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Weißer Mann, was nun?
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Weißer Mann, was nun?
eBook553 Seiten7 Stunden

Weißer Mann, was nun?

Von A. A.

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Über dieses E-Book

Die psychische Entwicklung zweier Männer, die dem Wahnsinn verfallen. Obwohl sie aus nahezu identischen Familienstrukturen und sozialen Hintergründen stammen, ziehen minimale Unterschiede in ihrem Lebenslauf charakterliche Entwicklungen nach sich, die beide Männer auf vollkommen verschiedene Pfade für ihr weiteres Leben setzen. Getrieben von Talent und Talentlosigkeit, Anspruch und Wirklichkeit, Ehrgeiz und Isolation, werden sie zunehmend auf sich selbst zurückgeworfen und verfallen nach und nach ihrem eigenen, ganz privaten Wahnsinn. In einem Land, das sich im Zuge der Flüchtlingskrise geradezu lüstern in Untergangsphantasien und Extremismen steigert und ein entgrenzter Kapitalismus keinen Halt mehr gibt, jenseits des steten Konsums von Objekten und Körpern, scheint der optimale Nährboden gegeben, um ihren eigenen, privaten Radikalisierung freien Lauf zu lassen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum11. Jan. 2020
ISBN9783750220362
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    Buchvorschau

    Weißer Mann, was nun? - A. A.

    1Prolog

    Weißer Mann, was nun?

    Wir haben es ihnen gesagt, wieder und wieder. Nicht nur gesagt, sondern ihnen ins Gesicht geschrien, gebrüllt haben wir es. Trotzdem wollte keiner zuhören. Vielleicht konnten sie es auch nicht, vielleicht hatten sie vergessen, wie es ging. Als sie über eine Millionen ins Land ließen, hätte doch jeder klardenkende Deutsche sehen können, dass das Probleme mit sich bringen würde, nur beschlossen sie dennoch die Schleusen zu öffnen und die Flut hineinzulassen, trotz aller Warnungen, trotz gesundem Menschenverstand, trotz der Verpflichtung ihrem Land und ihrem Volk gegenüber. Immerhin haben wir sie gewählt.

    Jetzt können wir zusehen was geschieht. Wachsende Kriminalität, Schlägereien, Frauen und kleine Mädchen werden vergewaltigt, angegriffen, wenn sie nicht die richtige Kleidung tragen, Burka und Terroranschläge.

    Jetzt fangen auch die da oben an, umzudenken. Jetzt hören sie endlich zu. Jetzt, als es vielleicht schon zu spät ist, wenn wir uns all die Probleme ins Land geholt haben.

    Wofür?

    Die Politiker, weil sie in ihrem steuerfinanziertem Luxusleben schon lange nicht mehr mitbekommen, was sich in unserer Realität zuträgt.

    Die Medien, weil sie von den Politikern bezahlt und kontrolliert werden, unterdrückt, wenn es nicht anders geht. Zensur nennt man das auch.

    Die Gutmenschen, die es sich leisten können, ehrenamtlich zu helfen, um sich ein freies Gewissen zu kaufen und auf uns herab blicken zu können, die nicht mit Millionen Einwanderern um die letzten verbliebenen Jobs kämpfen müssen.

    Die Polizei, welche die Wahrheit verschwiegen hat, uns mit gefälschten Statistiken und Berichten erklären belogen hat und zu feige war, gegen den Maulkorb der Politik aufzubegehren.

    Die sogenannten Wissenschaftler, die uns erklären wollten, der Islam habe nichts mit Terrorismus zu tun, selbst wenn der zweite den ersten im Namen trägt.

    Und nicht zuletzt die Linken, die auf der einen Seiten faulenzend den Sozialstaat aussaugen, auf unseren Steuern leben und den Staat, der ihr parasitäres Dasein finanziert, verachten und gezielt in Chaos und Untergang treiben wollen.

    Sie alle waren gegen uns. Sie alle haben gelogen und betrogen und versucht uns unser Land wegzunehmen.

    Dabei haben sie aber nicht mit uns gerechnet. Denn wir werden uns wehren, wir werden uns unser Land zurückholen.

    Wütend schloss sie das Buch. Sie konnte nicht fassen, dass er sich so schäbig verkauft hatte.

    „Das Leben ist eine nicht enden wollende

    Aneinanderreihung von Niederlagen

    und am Ende stirbt man."

    Homer J. Simpson

    2Singing for the Lonely

    Das Schließen der Tür implizierte eine unerwartete Finalität. Mit dem Eintritt in seine Wohnung, dem Aussperren der Welt hinter sich, entspannten sich seine Schultern, die Kälte begann zu weichen, nachdem sie ihn viel zu lange begleitet hatte. Seine Füße waren müde. Erschöpft fiel er auf seinen, mit schwarzem Kunstleder bespannten, Bürostuhl und klappte den Monitor seines Laptops auf. Bleiches Licht empfing seine Netzhaut, sich in seinem Gesicht widerspiegelnd. Während er mit sanftem Summen hochfuhr wandte Simon sich dem großen Fenster zu seiner Rechten zu, durch welches ihm die Nacht nachzublicken schien. Erinnerungen an die letzten Stunden kehrten zurück, an die Party, die Mädchen, den Alkohol. Sein Pullover roch nach Bier, Zigarettenrauch und Enttäuschung. Das Fenster spiegelte sein ausdrucksloses Gesicht wieder, welches er langsam abzutasten begann, als wäre es ein ihm fremdes Objekt.

    Seine Wohnung war klein, etwas mehr als zwanzig Quadratmeter, inklusive Dusche und kleiner Kochnische, bestehend aus einem kleinen Herd und dazugehöriger Platte. Ein einziges großes Fenster, vom Boden bis zur Decke, war die einzige nicht-elektrische Lichtquelle. Die Lampe über seinem Kopf war zu dunkel, sodass jede Nacht seine Augen schmerzten, wenn er stundenlang auf den Monitor starrte.

    Das sich im Fenster spiegelnde Gesicht lächelte nicht zurück.

    Mit routinierten Fingerbewegungen öffnete er verschiedene Internetseiten und begann im Rhythmus der sich ineinander windenden Körper zu masturbieren, mit keuchenden Lustschreien im kopfhörerbesetzten Ohr. Zu spät fiel ihm ein, die Jalousie zu schließen, aber wahrscheinlich hatte die Nacht ihn ohnehin vor neugierigen Blicken geschützt. Den klebrigen Samen fing er in einem bereits dreckigen T-Shirt auf, welches er sich über die Brust gelegt hatte, starrte für einige Sekunden auf die stillstehenden, silbernen Flüsse, bevor er es zerknüllte und unter seinen Schreibtisch warf.

