne sie sofort wieder. Es ist Tess, die Kellnerin vom Ball. Ihre roten Haare sind noch wie vor ein paar Stunden zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihre schicken Klamotten hat sie gegen eine ausgewaschene Jeans mit Löchern an den Knien, ein graues langärmliges Oberteil und eine kurze hellbraune Lederschürze getauscht. Ihr Namensschild Teresa Johnson gibt mir die Bestätigung, die ich gar nicht gebraucht hätte.

    Unter ihren braunen Augen liegen dunkle Schatten – logisch, wenn man in der Nacht Cocktails zubereitet und dann ab vier Uhr im Diner steht. Verdattert schauen wir uns eine Weile an. Sie ist die Erste von uns, die ihre Sprache wiederfindet: »Na, ihr habt vielleicht Mut, hier aufzukreuzen.«

    »Wowowow«, raunt Grayson, als wir es in ihren Fingerspitzen knistern hören wie bei einem elektrischen Wackelkontakt – ihre Fähigkeit, die sie mir auch schon auf dem Ball demonstriert hat.

    Ich versuche, über ihre Gedanken herauszufinden, wie Tess einzuordnen ist. Eigentlich war sie mir ganz sympathisch, aber wer weiß, ob sie zu den Angreifenden auf dem Ball gehört hat. Ihre Gedanken stolpern, sind durcheinander und geben nichts darüber preis, wie sie eingestellt ist. Also trete ich unauffällig gegen Graysons Fuß und frage ihn stumm, ob er sie einschätzen kann.

    \\Keine Ahnung. Ich habe sie in dem Gewirr nicht gesehen.//

    »Okay, Karten auf den Tisch. Was war das denn bitte für eine Aktion gestern Abend?«, fährt sie uns verurteilend an. Noch immer knistert es verdächtig um sie herum, weshalb wir ihr nichts anhaben können. Zumindest nicht körperlich.

    »Das fragen wir uns auch«, entgegne ich. Meine Stimme klingt abgeschlagen, obwohl ich gerade ein bisschen Konzentration gebrauchen könnte.

    »Klar«, betont Tess spöttisch und verschränkt die Arme vor der Brust. »Was zieht ihr beide für eine kranke Scheiße ab? Auf wessen Seite steht ihr?«

    »Auf gar keiner«, mischt sich Grayson ein und betrachtet Tess prüfend.

    Plötzlich schnellt ihre Hand vor, packt ihn im Nacken und drückt seine linke Gesichtshälfte auf den Tisch. Er verzieht den Mund und kann einen Schmerzenslaut nicht unterdrücken.

    »Hört auf, zu lügen«, zischt sie und gibt ihm eine Stromladung mit.

    »Fuck, was willst du?«, ruft Grayson wütend, nachdem er sich erholt hat. Seine Augen werden urplötzlich schwarz und meine tun es ihnen gleich. Wenn Tess ihre Fähigkeit uns gegenüber anwendet, dann ist es unser gutes Recht, ebenfalls unsere Waffen auszupacken.

    »Nicht euer Ernst«, stöhnt sie und schockt Grayson so sehr, dass er sich nicht auf ihre Gedanken fokussieren kann. Das Schwarz zieht sich wieder in seine Pupillen zurück, aber er blinzelt angestrengt. Dafür höre ich umso besser, was Tess durch den Kopf geht. Nämlich Angst. Ihre fast panischen Überlegungen, ob sie nicht lieber fliehen sollte, weil wir entweder von den Attentätern oder den Nesweru geschickt wurden. Wir waren schließlich gestern Abend noch ganz offensichtlich mit Cassey und Natalie zusammen. Aber das bedeutet für mich, dass Tess selbst nicht zu den Angreifenden gehören kann – dann würde sie nicht an unserer Positionierung zweifeln müssen.

    »Hey, lass ihn los! Wir sagen dir alles, was du wissen willst, okay?«, versuche ich zu deeskalieren.

    Kann dieser Tag eigentlich noch beschissener anfangen?

    »Habt ihr diesen Angriff geplant? Gehört ihr dazu?«, hakt sie nach und hält Graysons Gesicht immer noch auf die Tischplatte gedrückt.

