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Damals im anderen Leben
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eBook289 Seiten3 Stunden

Damals im anderen Leben

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Über dieses E-Book

Kann die Liebe den Tod überdauern? Diese These wird hier ganz selbstverständlich vorausgesetzt, ebenso dass wir nicht nur einmal leben. Welche Konflikte können entstehen, wenn man versucht, an das vorige leben anzuknüpfen, auch bei der Partnerwahl? Eine mögliche Konsequenz schildert dieser Roman, der in unterhaltsamer Weise mit so ungewöhnlichen Phänomenen wie Seelenwanderung oder Wiedergeburt umgeht. Dennoch ist es kein esoterischer Roman. Das Hauptthema ist die Liebe, die so wunderbar und auch so schwierig sein kann. Nebenbei wird viel Berliner Lokalkolorit vermittelt, auch zu Zeiten des geteilten Berlin. Berliner moderne Frauen, die ein wenig anders sind als andere und doch ganz ähnliche Probleme haben. Eine spannende Suche im Berlin von damals und heute.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum4. Jan. 2017
ISBN9783738098389
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    Buchvorschau

    Damals im anderen Leben - Dietrich Novak

    Vorwort

    Dieser Roman verwendet Motive aus meinem 2013 erschienenen Roman „Such mich in Berlin", in dem die Geschichte von Marie und Vera aus Maries Sicht geschildert wird. Dennoch ist es keine Fortsetzung, aber auch keine Wiederholung, denn diesmal werden die Ereignisse aus Veras Sicht geschildert.

    Die Geschichte von Melanie, der ehemaligen Klassenkameradin der beiden, kam darin nicht vor. Deshalb habe ich mich entschlossen, diese im vorliegenden Roman zu veröffentlichen, weil ich sie für interessant und lesenswert erachte.

    Damit es für Leser, die „Such mich in Berlin bereits kennen, nicht langweilig wird, sind neue Begebenheiten hinzugekommen und andere weggefallen, aber zum besseren Verständnis ist auch die „alte Geschichte erhalten geblieben. Sie ist lediglich etwas ausgeschmückt worden, und die veränderte Sichtweise hält einige Überraschungen parat.

    Deshalb wünsche ich viel Lesevergnügen für die LeserInnen, die zuvor noch nichts von Marie und Vera gehört haben, und denen, die beide schon kennen, ein freudiges Wiedersehen beziehungsweise Wiederlesen. Ich wünsche mir, dass sie Melanie ebenso ins Herz schließen wie Marie und Vera.

    Dietrich Novak im Januar 2017.

    Prolog

    Die junge Frau stand an der Brüstung des Dachgartens und schaute nach unten auf den fließenden Verkehr der breiten alleeförmigen Straße. Sie konnte keine Einzelheiten erkennen, denn ihr Blick war tränenumflort. Sie kam einfach nicht darüber hinweg, dass ihre große Liebe ohne sie gegangen war. Ja, sie hatte gezögert, ihm zu folgen. Dabei wäre sie mit ihm bis ans Ende der Welt gegangen, doch Republikflucht war ein Tabuthema, wie alle wussten. Sie wurde streng bestraft und endete nicht selten tödlich.

    Wohl wissend, bei ihren Eltern kein Verständnis zu finden, hatte sie alles mit sich selbst abgemacht. Unzählige Diskussionen mit ihrem Liebsten hatten sie viel Kraft gekostet. Sie hatte ihn angefleht, seinen Entschluss noch einmal zu überdenken, aber er war nicht davon abzubringen gewesen.