    Leise rauschend fuhr die Jalousie herab, die Dunkelheit aus seinem kaum erhellten Raum sperrend.

    Er fühlte sich besser, irgendwie aber auch nicht.

    Seine Blicke suchten die Uhr an seinem Laptop. Nicht mehr lange, dann müsste er wieder im Büro sitzen, für weitere acht, neun Stunden, vielleicht ein wenig länger, falls er zu langsam arbeitete, oder sein Chef ihm zusätzliche Aufgaben zuteilte, oder er einfach vermeiden wollte, nach Hause in seine kleine, leere Wohnung zu kommen. Aus dem Augenwinkel konnte er das Trocknen seiner wertlosen Samen verfolgen. Er musste schlafen gehen, sonst würde er den morgigen Tag nur noch schlimmer durchleben, als ohnehin schon, und gleichzeitig konnte er nicht schlafen gehen, nicht, weil er nicht müde oder erschöpft genug war – das war er ständig – sondern weil er sofort einschlafen würde, um erst aufzuwachen, wenn er zur Arbeit gehen musste. Wieso hatte er diesen Job angenommen? Wieso hatte er dieses Feld studiert? Mit brennenden Augen blickte er auf die noch nicht geschlossene Porno-Seite, überlegend, noch eine weitere Runde zu versuchen, doch fürchtete er, sich danach noch erbärmlicher zu fühlen, als er es ohnehin schon tat. Vielleicht war es besser die Nacht zu beenden, um zumindest dieser zu entkommen.

    Der Laptop lief weiter, der Porno ebenfalls, selbst wenn er ihn kaum mehr beachtete, auch weil sich das Gefühl immer gleicher Wiederholung bereits einzustellen begann, wie es ihm bei den meisten der Filme ging. Mit dem Versuch frische Luft durch das große Fenster ins Zimmer zu lassen, setzte nur eine Kälte ein, mit der er in diesem Herbst noch nicht gerechnet hätte.

    Wieso war er bereits von der Uni gegangen? Natürlich kannte er die Antwort. Die ewige Hoffnung, alles würde mit einem weiteren Lebensabschnitt besser werden. Außerdem hatte er lange genug studiert. Doch wieder saß er nur nutzlos vor seinem Fenster und beobachtete die Nacht, sich dabei vorstellend, was andere, erfolgreichere Männer gerade machten, mit welchen Frauen sie schliefen, wie diese nackt aussahen. Von diesem Punkt bewegte er sich schnell zu Vorstellungen, wie Frauen, die er kannte nackt aussahen, Frauen, die er gerne nackt gesehen hätte, mit denen er manchmal sogar Dates gehabt hatte, die allesamt zu nichts geführt hatten. Oft genug war es nicht einmal dazu gekommen.

    In der Dunkelheit waren nicht einmal mehr die Wolken am Himmel zu erkennen.

    Ohne zu lesen überflog er die Nachrichten, sah Bilder explodierender Autos und Menschen und Häuser, auf Spiegel Online, Focus, der Süddeutschen, auf facebook, alles auf facebook und Videos alter Comedy-Serien die er vor vielen Jahren geliked hatte, die nun Cameos zwischen Ausländerbeschimpfungen und Berichten über islamistischen Terror hatten, sowie hunderten nigerianischer Mädchen, die entführt worden waren. Dazwischen Fotos der Mahlzeiten von Freunden und Bekannten und Unbekannten, Musik und Kunstmagazine, die er vor allem angeklickt hatte, um irgendwie tiefgehend zu wirken, selbst wenn er wusste, dass sich niemand diese Liste jemals ansehen würde. Vielleicht hatte er auch nur sich selbst täuschen wollen.

    Lustlos rieb er seinen schlaffen Schwanz, dessen Aggregatzustand sich nicht ändern wollte, in der Trunkenheit vergessend, dass er eigentlich schlafen sollte. Nachts waren nicht viele Menschen unterwegs, zumindest nicht unter der Woche, da sie alle arbeiteten, da es noch eines der besseren Viertel waren. In anderen Ecken der Stadt, wo die Studenten lebten, zu denen er noch vor kurzem gehört hatte, war es sicher anders. Aber hier war Nacht. Nacht und Stille und irgendwo ein Vollmond, den er nicht sehen konnte und nur noch wenige Stunden, bis sie vorbei war, ihn zurück in den Tag stoßen würde, in die immer kälter werdende Außenwelt, in der sich der Winter bereits abzeichnete, mit sterbenden Insekten und Spinnen, die verzweifelt versuchen würden, in das Innere seiner Wohnung zu kommen, um zumindest noch diesen Winter zu überleben. Er hatte Angst vor Spinnen, er hasste den Herbst, war froh, wenn sie in der darauffolgenden Jahreszeit endlich tot waren, selbst wenn er davor noch dutzende von ihnen mit einem Buch erschlagen würde müssen.

    Eine seiner nächtlichen Ängste war es, aufzuwachen und eine große, schwarze Spinne würde auf seinem Körper sitzen. Sie würde nichts machen, nur auf ihn warten, mit ihren Beißwerkzeugen, den acht Beinen und Augen. Sie würde nicht einmal giftig sein, aber es würde ihn trotzdem umbringen. Und wer weiß, vielleicht würde sie sogar giftig sein, vielleicht würde sie ihn tatsächlich umbringen und das hier alles beenden. Angeblich sorgte der Klimawandel dafür, dass mehrere giftige Arten aus Südeuropa bereits in Deutschland gesichtet worden waren. Angeblich gab es bereits vereinzelt Schwarze Witwen im Süden des Landes.

    Der Porno war zu Ende, Samen perlten über den nackten, bebenden Körper auf der Matratze, der so tat als wäre er zu schwach und erschöpft, um sich aufzurichten, zerstört von dem knappen Dutzend Schwänze, die sie über eine Stunde bearbeitet hatten. Bebend atmete der Körper schwer weiter, das Weiten und Zusammenziehen der Lungen unhörbar, da er die Kopfhörer abgelegt hatte. Ein kurzer Abspann trat ein, dann kurz Schwärze, gefolgt von neuen Vorschlägen, die er uninteressiert überflog, da ihm das Model nicht allzu sehr gefallen hatte.