    »Nein und nein«, nuschelt dieser und versucht, ihren Arm wegzuschlagen, wofür sie ihm noch einen Stromstoß versetzt.

    »Dann gehört ihr zu den Nesweru?«

    »Ganz sicher nicht«, knurrt Grayson.

    »Was ist mit dir?«, frage ich und ihr Blick schießt zurück zu mir.

    »Ich gehöre zu niemandem«, bestätigt sie meine Vermutung. Ihr Tonfall ist bissig, wenn auch nicht so eiskalt, wie es Casseys Stimme manchmal sein kann. »Ich habe da einfach nur gekellnert und auf einmal sind alle ausgerastet.«

    »Ach, das glaubst du doch selbst nicht«, wendet Grayson ein und versucht, nach ihr zu treten. Wieder zuckt er von ihren Stromschlägen zusammen und ich hoffe, dass sie ihm keinen Herzstillstand verpasst.

    »Wieso sollten wir dir das glauben?«, hake ich nach.

    »Mir doch scheißegal, was du glaubst. Auffällig war, dass ich gerade dich nicht entdecken konnte, als es losging«, faucht Tess und greift flink mit der anderen Hand in mein Genick, um mich in dieselbe Lage wie Grayson zu befördern. Dieser stöhnt: »Er hat mit seiner Ex, die gestern noch seine Freundin war, im Materialraum rumgemacht. Jetzt lass mich los, du …«

    »Vorsicht. Ich bin nur einen Stromstoß von eurem Tod entfernt«, flüstert Tess bedrohlich. »Es ist schon schlimm genug, dass ihr ernsthaft zwei Nesweru benutzt habt, um euren kranken Plan durchzuführen – was auch immer euch dieses Attentat gebracht hat.«

    Grayson und ich reden zeitgleich auf sie ein, dass wir nichts mit dem Attentat zu tun hatten und Cassey und Natalie auch nicht benutzt haben. Allein der Gedanke daran schmerzt in meiner Brust. Und dass Cassey diese Annahme auch haben könnte, kommt mir erst jetzt.

    »Sicher. Ihr könnt mir nicht erzählen, dass ihr ernsthaft mit Nesweru zusammen wart. Das war doch alles nur Show, um …«

    »Um was?«, unterbreche ich sie. »Tess, ich schwöre, wir wussten nicht, was da abgehen sollte. Und wir wussten nicht, dass die beiden …«

    »Nesweru sind«, beendet Grayson den Satz, den ich nicht aussprechen kann.

    »Sicher«, wiederholt sie und lacht gehässig. Als wir beide nicht darauf eingehen, hält sie inne. »Ihr meint das ernst?«

    »Ja«, stöhnen Grayson und ich wie aus einem Mund.

    »Ihr verarscht mich nicht?«

    »Nein«, entgegnen wir einstimmig.

    »Oh«, macht Tess erneut und scheint kurz zu überlegen. »Das ist … Shit, ihr seht echt voll fertig aus.«

    »Danke«, grummelt Grayson und richtet sich auf, nachdem sie ihren Griff gelockert hat. Ich hingegen bleibe mit dem Kopf auf dem Tisch liegen. Ich kann nicht mehr. Es ergibt alles keinen Sinn.

    Aber Grayson hat noch genug Energie für uns beide. Er steht blitzschnell auf, packt Tess’ Handgelenke über dem Stoff ihrer Ärmel, sodass ihn der Strom nicht erreichen kann, und dreht sie ihr auf den Rücken. »So. Und was hattest du damit zu tun?«

    »Hey, ich habe dir gerade vertraut, du Bastard«, ruft sie wütend.

    »Jeder macht mal Fehler. Jetzt spuck’s aus! Wer hat dieses Attentat geplant? Für wen arbeitest du?«

    »Ich wusste nichts davon!« Sie tritt gegen sein Schienbein. Grayson stöhnt vor Schmerz auf und lässt seine Augen erneut schwarz werden.