    »Stell dir vor, wir werden erwischt oder verraten … Man wird nicht zögern auf uns zu schießen …«

    »Das ist mir egal. Für mich gibt es in dieser Scheißrepublik keine Zukunft«, hatte er geantwortet. »Was ist das für ein Staat, der seine Bürger einsperrt und gewaltsam daran hindert, zu reisen und die Welt kennenzulernen? Der nicht davor Halt macht, ihnen nach dem Leben zu trachten, wenn sie nicht mitspielen. Ich will frei sein und tun, was mir gefällt.«

    »Drüben soll auch nicht alles so rosig sein. Das hört man immer wieder. Lass dich doch von den Fernsehberichten nicht blenden. Im Westen wird auch nur mit Wasser gekocht. Ich habe keine Lust, in einem Lager zu leben. Vielleicht bekommen wir nie eine Wohnung und Arbeit. Was dann? Willst du von der Fürsorge leben?«

    »Alles, nur nicht länger hierbleiben, wo einer den anderen bespitzelt. Man weiß ja schon nicht mehr, wem man überhaupt noch trauen kann. Dein Vater hätte keine Hemmungen, mich anzuzeigen, wenn er von meinen Plänen wüsste. Reicht es dir nicht, dass er dir den Umgang mit mir verboten hat?«

    »Mein Vater war schon immer ein Sturkopf. Der beruhigt sich auch wieder, wenn er merkt, dass es mit uns etwas wirklich Ernstes ist. Du liebst mich doch, oder? Wir wollten heiraten und eine Familie gründen.«

    »Ja, aber nicht hier. Ich will nicht, dass unser Kind schon mit der Muttermilch die Gesinnung eingetrichtert bekommt. Also kommst du jetzt mit, oder nicht? Wir sind beide jung und stark. Gemeinsam werden wir es schon schaffen.«

    »Ich kann nicht. Sieh das doch ein! Mutter ist krank und … wenn mir unterwegs etwas passieren würde, wäre das bestimmt ihr Tod. Lass uns hierbleiben. Wir können uns doch arrangieren …«

    »Nein, ich habe es satt, endgültig. Wenn du nicht mitgehst, gehe ich eben alleine …«

    Nie hätte sie gedacht, er würde seine Drohung wahrmachen. Ihr zuliebe hätte er bleiben müssen. Doch jetzt war es geschehen. Er hatte seinen Plan in die Tat umgesetzt – ohne sie. Wieder kamen ihr die Tränen. Ihr Leben erschien ihr plötzlich so sinnlos. Alles hatte seinen Glanz verloren. Ein Leben ohne ihn war einfach unvorstellbar.

    Gramgebeugt wie eine alte Frau lief sie die Treppen zur Wohnung ihrer Eltern hinunter. Auf dem letzten Absatz sah sie zwei Männer in dunklen Ledermänteln vor der Tür stehen. Staatssicherheit, war ihr sofort klar. Sie kamen, um sie zu verhaften. Keiner würde ihr glauben, von den Plänen nichts gewusst zu haben.

    »Ich weiß nicht, wo meine Tochter ist. So glauben Sie mir doch«, hörte sie ihre Mutter sagen.

    In dem Moment wurde ihr klar, dass es nur einen Weg gab. Und der führte nicht nach unten.

    Vor Aufregung ließ sie ihr Schlüsselbund fallen, was man sofort unten wahrnahm, weil es auf dem Steinboden wie Donner hallte.

    »Halt, stehen bleiben!«, hallte es durch das Treppenhaus.

    Sie rannte wie von Sinnen die Treppen nach oben. Immer nur um eine Haaresbreite von ihren Häschern entfernt. Dann stieß sie die Tür zum Dachgarten auf und rannte mit letzter Kraft zur Brüstung.

    »Jetzt seien Sie doch vernünftig, Genossin. Wir tun Ihnen doch nichts. Wir haben nur ein paar Fragen.«

    Sie hörte gar nicht hin. Ehe die Männer reagieren konnten, kletterte sie auf die Brüstung, sprang und fiel augenblicklich wie ein Stein in die Tiefe.