    Mit dem roten X schloss er die Seite, zurück zu den Nachrichten, zurück zu seinem Mailpostfach, zurück zu facebook, zu Nachrichten, die er noch an Mädchen schreiben wollte. Nachrichten, die entweder nicht beantwortet wurden oder zu offensichtlich ausweichend. Zurück zu der Frage, ob er die Demütigung auf sich nehmen sollte, nachzuhaken und seine Verzweiflung für einen Moment blicken zu lassen. Sinn- und ziellos klickte er sich von Seite zu Seite, von Nachricht zu Nachricht, durch einen ewig währenden Monotoniestrom an Informationen und scheinbaren Informationen, Videos, Musik und trank nebenbei billigen Rotwein aus einer Netto-Flasche, die er sich nachmittags gekauft hatte, ahnend, dass er daheim, egal wie betrunken er zurückkam, damit nicht würde aufhören könnte. Ein Euro und neunundsechzig Cent. Der Trick war es, billigen Rotwein aus Südafrika. Südamerika oder Australien zu kaufen, weil die Anbaufelder größer waren, als in Europa und sie sich deswegen auf akzeptable Massenware konzentrierten, wogegen die Europäer sich auf geringere Mengen mit hoher Qualität und Preisen festgelegt hatten. Billiger Rotwein aus Frankreich würde ihn am nächsten Tag regelmäßig heimlich in die Toilette seiner Arbeitsstelle kotzen lassen, da es sich nur um Ausschussware handelte. Es wäre nicht das erste Mal, aber nach dem letzten Mal hatte er sich geschworen, es würde sich von nun an nicht mehr wiederholen. Es war lächerlich. Formulierte er diesen Gedanken für sich selbst aus, klang es wie der jämmerliche Versuch, Kontrolle über sein Leben auszuüben.

    Der trockene Rotwein, aus Chile, war in Ordnung, würde ihn morgen nicht vollkommen verkatert aufwachen lassen, selbst wenn es ihm nicht gut gehen würde. Doch das würde es ja sowieso nicht, von daher war es ganz praktisch, es auf den nächtlichen Alkoholkonsum zu schieben, womit er zumindest eine Form von Begründung für sich selber hatte, über die er nicht lange würde räsonieren müssen.

    Im Gang hörte er Stimmen, zwei Frauen, vielleicht jung, wahrscheinlich sogar, wenn man die Uhrzeit in Betracht zog. Sie klangen, als könnten sie gut aussehen und er war betrunken genug, um tatsächlich die Tür aufzumachen und nach ihnen zu sehen. Vielleicht brauchten sie ja Gesellschaft, oder – was zumindest ein wenig wahrscheinlicher war – sie waren beide ebenfalls betrunken und würden den billigen Nettowein für einen Euro und neunundsechzig Cent willkommen heißen.

    Die Rollen seines Bürostuhls knirschten über den falschen Parkettboden. Sein Ohr legte sich an die Tür, um herauszufinden, wo sie sich genau befanden und ob vielleicht ein anderer Mann mit dabei war, was nicht der Fall zu sein schien. Seine Hand legte sich auf die Türklinke, bereit sie herab zu pressen, ohne es zu tun, auf der Suche nach Worten, die nicht kamen, bis eine Tür sich schloss und die Stimmen versiegten. Auf seinem Laptop begann der Porno, den er geglaubt hatte, geschlossen zu haben, erneut von vorne. Er öffnete die Tür, doch niemand war da, niemand zu hören. Er schloss sie wieder und rollte zurück. Ohne vollständig aufzustehen, ließ er sich auf sein Bett fallen, halb angezogen, die Bettdecke über seinen erschöpften Körper ziehend.

    Während er einschlief versuchte er seinen Herzschlag auszumachen.

    3Zeit zu leben und Zeit zu sterben

    Pünktlich wie immer erschien er auf der Arbeit, sich wundernd, ob jemandem eine Abweichung aufgefallen wäre. Nickende Begrüßungen namenloser Gesichter, ein wenig Lächeln, vielleicht falsch, vielleicht nicht. Ein Eckbüro in einem der ausgelagerten Räume des Rathauses. Sein Computer, seit Kurzem mit Windows 10 ausgerüstet, ohne, dass ihm irgendwelche Unterschiede aufgefallen wären. Keine Bilder an seinem Arbeitsplatz. Eine einzelne Topfpflanze, die ihre saftig grünen Blätter verzweifelt in Richtung Fenster streckte, selbst wenn derzeit keine Sonne sichtbar war. Ohne diesem Fenster hätte er seinen Job wahrscheinlich schon lange gekündigt, sagte er sich regelmäßig, ohne es wirklich zu glauben. Der Stapel auf seinem Schreibtisch war seit dem gestrigen Feierabend gewachsen, und stetig gewachsen, seit er vor einem halben Jahr dort angefangen hatte. Was zunächst Freude über die schnelle Übernahme in einem Job gewesen war, hatte sich schnell in der Monotonie des Arbeitstages, sowie des Lebens selbst aufgelöst. Mit schwarzem Kaffee an seiner Seite begann er zu arbeiten. Langsam und kaum bemerkbar, da es ohnehin immer dieselbe Tätigkeit war, dieselben Schritte, mit jedem Fall, den er bearbeitete. Der Kaffee schmeckte gut, besser, als es zu seiner Stimmung passte, oder zu diesem Büro.

    Vom dritte Stock aus konnte er vorbei wehende Menschengestalten verfolgen, wie sie sich über einen großen Platz schoben, der vor vielen Jahren, oder eher Jahrzehnten, einmal ein Marktplatz gewesen sein mochte, nur mittlerweile jede Bedeutung verloren hatte. Ihm gefiel diesen Ausblick, auch weil er ihre Gesichter nicht erkannte, sie mehr wie Schemen denn Menschen wahrnahm. Es war leichter, sie auf diese Distanz zu ertragen. Weitere Zahlen wanderten in die Excel-Tabelle, Wasser in den Topf seiner Pflanze, der einzigen, die er sich traute zur Arbeit zu nehmen. Gerne hätte er mehr gehabt, auch weil in seiner Wohnung nicht ausreichend Platz war für mehr als zwei oder drei. Mehr würden seltsam wirken, wenn er doch einmal Besuch haben sollte, so unwahrscheinlich es auch sein mochte. Widerwillig musste er an die beiden Frauen – oder vielleicht noch Mädchen? - der gestrigen Nacht denken, worauf sein Kater wieder etwas zunahm, bei dem Gedanke an den doch eher schlechten Wein und dem Bier, welches er zuvor mit Arbeitskollegen getrunken hatte und vielleicht diese Nacht erneut auf ihn wartete. Ob sich ihm aber wieder diese Chance mit den Mädchen bieten würde, war eine andere Frage. Sein Kopf schmerzte leicht und sein Blickfeld verzog sich, wann immer er ihn zu fokussieren suchte. Vielleicht sollte er diese Nacht nicht trinken, was um neun Uhr morgens realistisch genug schien, doch wusste er, in den Stunden vor dem Feierabend würde er mit jeder verschwindenden Minute die Aussicht weniger ertragen können, alleine und nüchtern in seiner Wohnung zu sitzen und zu warten, bis er einschlief, nur um einen weiteren Tag von vorne zu beginnen.