    »Gray, warte«, bitte ich kraftlos, ohne mich von der Tischplatte zu erheben. »Sie weiß wirklich nichts. Ihre Gedanken hätten sie doch längst verraten, wenn es so wäre.«

    »Bist du sicher?«

    »Nimm deine Hände von mir«, fordert sie und windet sich aus seinem Griff. Dann bringt sie erst einmal einen Sicherheitsabstand zwischen uns.

    Alle atmen tief durch.

    »Okay. Vielleicht beruhigen wir uns jetzt erst mal wieder«, bemerkt Tess leise nach einigen Sekunden Stille. »Wenn ihr damit nichts zu tun hattet und ich auch nicht, dann sitzen wir schließlich irgendwie im selben Boot. Richtig?«

    Kapitel 3 - Cassey

    Nachdem ich im Keller eine Extrarunde am Boxsack hinter mich gebracht und meine Kondition ausgereizt habe, gehe ich nach oben. Vollgeschwitzt und noch leicht außer Atem trete ich vor die Badezimmertür.

    Gerade als ich anklopfen will, klickt es im Schloss und die Tür öffnet sich. Warme, feuchte Luft schlägt mir entgegen und dreht mir den Magen um.

    Natalie zuckt vor Schreck zusammen und greift instinktiv nach dem weißen Turban auf ihrem Kopf, damit er nicht verrutscht. »Musst du mich immer so erschrecken?«, beschwert sie sich leise und atmet tief durch.

    Sie sieht auf einmal viel frischer aus. Nicht nur wegen des Trainings und der anschließenden Dusche, sondern so, als würde es ihr tatsächlich wieder etwas besser gehen. Die dunklen Schatten unter ihren Augen und die Müdigkeit sind aus ihrem Gesicht verschwunden. Es ist nicht mehr von den vielen Tränen aufgedunsen, die sie in den vergangenen Nächten vergossen hat.

    Ihr herzzerreißendes Weinen hat meine eigenen Schmerzen auf ein Minimum schrumpfen lassen. Mir war es wichtiger, sie zu trösten, als mich selbst wieder aufzubauen. Also war ich stillschweigend für sie da, habe sie mit Essen versorgt und ihr zugehört. War ihre starke Schulter – wie immer.

    An nur zwei Tagen durchlief sie verschiedenste Emotionen in ihrer Trauerbewältigung und in gewisser Weise litt ich im Stillen mit ihr. Verstand erst nicht, wieso es mich treffen musste, verfluchte dann die Götter und war schließlich nur noch sauer auf mich.

    »Was kann ich dafür, dass du so schreckhaft bist, Schwesterherz?«, entgegne ich und deute an ihr vorbei ins Badezimmer. »Fertig?«

    »Ja, du kannst«, antwortet sie und zupft ihren roséfarbenen Kimono aus Seide zurecht, ehe sie sich an mir vorbeizwängt. »Vergiss nicht, danach das Fenster aufzumachen.«

    Ich verdrehe die Augen. Ohne zu antworten schließe ich die Tür hinter mir. Dann trete ich ans Waschbecken und blicke in den beschlagenen Spiegel. Erkenne nur Umrisse. Frage mich, was Natalie in meinem Gesicht sieht.

    Also wische ich das Kondenswasser fort und stütze mich am Beckenrand ab. Ich sehe ein verzerrtes Gesicht. Gerötet vom Sport. Babyhärchen, die sich aus dem strengen Zopf gelöst haben. Aber vor allem sehe ich Ernsthaftigkeit. Das Lachen ist mir seit dem Ball vergangen – uns beiden.

    Noch immer könnte ich mich selbst dafür ohrfeigen, mich nur auf das Amulett verlassen zu haben. Mir wäre nie in den Sinn gekommen, dass es einmal nicht funktionieren würde; dass Ra mich derart im Stich lassen würde. Aber abgesehen davon frage ich mich auch immer wieder aufs Neue, wie ich nicht merken konnte, dass sie Shemayu sind. Bei den Göttern, ich habe so viel Zeit mit Nicolas verbracht. Ich war ihm so nah und doch so blind. Blind vor … Liebe.