    Kapitel 1

    Vera Berger war tief in Gedanken versunken, als sie mit dem Zug nach Berlin zurückfuhr. Sie schaute zwar aus dem Fenster, aber nur, um die letzten Stunden innerlich Revue passieren zu lassen. Von der vorbeigleitenden Landschaft bekam sie nichts mit. Sie hatte ihre beste Freundin Marie, die sich gerne Cindy nannte und das auch engen Freunden oder Verwandten erlaubte, in der Klinik besucht. Nein, Marie war nicht ernsthaft erkrankt, sondern hatte sich freiwillig unters Messer begeben, um eine Nasenkorrektur vornehmen zu lassen. Sehr zum Unverständnis von Vera, der Maries „alte" Nase ausgesprochen gut gefallen hatte. Bei der Operation musste etwas schief gelaufen sein, denn Marie klagte über Schmerzen in der Brust. Sie habe das Gefühl, ein Sumoringer säße auf ihrer Brust, hatte sie gemeint. Für Vera ein eindeutiges Zeichen, dass man Marie wiederbelebt hatte.

    Veras Einwand, dass man in diesem Fall wohl ihre Eltern benachrichtigt hätte, ließ Marie nicht gelten. Womöglich hatte man dafür keine Zeit gehabt. Außerdem wären Ärzte, die freiwillig einen Kunstfehler zugaben, äußerst selten, meinte sie.

    Vera durchzogen noch immer heiße Wellen, wenn sie daran dachte, dass sie um ein Haar ihre liebste Freundin verloren hätte, eine, die ihr so nahestand wie kein anderer Mensch, wegen so einem Quatsch. Ein kleiner Höcker auf der Nase hatte Maries Schönheit keinen Abbruch getan. Aber Vera hatte der Oberschwester tüchtig die Meinung gesagt, denn zum Arzt hatte man sie gar nicht erst vordringen lassen.

    »Dr. Moser operiert. Worum geht es denn?«

    »Das fragen Sie mich allen Ernstes? Ich möchte wissen, wie es dazu kommen konnte, dass Frau Falk den Eingriff beinahe nicht überlebt hätte.«

    »Wie kommen Sie auf diese abstruse Idee? Ich möchte Sie doch darum bitten, hier keine haltlosen Unterstellungen anzubringen. Und wer sind Sie eigentlich? Eine Verwandte von Frau Falk?«

    »Nein, wir sind nur eng befreundet, aber Cindys Beschwerden weisen eindeutig darauf hin, dass sie reanimiert wurde.«

    »Sprechen wir von derselben Person? Frau Falks Vorname ist Marie und nicht Cindy.«

    »Ja, mein Gott, ich nenne sie nur so, weil ihr das gefällt.«

    Die ältere Frau mit leichtem Übergewicht sah Vera durch ihre randlose Brille an, als wäre sie ein Wundertier. »Tut mir leid, wenn Sie mit Frau Falk nicht verwandt sind, darf ich keinerlei Auskünfte geben. Sie können gerne auf Dr. Moser warten. Nur das kann dauern. Außerdem wird er Ihnen nichts anderes sagen.«

    »Vielleicht wird der Doktor etwas gesprächiger, wenn wir einen Anwalt einschalten.«

    »Das bleibt Frau Falk unbenommen. Sie hingegen hätten wohl keinerlei Handhabe dazu.«

    »Ach, Sie mich auch!« Vera hatte sich wutentbrannt auf dem Absatz umgedreht und war zurück zu Marie ins Zimmer gegangen.

    Dort hatte sie die nächste Ungeheuerlichkeit erfahren. Ihre Freundin hatte doch tatsächlich nach dem Aufwachen behauptet, Cindy Cromwell zu heißen, als man sie nach ihrem Namen fragte. Nun, Cindy war nicht weiter verwunderlich, aber wo kam plötzlich der Name Cromwell her? Es sei gewesen, als hätte Marie die Geburt von Cindy miterlebt, als sei sie selber Cindy gewesen. Und die Frau, die offensichtlich ihre Mutter war, habe keinerlei Ähnlichkeit mit ihrer jetzigen Mutter Cornell gehabt. Und die Hebamme habe sie außerdem mit Frau Cromwell angesprochen. Und später habe Marie sich in der Gestalt von der ungefähr achtjährigen Cindy erlebt, hatte ihre Freundin berichtet.