    Er holte sich eine neue Tasse Kaffee, surfte im Internet, facebook, Mails, nichts Neues, ging zurück zu den Fällen und bearbeitete sie weiter, schneller, als es erwartet wurde oder angebracht war. Es ihn keineswegs überrascht, überqualifiziert für diesen Job zu sein. Er hatte immerhin einen Master-Abschluss, selbst wenn ihm dieser keine bessere Anstellung eingebracht hatte. Und irgendwie musste er Geld verdienen.

    Unterbewusst hatte er wieder seine kleine Liste an Namen auf einen Notizzettel geschrieben, fein säuberlich, einem heiligen Ritual nicht unähnlich.

    Der Blick auf die Uhr ließ die Mittagspause in unwägbare Ferne rücken, was zumindest der Appetitlosigkeit und dem Kater entgegenkam. Es folgte die dritte Tasse Kaffee. Irgendwo hatte er gelesen, dass die Gefahr einer Leberzierrose um ungefähr fünfzig Prozent sank, wenn man vier Tassen am Tag trank. Auch eine vierte Tasse würde er im Laufe des Nachmittags auf sich nehmen, selbst wenn sein Magen rebellieren würde. Manchmal fragte er sich, warum er überhaupt so alt werden wollte. Dabei kannte er die Antwort eigentlich, sprach sie nur nicht aus, nicht einmal in Gedanken, zu groß war seine Angst.

    Schemen streiften durch die Gänge, um die Eckbüros herum, getrennt durch Styropor und billiges Aluminium in welches sie sich viel zu schmerzlos einfügten, mit ihren wenigen privaten Habseligkeiten, den Fotos ihrer Kinder, oder Neffen, von Ehepartner und Müttern und Vätern, ein paar Pflanzen, meist gut gegossen, das Foto eines Hundes, manche so leer, als ob sie bereits darauf warteten, ersetzt zu werden und spurlos zu verschwinden. Ein Kalender war das einzige, halbwegs als privat durchgehende Gegenstand neben seiner Topfpflanze, und die vielen kleinen zerknüllten Zettel in seiner Schreibtischschublade, die er weder wegschmeißen, noch sie offen liegen lassen konnte, aus Furcht, man könnte sie lesen.

    Zeit verfließt in immer gleichen Strömen, sie kommen einem nur manchmal schneller vor. Doch im Endeffekt sind sie nur Prozesse, wie die seines Büros, die man absitzt und auf das Ende wartet, bevor ein neuer Zyklus des immer Gleichen beginnt und tatsächlich konnte er gegen dreizehn Uhr schon nicht mehr sagen, was er getan hatte, außer vielleicht drei immer gleichen Handbewegungen, die sich weiter wiederholten. Das kalte Klackern der Tastatur unter gefühllosen Fingerspitzen, die schon nicht mehr zu seiner Hand passen wollten. Als würden ihre eigenen Bewegungen sie von ihm wegtragen. Zeit ist nicht relativ. Sie ist eine konstante Größe, die einen unaufhörlich zum Ende treibt.

    Irgendwann mussten Mittagspausen auch Pausen gewesen sein. Anscheinend war es früher üblich gewesen, gemeinsam in ein Restaurant zu gehen, anstatt nur in die Cafeteria des Gebäudes, in welchem man arbeitete, um Wegzeit zu sparen. So saßen sie wieder zusammen, einige von ihnen, in ihren Business Anzügen, die alle irgendwie zu klein oder zu groß oder sonst wie falsch wirkten.

    „Und, wie lang ging es noch bei euch?"

    „Nicht mehr so lange. Wann bist du denn gegangen?"

    „Bin mir nicht sicher. Ich denke, so gegen eins. Halb zwei war ich daheim."

    „Dann waren wir noch bis zwei, halb drei dort. Oder?"

    „Ja, ich denke schon."

    „Irgendwas Besonderes verpasst?"

    „Was meinst du?"

    „Keine Ahnung. Irgendwas."

    „Nein, ich glaube nicht. Noch ein oder zwei Runden. Simon hat sich übergeben."

    „Einen Scheiß hab ich."

    „Ja, du bist zur Toilette gerannt, weil du dein Workout nachholen wolltest."

    „Du kannst mich mal." Und bald war die Pause vorbei und sie waren zurück an ihren Arbeitsplätzen, eingegliedert in das stete Hintergrundrauschen verschwommener Stimmen, Tastaturklappern, dem wütenden Rauschen der Kaffeemaschine und gelegentlichem Klingeln von Telefonen.

    4Goldene Tage

    Wenn er versuchte zurückzurechnen, hatte er mit mehr als einhundert Mädchen geschlafen, bevor er fünfundzwanzig Jahre alt wurde und bisher hatte sich Grund abgezeichnet, den Verbrauch zu verringern, selbst wenn seine frühere Quelle mit dem Ende seiner glückreichen, aber talentlosen Band ein Ende gefunden hatte. Doch er war ein kreativer Mensch und seine Umorientierung zum Schriftsteller hatte dies nicht nur halbwegs kompensiert, sondern ihn mit Anfang dreißig zu einer gut aussehenden Version dessen verwandelt, was manche gerne einen public intellectual nannten. Selbst wenn er sich in stillen Stunden, nach mehreren Flaschen Wein eingestehen musste, selbst nicht zu verstehen, wie es dazu gekommen war oder wie jemand so naiv sein konnte, seinen Kommentaren diesen Wert zuzugestehen. Oft genug war es ihm nicht mehr nachvollziehbar, woher eigentlich das Geld auf seinem Konto kam, mit welcher Handlung und welcher Rechtfertigung er es eigentlich verdient hatte. Reich würde er sich vielleicht nicht nennen, jedoch war immer mehr als genug Geld vorhanden, um seinen gehobenen Lebensstil finanzieren zu können.