    Aber ist es nicht so, dass wir die Löcher in unseren Herzen mit Lügen füllen, damit sie aufhören zu bluten? Mein Herz war zerschunden und daher habe ich die Lüge nicht erkannt, als sie direkt vor mir stand. Als sie mich berührte, mich küsste und mir sagte, dass sie mir nie wehtun würde.

    Ich habe mich noch nie so dumm gefühlt, war aber auch noch nie so rasend vor Wut. Das alles war nur ein Spiel. Er hat mich entblößt, mich ausspioniert, mir Honig ums Maul geschmiert und mir Lügen verkauft, um mich zu schwächen. Keine Ahnung, welchen Zweck er damit verfolgte, wenn er mir nie etwas getan hat. Aber vielleicht hat sich sein Plan auch einfach geändert, als der Angriff auf dem Ball dazwischenkam.

    Nur dem Boxsack vertraue ich meine Emotionen an, ehe ich sie wieder dorthin verfrachte, wo sie eigentlich hingehören – in die verstaubte Abstellkammer meiner Seele. Mag sein, dass es für Leute wie Natalie funktioniert, sich mit den eigenen Gefühlen auseinanderzusetzen. Aber für mich nicht.

    Wenn ich jetzt daran denke, mich in Nicolas verliebt zu haben, fliegen mir nicht mehr allerlei schöne Erinnerungen durch den Kopf. Dann sind die einzigen Gefühle, die mich ausfüllen, nicht mehr Trauer und Schmerz, sondern Ekel und Wut.

    ***

    Gerade als ich meine schwarze Lederjacke überziehe, kommt meine Schwester aus der Küche und dreht einen angeknabberten Apfel zwischen ihren Fingern. »Hast du die Nachricht von Charlotte gesehen?«

    Ich halte mitten in der Bewegung inne. Beim Verlassen der Polizeistation hat Papa bereits Charles’ Schwester Charlotte Greenwood angerufen, damit sie sich um meinen Fall kümmert. Alle uns bekannten Greenwoods haben durch IT, Medizin und Jura Berufe erlernt, die ihnen als Nesweru nützlich sind. Vielleicht sollte ich mein Studium schmeißen und zur Polizeischule gehen.

    Aber nein, von einer Nachricht weiß ich nichts.

    Natalie lehnt sich seufzend gegen den Türrahmen. »Das Verfahren wurde eingestellt. Detective Mubarak soll ziemlich … sauer gewesen sein. Vielleicht solltest du also in nächster Zeit weniger … auffällig sein, Cass.«

    Augenrollend wende ich mich ab und schlüpfe in meine Bikerstiefel. »Ich bin so unauffällig wie es die Shemayu zulassen, Nat.«

    »Leider wahr«, murmelt sie.

    Kurzes Schweigen. Dann nehme ich meine Schlüssel aus der Schublade der Kommode und bitte sie: »Sag Papa, er soll uns die Liste aller Studierenden, Dozierenden und Angestellten, die auf dem Ball anwesend waren, schicken, wenn sie fertig ist.«

    Natalie folgt mir zum Hauseingang. »Und was, wenn die Shemayu nicht von der Uni sind? Wie Begleitungen zum Beispiel. Oder Aushilfen.«

    Ich öffne die Tür. »Dann … checken wir eben die Begleitpersonen und alle Aushilfen, Natty. Und danach gilt es, die Überwachungskameras der Umgebung zu durchforsten. Ansonsten suchen wir aktiv nach Shemayu, sei es vom Ball oder nicht – völlig egal –, statt das Schicksal entscheiden zu lassen.« Ich drehe mich zu ihr um und lege meine Hände auf ihre Schultern. »Wir werden uns jeden Einzelnen von ihnen vorknöpfen. Und nachdem wir einen Shemayu nach dem anderen vernichtet haben, werden wir uns um sie kümmern, okay?«

    Einen kurzen Moment verkrampft sie und ihr Blick füllt sich mit Schmerz. Ich wusste von Tag eins, dass Grayson sie irgendwann verletzen würde, und dafür wird er bitter büßen. Aber erst, nachdem wir uns die mit dem Symbol gezeichneten Shemayu vorgeknöpft haben. Wir müssen den Ameisen bis zu

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