Kopflos
Von Dietrich Novak
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Buchvorschau
Kopflos - Dietrich Novak
Vorwort
Obwohl dieser Roman während der Corona-Krise entstanden ist, habe ich mich dazu entschlossen, dieses Thema nicht in die Handlung einfließen zu lassen. Da ich der Meinung bin, dass die Medien schon in ausreichender Form darüber berichten. Wir leiden alle unter den Folgen, doch ein Roman soll in erster Linie unterhalten und vom Alltag ablenken. Handelt es sich, wie in diesem Fall, um einen Krimi, fließt schon zwangsläufig genug grausame Realität ein, denn die Fantasie eines Autors wird mitunter von den realen Ereignissen übertroffen. Ich bin mir bewusst, dass einige Leser mit meiner Entscheidung nicht einverstanden sein werden, aber wie heißt es so schön? Wer die Wahl hat, hat die Qual. Und eines möchte ich keinesfalls – langweilen. Ich hoffe dennoch, dass die Krise bald überstanden sein wird und in ein paar Jahren nur noch eine schlechte Erinnerung daran zurückbleibt. In diesem Sinne: Bleiben Sie bitte gesund!
Dietrich Novak
im November 2020
Prolog
Es war ein grauer, sehr früher Novembermorgen. Vom Kanal stieg leichter Nebel auf. Die junge Frau fröstelte. Doch Bronco, dem Mischlingsrüden machte das nichts aus. Er wollte auf jeden Fall seine Runde drehen wie noch viermal am Tag. Auch die kleine Tochter hatte darauf bestanden mitzugehen, bevor sie zur Schule musste, weil sie schon längst wach war.
Auf dieser Höhe des Goslarer Ufers war um diese Uhrzeit noch kaum Betrieb. Es gab noch keinen Verkehr durch die Bewohner des Neubaus in der Sackgasse am Ende der Straße. In den Kfz-Werkstätten wurde noch nicht gearbeitet, und im Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten so früh ohnehin nicht.
Die linke Seite der Straße von der Kaiserin-Augusta-Allee gesehen, direkt neben dem Charlottenburger Verbindungskanal, war alle paar Meter gesperrt, da dort Rohre im Erdreich erneuert wurden. Deshalb blieben Mutter und Kind mit Bronco auf der rechten Seite. In Höhe der Quedlinburger Straße gab es so etwas wie eine Aussichtsplattform, auf der zwei ungepflegte Bänke sich gegenüberstanden. Sie wirkten altersschwach, und ihre ehemals weiße Farbe blätterte zu großen Teilen ab. Deshalb saß dort für gewöhnlich niemand, und schon gar nicht so früh am Tage. Doch heute war es anders. Bronco bellte heftig und wollte unbedingt hinüber.
>>Sieh mal, Mama. Da sitzt eine große Puppe. Aber sie hat gar keinen Kopf<<, sagte die Kleine.
>>Hm, für eine Schaufensterpuppe hat sie ziemlich schäbige Kleidung an. Und den Kopf hat sie auf ihrem Schoß liegen. Aber so alte Gesichter habe ich noch nie in einem Schaufenster gesehen. Warte mal, ich gehe mal rüber.<< Die Frau nahm den angeleinten Hund und ging mit ihm auf die andere Straßenseite.
Bronco gebärdete sich wiederum wie wild, und als die Frau näher kam, sah sie auch, warum. Es war keine lebensgroße Puppe, die dort saß, sondern ein Mensch, wie man an den blutigen Rändern am Hals sah. Der Kopf auf dem Schoß gehörte einem Mann, dessen Gesicht wie blutleer erschien. Zum Glück waren seine Augen geschlossen. Trotzdem schrie die Frau vor Schreck auf, als sie erkannte, was sie dort sah.
>>Was ist denn, Mama?<< rief die Kleine herüber. >>Du machst mir Angst.<<
>>Bleib drüben. Ich komme!<<
Kurz darauf übergab sie den Hund an ihre Tochter. >>Halte Bronco mal. Mama muss telefonieren.<< Sie nahm ihr Handy aus der Manteltasche und rief die Polizei an. >>Hallo? Kommen Sie bitte zum Goslarer Ufer in Höhe der Quedlinburger Straße. Auf einer Bank sitzt ein toter Mann, der offensichtlich geköpft wurde.<<
1. Kapitel
Einige Wochen zuvor.
Der Mann stellte seinen Wagen in der Reinickendorfer Residenzstaße ab, stieg aus und ging zögernd um die Ecke in den Ritterlandweg. Seit Jahrzehnten war er nicht hier gewesen, und er ahnte schon, dass er nicht viel wiedererkennen würde. So gab es in der Residenzstraße kurz vor der Ecke das Lokal „Zum Lindengarten in einem über hundertjährigen Haus, zu dem auch ein Vorgarten gehörte, nicht mehr. Man hatte es ebenso wie die Linden einfach abgetragen und durch einen nüchternen Bau ersetzt. Zwischen den alten Häusern im Ritterlandweg, die er noch kannte, standen jetzt Neubauten wie Fremdkörper. Vor einem auf der anderen Straßenseite blieb er stehen. Vor seinem geistigen Auge sah er wieder das alte Holztor, durch das man auf einen kleinen Bauernhof gelangte. Selbst in den siebziger Jahren eine Seltenheit, die wie ein Relikt vergangener Zeit wirkte. Eine Welle von Erinnerungen stürmte auf ihn ein. Und sie waren alles andere als positiv. Da war sein überaus strenger Vater, der nie ein gutes Wort für ihn hatte und unbedingt einen richtigen Mann aus ihm machen wollte, seine Mutter, die unter der Fuchtel des brutalen Mannes stand und stets versuchte, den kleinen Jungen zu schützen, und es gab Tiere. Hasen, freilaufende Hühner, zwei Schweine, einen Hund, eine Katze und eine braun gescheckte Kuh, die unermüdlich ihr klagendes „Muh
ausstieß. Er roch noch den Stallgeruch, den Duft des frisch gemähten Grases, aber auch das Blut, das ihn so geängstigt hatte. Er war ohne Geschwister aufgewachsen, was alles noch verschlimmert hatte. Denn so war er ganz allein der Willkür seines Vaters ausgesetzt gewesen.