    Vor kurzem hatte er wieder einen Artikel für eine Zeitung geschrieben, in welchem er sich über die fehlende Bedeutsamkeit des öffentlichen Intellektuellen ausgelassen hatte, den mittlerweile so viele forderten, aber niemand gewillt war, zuzuhören. Was er damit sagen wollte, war ihm selbst nur vage einsichtig. Dennoch schrieb er den Artikel, kassierte das Geld, gab es aus für teuren Rotwein und noch teureres Koks, von dem er das meiste noch am selben Abend und der darauffolgenden Nacht verschnupfte, mit seiner Freundin im Bett und einer Prostituierten, die er zu Handlungen überzeugte, welche erstere dazu brachte, nicht mehr seine Freundin zu sein und die zweite zu einer größeren Bezahlung, weil sie ihm mit einem ominösen Jim drohte, auf dessen Aufmerksamkeit er verzichten konnte. Also kaufte er sich aus dem Problem heraus. Es war so einfach, wie so vieles im Leben.

    Seine letzte Flasche Rotwein hatte weit über fünfhundert Euro gekostet, was in Anbetracht ihres Geschmacks vollkommen vernünftig gewesen war, hätte er nicht die Hälfte aus Versehen in seinen Teppich sickern lassen, als er auf dem Glastisch eingeschlafen war. Der Stuhl neben seinem Kopf war von David Lynch entworfen und angeblich, zumindest erzählte man es sich, handgefertigt. Gerne hätte er ihn kennengelernt. Doch in Amerika kannte ihn niemand und David hatte sich dagegen entschieden, den Teufelsberg als Euro-Zentrale für seine Meditationssekte zu kaufen. Eines seiner ersten Konzerte hatte Nico auf diesem Hügel aufgeführt, bevor auch dieser zu einem Konsumort geworden war, und es gab Gespräche, dass sich die Band dort wieder einfinden sollte, für ein letztes Konzert. Doch darüber wurde schon lange diskutiert und nichts geschah.

    Sein Blick lag auf der Gitarre, auf welcher sich bereits Staub angesammelt hatte. Sein Apartment war verwüstet, ein paar Betrunkene lagen auf dem Boden, auf seiner Couch, nackte und halbnackte Frauen, auch Männer, alle objektiv gutaussehend und er versuchte sich zu erinnern, welche er kannte und mit welchen er geschlafen hatte und auf welche beides zutreffen mochte. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie spät oder früh es war. Manche der Körper schienen nicht oder kaum zu atmen, teilweise übereinandergestapelt, während dem Ficken zusammengebrochen, teilweise vollgekotzt, Blut aus wunden Nasen tropfend, zerbrochenes Glas gefolgt von blutverschmierten Fußabdrücken, die sich in den Weiten seiner Räume verloren. Teilweise steckten ihre Körper noch ineinander, als würden sie selbst noch im Schlaf weiter vögeln wollen. Das Knirschen von Splittern unter seinen Hausschuhen in der Hoffnung, sie würden sich nicht durcharbeiten, zu sehr in Apathie versunken, um sicher zu gehen, oder sie auch nur abzustreifen. Vielleicht waren es seine Fußabdrücke auf dem Boden.

    Er konnte nichts spüren, aber was sagte das schon?

    5Winter fühlt sich anders an

    Als die ersten Schüsse fielen onanierte er zu Erinnerungen an eine Minderjährige, wenn auch unkonzentriert und unstetig. Nebenbei war er zufällig bei Spiegel Online zeitnah auf die entsprechende Eilmeldung gestoßen. Von seinem Schwanz ablassend – was in dieser Nacht ohnehin ein aussichtsloses Unterfangen zu sein schien – verfolgte er nun die Geschehnisse im Live-Ticker verschiedener nationaler und internationaler Nachrichtenformate. In einer Mischung aus Interesse am Geschehen und Langeweile wandte er den Großteil der folgenden Stunden für das Aktualisieren der entsprechenden Seiten auf. Beginnend bei der BBC, über den Telegraph, den Tagesspiegel, SPON bis zu CNN. Nicht, dass die Berichte sich in irgendeiner signifikanten Weise unterschieden hätten – selbst Russia Today bewegte sich erstaunlich nahe am Mainstream der Berichterstattung – außer in den Schätzungen der Anzahl der Toten, wobei die Russen natürlich die Spitzenposition einnahm und somit sein größtes Interesse weckte. CNN folgte kurz darauf, aufgrund einer marginal höheren Frequenz an Informationen, die oft genug keine waren. Sprach RT sofort von mindestens hundert Toten im Bataclan, waren andere Schätzungen konservativer und letztlich korrekter, auf Kosten von Christians Sinn für Dramatik.

    Seinem Magen ging es immer noch nicht gut, wobei er mittlerweile anfing, es auf seine Nervosität – oder Adrenalin – bezüglich der Meldungen zu schieben und dabei wieder anfing zu trinken. Es war der gleiche Wein vom Vorabend und es fiel ihm schwer sich zu erinnern, wann er diesen gekauft hatte. Blassgelbes Licht lag auf seinem leeren Schreibtisch, den Inhalt der Flasche unangenehm kränklich wirken lassend.

    Eine Nachricht folgte der nächsten, immer wieder unterbrochen von Bildern, die in ihrer scheinbaren Dramatik vor allem von ihrem fehlendem Inhalt ablenken sollten. Blaulichter, Streifenwagen, bewaffnete Polizisten, bewaffnete Soldaten, Blut auf den Straßen, umgeworfene Stühle, Glasscherben auf herbstlichem Asphalt. Alles dramatisch, brutal, wie im Film, einer guten Netflixserie. Zahlen, Details, Schätzungen, die immer wieder genannt wurden, dramaturgisch gewinnbringend eingesetzt und wiederverwertet, mit Hinweisen auf Charlie Hebdo, sodass man sich unwillkürlich fragen musste, ob nicht das Ganze nur eine Medienerfindung gewesen sein könnte, die am nächsten Tage natürlich aufgeklärt werden würde, aber kurzfristig das Freitagabend Programm interessanter gestalten konnte. Es war die mit Spannung erwartete zweite Staffel. Andererseits lief zur selben Zeit ein Fußballspiel, also schien es entweder unrealistisch oder jemand hatte sich mit dem Timing vertan. Dennoch, egal was es war, Christian konnte dankbar sein, denn die Stunden verstrichen schneller und schienen eine Abart von Sinn zu entfalten, und sei es durch das schale Gefühl, zumindest passiv am Weltgeschehen teilzuhaben, an etwas schwer definierbar Bedeutendem. Eine schwarze Spinne rannte langbeinig, immer wieder stockend über die Tischplatte, ungelenkig geschickt ihre viel zu zahlreichen Beine aneinander vorbei schiebend, den kleinen Kugelkörper hinterher ziehend, nur die Andeutung eines Kokons im vergrößernden Schatten der dimmen Lichts projizierend. Wieder wurde die Zahl der Toten erhört. Kurz überlegte er ein Bier aus dem Kühlschrank zu nehmen, blieb dann aber bei Rotwein. Es schien dem Anlass mehr zu entsprechen, auch wenn er sich wünschte, besseren gekauft zu haben.