    »Soso, du beginnst, mir also nachzueifern; zumindest was die Träume angeht!", hatte Vera erstaunt ausgerufen. Woraufhin Marie protestiert hatte:

    »Dass ich geträumt habe, sagst du. Mir hingegen erschien es wie ein reales Erlebnis.«

    Nun, das versuchte Vera Marie seit Jahren zu erklären. Marie hatte scheinbar noch immer nicht begriffen, dass Vera nicht träumte, sondern sich erinnerte. Nur war ihr Marie inzwischen einen Schritt voraus, denn nun hatte Cindy einen vollständigen Namen, während Vera den Namen der Person, in der sie sich in ihren Erinnerungen sah, nicht kannte.

    Melanie erwachte schweißgebadet. Sie hätte nicht sagen können, ob es heller Tag war oder noch mitten in der Nacht. Die zugezogenen, dichten Vorhänge verhinderten jegliche Spekulation über die Tageszeit. Als ihr Blick auf die Digitalanzeige ihres Radioweckers fiel, war sie überrascht, dass es schon 7.30 Uhr war. Sie hatte das Gefühl, eben erst eingeschlafen zu sein. Nach dem Zubettgehen hatte sie stundenlang wachgelegen und versucht, die geeignete Einschlafposition zu finden. Ihr Bett war total zerwühlt. Das Laken hatte sich zu einer dicken Rolle verschlungen und die Kopfkissen hatten nur noch den halben Umfang wie ursprünglich.

    Schwere Träume und unruhiger Schlaf stellten bei Melanie keine Seltenheit dar, nicht umsonst versuchte Trutz, sie ständig dazu zu bewegen, bei ihm zu übernachten. Schließlich war sein Lotterbett, wie er es freiwillig nannte, fast doppelt so groß.

    In dieser Nacht hatte Melanie darauf bestanden, in ihrem Bett - allein - zu schlafen. Sie wusste, dass ihr einer der schwersten Tage in ihrem Leben bevorstand. Die Tröstungsversuche von Trutz hatte sie dankbar registriert, aber seine aufgesetzte Fröhlichkeit und seine platten Sprüche, wie „das Leben geht weiter und „du hilfst niemandem, wenn du jetzt depressiv wirst, fielen ihr sichtlich auf die Nerven. Instinktiv fühlte sie ihr Recht auf Trauer und wollte diese auch ausleben.

    An diesem regnerischen Novembertag musste sie dem liebsten Menschen das letzte Geleit geben. Die Beerdigung ihrer Großmutter Irmgard war für zehn Uhr angesetzt. Wie sie den Tag überstehen sollte, lag außerhalb von Melanies Vorstellungskraft.

    Noch vor wenigen Tagen war die Welt in Ordnung gewesen. Die beiden Frauen hatten sich nach einem gemütlichen Abend voneinander verabschiedet und Melanie war mit dem Bewusstsein heimgegangen, wie wertvoll ihr die Abende mit ihrer Großmutter waren. Erst recht nachdem sie sich vor zwei Jahren für eine eigene Wohnung entschieden hatte. Irmgard war nicht im Geringsten böse gewesen, sondern hatte sich in ihrer verständnisvollen Art mit Melanie auf deren erstes Heim und ihre beginnende Abnabelung gefreut.