Er konnte sich noch ganz genau erinnern, wie er 1979 als Vierjähriger inmitten der Hühner auf dem Hof herumgestolpert war. Als er an seinem kleinen Po etwas spürte, hatte er mit dem Finger in die kurze Hose aus Wolle gefasst und sich gewundert, woher die weiche, graue Masse kam. Im nächsten Moment hatte ihm sein Vater eine schallende Ohrfeige versetzt.
>>Hast du wieder in die Hose geschissen, du kleines Dreckschwein?<<, fragte er böse. >>Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du zu Mama oder allein auf den Topf gehen sollst, wenn du musst? Das nächste Mal stecke ich dir einen Korken hinten rein. Dann kann das nicht mehr passieren.<<
Als er zu weinen anfing, hatte die Mutter ihn getröstet. >>Der Papa macht nur Spaß. Schließlich bist du ja keine Weinflasche.<<
>>Ich werde euch gleich zeigen, wie ich Spaß mache, wenn ich den Teppichklopfer hole.<<
Doch diese Züchtigungsversuche sollten harmlos sein, gegenüber dem, was in späteren Jahren kam. Als man ihm das Töten von Tieren aufzwang, bis er sich daran gewöhnte.
Der Mann löste sich aus seinen Erinnerungen und trat den Heimweg an. Hier hatte er nichts mehr verloren. Sein Vater war zum Glück längst tot und seine Mutter eine alte Frau, die von alledem nichts mehr wissen wollte. Manchmal schien sie für einen Moment die Erkenntnis zu quälen, dass aus ihrem Kind ein emotionsloser, gefühlskalter Mann geworden war. Doch wie alle Mütter neigte sie dazu, die grausame Wahrheit zu verdrängen. Wie nicht anders zu erwarten, suchten ihn in der darauffolgenden Nacht schwere Träume heim, die im Gegensatz zu seinem Alltag standen. Ein Zeichen dafür, dass in ihm noch ein Rest Menschlichkeit wohnte.
Hauptkommissarin Valerie Voss hatte auch schwer geträumt. Von einer Zeit, als ihr Mann und Kollege, Hinnerk, noch lebte. Wie glücklich sie war, als sie zum zweiten Mal heirateten. Dann war die Katastrophe eingetreten: Hinnerk war im Dienst von einem skrupellosen Verbrecher erschossen worden. Valerie hatte kurzzeitig überlegt, aus dem Dienst beim LKA auszuscheiden. Doch Abteilungsleiter Dr. Paul Zeisig hatte keine Ruhe gegeben, sie zur Rückkehr zu bewegen. Den Ausschlag, dem letztendlich zuzustimmen, war wiederum Hinni gewesen, der ihr in einer Vision erschienen war und sie an ihre gemeinsamen Ziele erinnerte: die Verbrechensbekämpfung und etwas mehr Gerechtigkeit in der Welt.
Hinnerk kam schon lange nicht mehr in der Nacht zu ihr. Denn mittlerweile waren mehr als ein Jahr vergangen. Doch das hielt sie nicht davon ab, weiterhin intensiv von ihm zu träumen. Nur manchmal tauchte ein neues Gesicht in ihren
*siehe Band 15 „Das letzte Wort hat immer der Tod".
Träumen auf: Konstantin Bremer, der smarte Kollege, der Hinnerks Platz im Team eingenommen hatte. Er war einige Jahre jünger als Valerie, zeigte aber von Anfang an Interesse an ihr. In der Trauerzeit hatte sie davon nichts wissen wollen, war sogar ärgerlich und böse geworden. Doch seine Hartnäckigkeit zeigte inzwischen Erfolge. Valerie begann, darüber nachzudenken, wie es wäre, wenn sie seinem Werben nachgeben würde.
Seit Kurzem gab es noch einen weiteren Mann in Valeries Leben. Der Kollege Kommissar Heiko Wieland war nämlich in die obere Etage ihres Hauses am Rande des Tiergartens gezogen, nachdem sein Lebenspartner Fabian die gemeinsame Wohnung am Kaiserdamm verkauft hatte und mit einem neuen Partner nach Mallorca umgesiedelt war. Die Wohngemeinschaft war eine Lösung, die Valerie und Heiko entgegenkam, denn so fühlten sich beide nicht so einsam, hatten aber jeder sein eigenes Reich.
An diesem Morgen klopfte Heiko zaghaft an Valeries Schlafzimmertür. Als er keine Antwort bekam, öffnete er die Tür und rief leise: >>Val, du musst aufstehen. Es ist schon spät.<<
>>Wie? … Ach lass mich doch in Ruhe. Ich fühle mich ganz beschissen.<<
>>Hast du deine Montagsdepression, oder was? Komm, trink erst einmal einen Schluck Kaffee, dann kehren die Lebensgeister wieder zurück.<<
>>Ich glaube nicht. Ich muss krank sein.<<
Heiko setzte sich auf ihre Bettkante und sah