    Eine Band war wohl involviert. Angels of Death Metal. Woher kannte er den Namen? Irgendwo hatte er ihn schon einmal vernommen, entweder auf irgendeiner Internetseite oder von Freunden, durch Zufall, da er sich recht sicher war, nie einen Song von ihnen gehört zu haben, zumindest nicht bewusst. Ob sie die Nacht überlebt hatten, ob sie sie überleben würden? Hatte man sie direkt als Ziel ausgewählt? Es wären immerhin prominente Opfer, was dem Ganzen einen nahezu klischeehaften Anstrich verlieh. Als würde aus einem glaubhaften Thriller ein mittelmäßiges B-Movie. Eine Geiselnahme, mit einer schwer zu schätzenden Menge an Opfern, die sich aber sicherlich im dreistelligen Bereich befinden mussten, so wurde zumindest berichtet. Noch ungezählte Opfer in verschiedenen Cafés und Bars auf einem großen Boulevard, auf dem immer noch geschossen wurde. Erste Bilder von Leichen, aus der Entfernung, Blutlachen, oder ähnliches, was schwer auszumachen war – aber was sollte es sonst sein? Im Blut der Opfer reflektierte sich das Licht der Einsatzwagen. Sondereinsatzkommandos seien vor Ort, die ersten Attentäter erschossen. Verknüpfungen zu ähnlichen Anschlägen in Russland wurden bemüht. Tschetschenen in Moskau und Beslan, als würden sie damit in Zusammenhang stehen können, oder als würde sich noch jemand daran erinnern.

    Eine Facebook-Nachricht machte sich mit dem neuen Signalgeräusch bemerkbar, an welches er sich immer noch nicht gewöhnen konnte. Eine ehemalige Kommilitonin fragte in einer alten Gruppe, ob es einem anderen ehemaligen Kommilitonen gut gehe, der derzeit wohl in Paris sei. Normalerweise hätte Christian instinktiv die Nachricht weg geklickt, nicht nur weil nicht gewusst hatte, dass es diese Gruppe noch gab, geschweige denn, dass besagter Kommilitone in Paris sei. Vielleicht arbeitete dieser sogar dort, was er zu verdrängen versuchte und augenblicklich Neid aufkam. Für einen Moment wollte er ebenfalls seine Besorgnis ausdrücken, tat es dann nicht und wartete.

    Wartete.

    Natürlich würde keine Antwort aus Paris kommen. Wahrscheinlich waren alle Netze zusammengebrochen, weil jeder versuchen würde, irgendwen zu erreichen, sodass am Ende, wie immer, niemand jemanden erreichte. Noch einige Sekunden starrte er reglos auf die leere Zeile, ohne eine Reaktion erzwingen zu können. Was sie wohl gerade machte? Dann öffnete er doch ein Bier und versuchte mit der Aktualisierung sämtlicher Nachrichtenseiten die Gedanken an das Mädchen zu verdrängen, das sich auf so unerwartete Weise zurück in sein Leben geschoben hatte. Die Anzahl der Toten stieg, kalte Luft drang in sein Zimmer. Ein versuchter Bombenanschlag auf das Fußballspiel. Die Wiederholung der Reaktionen des Publikums auf die Detonation bereits zu einem GIF verarbeitet, da niemand in dem Moment ahnte, was es damit auf sich hatte. Und der Rotwein ließ seinen Kater langsam in Vergessenheit geraten, während das Bier ihn wieder wachrief. Der Wind wirkte wärmer, beinahe wie Frühling. Bilder aus Paris zeigten Menschen in T-Shirts und Röcken – wenn auch nicht allzu kurzen – wie sie rannten und weinten und auf die ersten Fragen der Reporter reagierten, während die Stürmung des Bataclan vorbereitet wurde und er sich fragte, ob sie das nicht lieber geheim halten wollten und wie es sein konnte, dass er im November noch so warm war.

    Beinahe hätte man vergessen können, dass es Winter war.

    In den längeren Informationspausen, vor allem bevor sie die Disco stürmten und Berichte der vielen

    Leichen an die Öffentlichkeit drangen, fuhr er fort mit der Erforschung seiner favorisierten Porno-Seiten, abgrasend nach weiteren Filmen seiner Lieblingsmodels. Doch war er auch hier nicht allzu erfolgreich. Bis er einen kurzen Film mit Goldie Rush fand, einem Mädchen, das er erst vor kurzem für sich entdeckt hatte, in dem sie sich an verschiedene Maschinen fesseln ließ, die sie bearbeiteten bis ihr Körper vor Schweiß glänzte. Doch hatte er nur Zugriff auf den etwa sechzig Sekunden langen Clip und dann kamen auch schon die ersten Berichte aus dem Bataclan, welche ihn die nächsten Minuten beschäftigt hielten, während sich das Bier seinem Ende näherte und bereits schal schmeckte. Die Vorstellung, etwas Großes zu erleben schwebte über allem, etwas Bedeutendes, an dem er teilnahm, wie seine Kindheitserinnerungen an 9/11, selbst wenn er zwischendurch immer wieder zu Pornos schaltete. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Berichte von Leichenbergen ins Netz gelangten, bis Videos von weiteren fliehenden Studenten erschienen. Noch immer hatten sie nichts von ihrem ehemaligen Kommilitonen gehört, während mehr und mehr Berichte aus dem Club kamen, sowie Videos junger Menschen, die aus Fenstern kletterten und stürzten. Zwischen dem steten Live-Ticker Strom schoben sich immer wieder Werbeanzeigen, für Versicherungen, für Autos, als ob er sich eines leisten könnte. So viel zur künstlichen Intelligenz und der Macht der Algorithmen, dachte er und holte ein weiteres Bier. Als er aufstand schwankte er leicht und stolperte über ein am Boden liegendes Buches, versuchte es aufzuheben und stolperte erneut nach vorne, entschied sich dann dagegen und beschränkte sich auf das nächste Bier. Die Kühle tat gut. Wenn er sich die Flasche an die Stirn hielt hörten für ein paar Sekunden die leichten, aber latenten Kopfschmerzen auf. Seine Augen brannten jedes Mal, wenn die Lider sich kurz schlossen. Als würden sie in seine Hornhaut schneiden. Bei jeder kleinen Zuckung, jedem Blinzeln. Unter der dünnen Haut lauerten Rasiermesser. Die Nacht war schon deutlich vorangeschritten, doch zumindest stand das Wochenende bevor.