    Dass Irmgard nach über zwanzig Jahren Bemuttern leichte Ermüdungserscheinungen bemerkte, hatte keiner ausgesprochenen Erwähnung bedurft. Mit Anfang sechzig waren ihr manche Dinge nicht mehr so leicht gefallen und Wollen hatte manchmal im Widerspruch zu Können gestanden. Die tiefe Harmonie zwischen den beiden Frauen hatte zum richtigen Zeitpunkt für die richtige Entscheidung gesorgt. Kleinkarierte Diskussionen darüber waren überflüssig gewesen. Umso mehr hatte Irmgard von da an die Besuche ihrer Enkelin genossen, bei denen sie so richtig aus dem Vollen schöpfen konnte. Es hatte stets eines von Melanies Lieblingsgerichten und einen guten Wein gegeben.

    Am folgenden Tag des letzten gemeinsamen Abends war Melanie merkwürdig unruhig und unkonzentriert gewesen, sehr zur Verwunderung ihres Chefs, der ihre Konzentration schätzte. Am Abend hatte sie einem Impuls folgend versucht, Irmgard telefonisch zu erreichen. Das Freizeichen hatte sie in fälschliche Sicherheit gewiegt, dass ihre Großmutter ihr Theaterabonnement wahrgenommen hatte. Als sie am nächsten Vormittag noch immer keinen Anschluss bekommen hatte, war sie nur mit Mühe davon abzubringen gewesen, sich einige Stunden freizunehmen, um nach ihrer Großmutter zu schauen.

    Eine Stunde später hatte dann die Kriminalpolizei Melanie im Büro aufgesucht. Der Grund war Irmgards Tod unter ungeklärten Umständen gewesen. Da Fremdverschulden nicht auszuschließen sei, würde eine Untersuchung folgen, hatten die Beamten sie wissen lassen.

    Irmgard war vom Balkon ihrer im dritten Stock gelegenen Wohnung gestürzt und sofort ihren Verletzungen erlegen. Eine vor die Brüstung gestellte Fußbank hatte die Ursache des Sturzes ins Spekulative versetzt. Unfall, Selbstmord oder Mord? war die Frage.

    Das Telefon schreckte Melanie aus ihren Gedanken. Sie nahm den Hörer ab und sagte mit trockener, leiser Stimme: »Hallo.«

    »Liebling, bist du schon wach?«, fragte Trutz in bewusst unbeschwertem Tonfall.

    »Nein, hier ist der Anrufbeantworter«, antwortete Melanie mit müder Stimme.

    »Mel, ich wollte dich fragen, ob wir nicht zusammen frühstücken können?« Er überhörte ihre Anspielung auf seine dumme Frage.

    »Trutz, du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich in der Lage bin, jetzt etwas zu essen?«, sagte Melanie schärfer als sie es beabsichtigt hatte.

    »Schon gut, Schatz, ich dachte nur, du solltest nicht nüchtern aus dem Haus gehen«, lenkte er ein. »Wann soll ich mit dem Wagen kommen? Wir müssen doch noch den Kranz abholen.«

    Kaum waren die Wörter heraus, hätte er sich die Zunge abbeißen können. Melanies tiefe Verzweiflung brachte langsam seine gewohnte Selbstsicherheit ins Wanken.

    Danke, dass du mich daran erinnerst, dachte Melanie, sagte aber nur: »Ich gehe jetzt unter die Dusche und koche mir noch brav eine Tasse Tee. Du kannst mich in einer Stunde abholen. Bis dann!«

    Sie legte ohne eine Antwort abzuwarten auf. Im selben Moment tat es ihr leid. Trutz war nicht für ihren Schmerz verantwortlich und gab sich alle Mühe ihr beizustehen. Sie nahm sich vor, in der nächsten Zeit Gesellschaft zu meiden, um nicht unabsichtlich andere zu verletzen.