    Mittlerweile gingen alle Berichterstatter davon aus, dass am Fußballstadion – dessen Namen er schon wieder vergessen hatte und zu betrunken war, um nachzusehen – tatsächlich ein Bombenanschlag durchgeführt werden sollte und wohl auch auf jemanden geschossen worden war. Oder war das überhaupt eine neue Information? Wahrscheinlich hatten die Terroristen erfolglos versucht, in das Stadion einzudringen. Wieso sollten sie sich sonst auf einem fast leeren Parkplatz in die Luft sprengen? Er versuchte sich vorzustellen, was dann geschehen wäre. Explosionsblitze, panische Menschenmassen, die sich gegenseitig niedertrampelten, eine vollkommen neue Dynamik, welche die Nacht vor sich hergetrieben hätte. Doch war er in diesen Sekunden gedanklich zunehmend auf das Mädchen fixiert. Überlappende Geschehensstrukturen vermischten sich mit Rotwein und billigem Bier, welches nicht richtig kalt war, obwohl es den ganzen Tag im Kühlschrank gestanden hatten, und laute Stimmen vor seinem Fenster, die nicht richtig dazugehören wollten.

    Mit nervösen Blicken suchte er ihren Namen. Sie hatte wieder Kontakt aufgenommen, wenn auch nicht direkt zu ihm. So suchte er den Chat ab, in dessen Verlauf sich weitere ehemalige Kommilitonen gemeldet hatten, die alle keine Ahnung hatten, was mit ihrem Bekannten in Paris sei. Er ignorierte sie alle. Sarah, nur nach ihr suchte er. Und natürlich erinnerte er sich an sie, selbst wenn es einige Sekunden dauerte, bis es ihm klar wurde. Schrecklich, was da gerade passiert... Und natürlich hatte er sie nie vergessen, nur erfolgreich vermieden, an sie zu denken, bestrebt, keine alten Geistern zu wecken, sich nicht mehr zu bestrafen, als er ohnehin schon gestraft war. So wartete er, bis Facebook anzeigte, dass seine Nachricht gelesen wurde. Lange musste er nicht warten, nur ein paar Aktualisierungen der Nachrichtenlage, die außer ein paar verschwommenen Bildern mit Blut, verwüsteten Cafés und Blaulichtern nichts ergaben. Leergefegte Straßen an einem Freitagabend in Paris. So müsste der Tod aussehen. Vor seinem Fenster hörte er Stimmen, betrunkene Männer, oder vor allem Männer, ein wenig aggressiv, keine Schritte. Sehen konnte er sie genauso wenig, wie ihre Sprache verstehen. Vielleicht lag es an der Distanz, oder am Echo, als ihre Wortfetzen von den konturlosen Wänden der Betonblockhäuser abprallte. Schallenwellenfluten brandeten an seine Fensterfront, deren Aluminiumjalousie bereits wieder hochgefahren war. Es war frustrierend.

    Ja, furchtbar. Ich hoffe Stefan geht es gut. Wobei er tatsächlich kurz überlegen musste, wen sie damit meinte. Erst nachdem er geantwortet hatte, fiel es ihm wieder ein. Unklare Bilder vermischten sich vor seinem inneren Auge, mit dem Gefühl, in die falsche Richtung zu denken, verschmelzende Gesichtsstrukturen, sich auflösende Wangenknochen, herabfließendes Haar, welches mit grobem Platschen auf dem Boden aufschlug und Rauchwolken über Paris von zahlreichen Explosionen, bis er die Augen aufriss und feststellte, kurz eingeschlafen zu sein. Kurzer, verschwommener Blick auf die Uhr, in der Hoffnung, nicht zu viel verpasst, sie nicht zu lange auf eine Reaktion warten gelassen zu haben. Schweiß stand auf seiner Stirn, stank aus seinen Achseln. Angstbilder formten seinen Monitor.

    Es war viel zu warm für November.

    Das hoffe ich auch – hattest du in letzter Zeit etwas von ihm gehört? Vielleicht ist er gerade gar nicht in Paris. Es fällt schwer das Gespräch von einer Person wegzulenken, die sich eventuell in der Mitte eines großangelegten Terroranschlags befindet. Vor allem, wenn sein Gehirn so müde und benebelt war, wie das seine.

    Nein, schon länger nichts mehr. Aber es ist mitten im Semester, ich befürchte schon, dass er in der

    Stadt ist... Die Stimmen wurden lauter, auch wenn er weiterhin keine Schritte hören konnte, wobei er trotzdem überlegte, den elektrischen Rollladen zu schließen, um nicht gesehen zu werden. Wer wusste schon, was das für Männer waren. In letzter Zeit hatte er öfter von Schlägereien und Überfällen in der Nachbarschaft gehört. Vor ein paar Wochen war eine junge Frau im Park vergewaltigt worden. Ob der oder die Täter gefasst wurden, wusste er nicht, konnte sich aber nicht erinnern, irgendetwas dazu gehört zu haben. Nur ein paar Straßen von seiner Wohnung entfernt war ein Mann an seiner Haustür niedergeschossen und ein weiterer in der nahen U-Bahnstation zum Krüppel getreten worden. Seit einiger Zeit sah er sich regelmäßiger die Polizeiberichte an und fragte sich, ob es davor auch schon so schlimm gewesen war, oder die Gegend einfach gefährlicher wurde. Nichts davon hätte ihn überrascht. Eigentlich überraschte es ihn mehr, dass ein solcher Anschlag nicht bereits in Berlin stattgefunden hatte. Es schien so einfach. Und wie es aussah war es das auch.

    Gerne hätte er ein Bild von ihr gesehen.

    Vermisste er sie?

    Wo bist du eigentlich? Bist du noch in Berlin? Das sie selbst den Gesprächsfaden aufrecht erhielt, sogar sich direkt nach ihm erkundigte, überraschte ihn noch mehr, als ihre schnelle Reaktion auf seine Antwort. Es hätte ihn nicht erstaunt, wenn sie ihn einfach ignoriert hätte.