    Auf dem Weg in die Küche entschied sie sich für Kaffee statt Tee. Beim Bedienen der Kaffeemaschine glaubte sie für einen Moment, ihre Beine würden ihr den Dienst versagen. Sie zwang sich, ins Bad zu gehen und zu duschen. Als sie ihr übergroßes T-Shirt auszog, bemerkte sie, dass der feuchte Stoff die Ursache für ihr Frösteln war. Der warme Strahl der Dusche tat ihr gut. Sie wusch ihr verschwitztes, halblanges Haar und befreite ihren Körper von ihrem fiebrigen Schweiß.

    Beim Abtrocknen verhinderte der Wasserdampf einen Blick in den beschlagenen Spiegel. Umso entsetzter war sie, als sie beim Haarfönen ihr Gesicht entdeckte. Ihre dunkle Mähne umrahmte ein leichenblasses Gesicht mit stellenweise hektischen Rötungen. Ihre dunkelbraunen Augen lagen tief in den Höhlen und wirkten glanzlos. Dunkle Augenringe gaben ihr ein krankes und übernächtigtes Aussehen.

    Melanie band ihre Haare zusammen und formte einen Nackenknoten. Obwohl sie die gleichen Pflegepräparate wie immer benutzt hatte, wirkten die Haare glanzlos wie ihre Augen. In einer Frauenzeitschrift hatte sie gelesen, dass man an den Augen und Haaren den seelischen Zustand eines Menschen erkennen könne. Den Beweis bot ihr der Spiegel.

    Sie legte eine leicht getönte Tagescreme auf und wählte einen Lippenstift mit unauffälligem, bräunlichem Farbton. Die Augenringe milderte sie mit Abdeckstift und beendete das Make Up mit einem transparenten Puder. Es kam ihr weniger darauf an, gut auszusehen, als nicht von jedem darauf angesprochen zu werden, wie elend sie aussähe. Als sie Unterwäsche und schwarze Strumpfhosen anzog, kam es ihr so vor, als ob ihre stets leicht gebräunte Haut jegliche Farbe verloren hätte. Das elegante Kostüm in ihrer Lieblingsfarbe Schwarz erfüllte seine angemessene Pflicht und unterstrich ihre zerbrechlich, leicht gespenstisch, wirkende Gestalt.

    In diesem Augenblick war sie heilfroh, dass sie nicht in einem Land lebte, in dem Weiß als Trauerfarbe getragen wurde. Sie hasste diese Farbe aus vollem Herzen. Wo immer sich in der Wohnung eine andere Farbe ermöglichen ließ, hatte sie darauf zurückgegriffen. Sie besaß keine einzige weiße Tischdecke und keine weiße Bettwäsche und Laken. Sie war sich völlig sicher, dass sie darunter Erstickungsanfälle bekommen hätte.

    Melanie erwischte sich dabei, sich für diese unpassenden Gedanken zu rügen. Sie sollte sich lieber überlegen, wie sie die unvermeidlichen Kondolenzbezeugungen über sich ergehen lassen könnte. Sie verabscheute dick aufgetragene Gefühle, noch dazu, wenn man sich über deren Echtheit nicht sicher sein konnte. Sie hatte so gut wie keine Einladungen verschickt. An wen auch? Sie war wie ihre Großmutter und Mutter ein Einzelkind. Großvater hatte sie nie kennengelernt und ihre Eltern waren gestorben, als sie zwei Jahre alt gewesen war. Die Verwandtschaft ihres Vaters lebte im süddeutschen Raum und hatte nie von sich hören lassen. Außer den Eltern von Trutz, einigen Nachbarn und fremden Friedhofsgängern war also niemand zu erwarten. Gut so. Selbst Trutz würde nie nachempfinden können, welchen Verlust sie erlitten hatte. Wie sollte sie nur weiterleben können?