    Ja, bin ich, ein wenig an den Rand gezogen. Wie sieht's bei dir aus? Aber darauf folgte Schweigen. Der grüne Punkt war verschwunden und niemand las seine Nachricht. Mittlerweile ging man von über einhundert Toten aus, war aber noch lange nicht fertig, die Leichen zu zählen. Auch waren wohl nicht alle Attentäter erschossen, oder festgenommen. Manche waren auf der Flucht, zudem schien man sich unsicher zu sein, ob nicht in anderen Gegenden der Stadt noch geschossen wurde. Berichte über Twitter und Hashtags die Menschen anderen Menschen Unterschlupf boten, gratis Taxi-Fahrten und mehr breiteten sich aus. Doch der Großteil des Abendprogramms schien vorbei zu sein. Das Datennetz in Paris war wie erwartet zusammengebrochen.

    Ob Felina auch in der Stadt war? Sie hatte Französisch studiert, vielleicht machte sie gerade ein Erasmus-Semester? Oder sie war mit ihrem Bachelor schon längst fertig und arbeitete dort oder machte Urlaub. Vielleicht war das der richtige Moment, um wieder Kontakt zu ihr zu suchen, obwohl eine warnende Stimme aus seinem Unterbewusstsein scharfe Einwände dagegen durch seinen Verstand brüllte. Die Plötzlichkeit, mit der die Erinnerung nun auch an sie zurückkam, überraschte ihn selbst, berauschte ihn regelrecht. Er musste an die Fotos auf seinem Laptop denken, seit Jahren verborgen, sein privater Schatz, wie ein Geschenk aus der Vergangenheit. Er öffnete die dritte Flasche Bier, aktualisierte weiter, doch das meiste schien vorbei zu sein. Über hundertdreißig Tote, keine weitere Nachricht von Sarah. Wahrscheinlich hatte sie in der Nacht Besseres zu tun als er. Erschöpfte Gedanken versuchten seine Erinnerungen zu durchforsten, ob sie bei ihrer letzten Begegnung einen Freund gehabt hatte. Aber selbst wenn er sich erinnern könnte, würde immer noch die Möglichkeit bestehen, dass sie sich mittlerweile getrennt hatten. Es war so viel Zeit vergangen.

    Warum war er eigentlich so überzeugt, dass es islamistische Terroristen waren? War das irgendwo behauptet worden? Hatte ein Polizist oder ein Zeuge etwas an die Journalisten weitergegeben, über Allahu Akbar-Rufe oder die dunkle Hautfarbe der Täter? Oder gab es schon ein Bekennerschreiben? Oder war es einfach der globale Kontext, der aktuelle Zeitgeist, welcher diese Möglichkeit am wahrscheinlichsten und bekanntesten erscheinen ließ, ihn beinahe zwingend zur realistischsten Option machte? Und wer sollte es auch sonst sein? Er war so müde.

    Das nächste Bier war kalt, schmeckte besser, als die voran gegangenen. Vielleicht würde er sie bald treffen. Vage Erinnerungen, in sie verliebt gewesen zu sein kamen zurück in die Gegenwart, wie die weiterhin zu warme Luft durch das leicht geöffnete Fenster. Kaum zu glauben, dass es November war. Ob es in Paris genauso warm war? Er rief sich die Bilder der fliehenden Menschen ins Gedächtnis, in T-Shirts und längeren Sommerkleidern. In Paris wehte selten Wind. Die Stimmen vor seinem Fenster waren verstummt und am nächsten Morgen würde er nicht mehr wissen, wann er eingeschlafen war, wie er sich in sein Bett gelegt, oder wie er sein viertes Bier zur Hälfte über den Boden verschüttet hatte. Nur eine Nachricht von Sarah würde auf ihn warten.

    6Kein schöner Traum

    In seinem Traum saß er auf einem roten Kunstlederstuhl, festgezurrt mit Gurten, unfähig sich zu bewegen. Vor ihm stand ein Mann mit einem Messer, welches er zuerst langsam ansetzte, aber bei jedem Schnitt mit größerem Elan, größerem Enthusiasmus die Haut und das Fleisch von seinem Gesicht abschabte. Er begann an der Stirn an, mit kreisförmigen Schnitten sich langsam nach innen vorarbeitend, zu Nase und Mund, wo zunehmende Feinarbeit gefragt war.

    Auch wenn er sich schreien hörte, spürte er keine Schmerzen. Obwohl er wusste, dass es ein Traum war, das Entsetzen darüber echt, während ein tropfender Fleischfetzen nach dem anderen mit klatschenden Geräuschen in einen metallenen Eimer fiel. Er konnte fühlen, wie die Klinge sich zwischen Haut, Fleisch und Knochen schob, sie langsam aber stetig voneinander löste. Als der Mann endlich fertig war, nach Stunden harter körperlicher Arbeit, die ihm den Schweiß auf die Stirn getrieben hatte, ließ er ihn in einen Spiegel blicken. Das übrig gebliebene Fleisch an den Rändern seines Gesichts, mit einem letzten Rest an Haut überspannt, blieb wie ein kümmerlicher Rahmen für den nackten Knochen übrig, aus dem nur noch seine panisch herumirrenden Augen den Kontakt zu ihm suchten, den unweigerlichen Wahnsinn bereits tief in die Pupillen gegraben. Schemenhaft konnte er seine Zunge erblicken, die sich zwischen seinen Zähnen wand, durch Stellen durchblickend, die früher von seinen Wangen verdeckt wurden.

    Sein Schrei war lautlos. Ein lautes Knacken fuhr durch seinen Kiefer, als wäre er gebrochen, doch außer einer leichten Taubheit war alles in Ordnung. Er musste sein Gesicht nicht,abtasten, um zu wissen, dass es unversehrt war und dennoch tat er es. Die Sonne schien durch die großen, weit aufgerissenen Fenster. Neben ihm war das Bett noch warm von einem fremden Körper, an den er sich nicht mehr erinnern konnte. Undefinierbare Schmerzen zogen träge durch seine nackte Gestalt, als er sich aus dem Bett herausbewegte, auf der Suche nach einer Uhr. Erinnerungen, Bilder von Schüssen und Explosionen kamen zurück, mischten sich mit dem Fleisch seines Gesichts, das man in Fetzen von ihm löste. Tote in Paris, die Nase voller Kokain. Er hatte versucht Julien zu erreichen, aber niemand hatte abgenommen, oder vielleicht war das Netz auch tot, oder er hatte nur vorgehabt ihn anzurufen, es aber doch unterlassen. Es fiel ihm häufig schwer sich zu erinnern, was er in den vorangegangenen Nächten getan oder

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