    Das Schrillen der Türklingel riss sie aus ihren Gedanken. Sie trank hastig den letzten Schluck Kaffee, schlüpfte in ihre Stiefeletten und zog ihren weichen, weiten Wollmantel an. Der schwarze, warme Stoff umhüllte sie wie ein schützendes Zelt, und sie fühlte sich augenblicklich etwas geborgener. Sie nahm ihre Umhängetasche über die Schulter und war froh, sich an etwas festhalten zu können. Nachdem sie die Wohnungstür abgeschlossen hatte, fuhr sie mit dem Lift hinunter und sah durch die Glasscheibe der Haustür die kräftige Gestalt von Trutz. Auf einmal war sie froh, nicht alleine gehen zu müssen.

    Trutz nahm Melanie wortlos in den Arm und küsste sie zärtlich auf die Wange. Er versuchte so behutsam wie möglich zu sein, was ihm enorm schwer fiel, da er mit seiner etwas poltrigen Art stets ungestümer wirkte als beabsichtigt. Als Melanie neben ihm im Wagen Platz genommen hatte, stellte er erleichtert fest, dass sie wesentlich besser aussah als er befürchtet hatte. Ihm entging zwar nicht das dezente Make Up, er konnte aber nicht beurteilen, wie viel es abdeckte.

    Nach wenigen Minuten erreichten sie den Blumenladen, in dem er nach Melanies Anweisungen den Grabschmuck bestellt hatte. Er parkte in zweiter Spur und schaltete die Warnblinkanlage ein. Melanie schaute gedankenverloren auf einen imaginären Punkt in der Ferne und nahm keine Notiz von dem Geschäft.

    Als Trutz zurückkam, saß sie unverändert auf ihrem Platz, mit dem gleichen abwesenden Ausdruck. Er verstaute seinen mittelgroßen Kranz, der mit lachsfarbenen Rosen geschmückt war, und Melanies Gesteck aus Lilien und roten Rosen im Kofferraum. Er hatte sich an ihren Wunsch gehalten und auf jegliche Schleifen verzichtet.

    Melanie war der Meinung, dass die schwülstigen Texte auf derlei Schleifen völlig überflüssig waren. Ihre Großmutter konnte sie nicht mehr lesen, und den Spruch für die Augen fremder Leute zu dekorieren, fand Melanie geradezu absurd. Es ging niemand etwas an, wie sehr sie diese wunderbare Frau verehrt hatte. Das Gleiche galt auch für Grabsteine. Für Melanie hatten diese ihre Berechtigung allenfalls, wenn sie als kleines, privates Denkmal dienten. Dazu reichten der Name und die Geburts- und Sterbedaten. Bedeutungsschwangere Worte wie: „Unvergessen oder Aussagen wie: „Hier ruht in Frieden …, fand Melanie geradezu peinlich. Dass ein geliebter Mensch unvergessen bleibt, war eine Selbstverständlichkeit, und ein einziger Satz in Goldbuchstaben konnte niemals der Komplexität eines Menschen gerecht werden.

    Des Weiteren trug sie eine unbestimmte Ahnung in sich, dass die friedliche Ruhe mehr einem Wunschdenken entsprach, nur vorübergehend sein würde und sich überhaupt nur auf den Körper beziehen konnte. Der Hülle für ihre Dienste zu danken, sollte Aufgabe der Verstorbenen sein, und dem spirituellen Wesen, das sich dieser Hülle bedient hatte, konnte man sicher überall woanders als ausgerechnet auf dem Friedhof begegnen.

    Vera war froh, dass ihre Mutter Doris noch nicht von der Arbeit zurück war, als sie von ihrem Krankenbesuch bei Marie nach Hause kam. So konnte sie noch eine Weile ihren Gedanken nachhängen. Das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter war nicht das beste. Man respektierte sich gegenseitig, doch man pflegte keinen liebevollen Umgang miteinander. Das war nicht immer so gewesen. Vera erinnerte sich an unbeschwerte Kindertage, die von Lachen und heiterer Gelassenheit geprägt waren. Das änderte sich schlagartig, als ihr Vater sich einer anderen Frau zuwandte und die kleine Familie verließ. Fortan neigte Doris zu Depressionen und

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